Nach allem, was wir wissen, trug Goethe keine Unterhosen.

Bevor ich näher auf das Buch von Bruno Preisendörfer eingehe, möchte ich gern ein anderes Werk vorstellen. Es trägt den Titel »So dull unde dörde weren de bure«. Ins moderne Deutsch übersetzt heißt das: »So töricht und von Sinnen werden die Bauern«. Es wurde von Joachim Schmid erarbeitet und beschreibt auf über 1.100 Seiten die Geschichte jener dörflichen Ortsgemeinschaft, in der ich groß geworden bin: vom Mesolithikum, als die Dörfer noch gar nicht existierten, sondern lediglich steinzeitliche Jäger das Gebiet durchkreuzten, bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard während einer Wahlkampfreise einmal zufällig in einem der beschriebenen Dörfer haltmachte, um sich in der hiesigen Gastwirtschaft eine neue Zigarre anzuzünden.

Für mich ist dieses Buch eine Art Bibel. Denn es bietet unzählige Schilderungen, zu denen ich schnell einen persönlichen Bezug herstellen kann. Die beschriebenen Orte sind mir aus meiner Kindheit aufs Intimste vertraut. Persönlich bekannt sind mir auch die Bauersfamilien, deren im Buch dokumentierte Geschichten bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückreichen. Anders als beispielsweise beim Besuch eines Museums oder Baudenkmals erschließt sich mir die Geschichte hier in ihrem ganzen Mikrokosmos.

Und eben genau dieses Kunststück gelingt Bruno Preisendörfer in seinem Buch »Als Deutschland noch nicht Deutschland war«. Auf Grundlage von historischen Briefen und Reisebeschreibungen sowie zeitgenössischen Handbüchern und Lexika leuchtet er den Alltag zu Zeiten Goethes aus. Durch alle Schichten und bis ins kleinste Detail.

Wie reisten die Menschen damals von A nach B, wieviel Zeit benötigten sie dafür und vor allem mit welchen – heute unvorstellbaren – Schwierigkeiten hatten sie dabei zu kämpfen? Wie gestaltete sich für Goethe und seine Zeitgenossen das Leben in der Stadt und auf dem Lande? Was gab es damals für wen zu essen und zu trinken? Welche Kleidung wurde getragen?

Auf diese und viele weitere Fragen gibt Preisendörfer ausführlich Antwort. Und man ahnt es schon beim Lesen der Inhaltsangabe: Am spektakulärsten gestalten sich die Kapitel über Sexualität und Medizin, wenn es beispielsweise um »Unzucht« oder »Selbstbefleckung« geht, um die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, um Quacksalber, vermeintlich medizinische Fortschritte oder den Umgang mit behinderten Menschen. Hier entpuppt sich die meist romantisch verklärte Zeit der Weimarer Klassik als tiefstes Mittelalter.

»Als Deutschland noch nicht Deutschland war« entzaubert mit seinem riesigen Fundus an Fakten und Alltagswissen – sowie einer gut dosierten Prise Humor – auf außergewöhnliche Weise die Bilder, die uns gewöhnlich standardisierte Nachschlagewerke oder historische Schlossführungen liefern. Zwar rutscht Preisendörfer mit seinen vielen Zitaten und Berichten nicht selten in den trockenen Ton des Historikers. Wer aber einmal anders, tief und authentisch in die Zeit der großen deutschen Dichter und Denker eintauchen will, wird das Buch mit großer Begeisterung lesen.

Um den eingangs erwähnten persönlichen Bezug des Lesers zu den historischen Umständen und Vorgängen herzustellen, nutzt Bruno Preisendörfer das Bild eines Zeitreisenden, der auf seinem Trip in die Vergangenheit nichts mitnehmen dürfte, was nicht in die bereiste Epoche passt. »Völlig entblösst stünde man da«, schreibt Preisendörfer. Wenn man das ganze Buch gelesen hat, kann man sich schwer vorstellen, dass man als Mensch des 21. Jahrhunderts auch nur einen Tag überleben würde in jener Zeit, als Deutschland noch nicht Deutschland war.

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war
Galiani Berlin 2015 | 528 Seiten

Holger Reichard