Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen

»Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert« ist der Untertitel von Caroline Criado-Perez‘ Buch »Unsichtbare Frauen«. Die britische Autorin, Journalistin und nicht zuletzt Feministin zeigt geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten auf. Was vielleicht erstmal ein bisschen trocken klingt, ist hochinteressant und mindestens genauso erschreckend. Dabei orientiert sie sich grundlegend an Simone de Beauvoirs »Das andere Geschlecht«. »Wenn wir ›Mensch‹ sagen, meinen wir meistens den Mann.« Das hat konsequenterweise Auswirkungen auf das Denken und Verhalten unserer Gesellschaft. Caroline Criado-Perez findet Beispiele aus Politik, Technologie, Medizin, der Arbeitswelt und unzähligen anderen Bereichen, in denen bei der Datenerhebung Frauen ausgeschlossen werden.

Eine der wichtigsten Feststellungen über die Gender Data Gap ist, dass sie keine bösen Absichten verfolgt oder auch nur bewusst erzeugt wurde. Im Gegenteil. Sie ist schlicht und einfach Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht und deshalb eine Art Nicht-Denken ist. Sogar ein doppeltes Nicht-Denken: Männer sind die unausgesprochene Selbstverständlichkeit, und über Frauen wird gar nicht geredet. Denn wenn wir »Mensch« sagen, meinen wir meistens den Mann.

Jede Frau, die dieses Buch liest, wird sich auf den Seiten wiederfinden. Ständig. Die Autorin findet nicht nur Antworten auf die zunächst so banal wirkenden Fragen der nicht enden wollenden Schlange vor dem Damenklo oder weshalb Frauen öfter kalt ist, sondern erklärt auch, weshalb eine Frau bei einem Autounfall mit 47 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als ein Mann schwer verletzt wird. Mit 71 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit mittelschwer verletzt. Und mit 17 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit stirbt. Diese Zahlen basieren nur auf der Tatsache, wie und für wen Autos konstruiert sind.

Caroline Criado-Perez schreibt über die alltäglichsten Dinge wie eben Autofahren, Care Arbeit oder Hobbys – und gerade weil sie so alltäglich sind, stellt sich immer wieder die Frage, wieso nicht längst etwas gegen die dort vorherrschenden Ungerechtigkeiten getan wurde.

Ich persönlich habe eine Antwort darauf gefunden, warum ich auf dem Klavier bestimmte Akkorde nicht greifen kann: Die klassische Klaviatur ist an die Durchschnittsgröße einer Männerhand angepasst. Das ist für mich als Hobbypianistin lästig, aber nicht dramatisch, doch für Berufspianist*innen sieht das schon ganz anders aus, denn die Standardklaviatur benachteiligt 87 Prozent der erwachsenen Pianistinnen. Das ist ein Problem, das vermutlich nicht jede Frau beschäftigt, aber nicht nur Klaviaturen sind zu groß für viele Frauenhände, sondern auch die meisten Handys, und jetzt ist es wieder für alle interessant.

Caroline Criado-Perez stellt zurecht die Frage, was es bedeutet, wenn zukünftig Daten und Statistiken eine immer größere Rolle spielen. Allzu oft sehen wir in Daten die reine Wahrheit und behandeln sie als eine Art neutrales Wissen. Doch wenn Daten von Anfang an falsch und unzureichend erhoben werden, wird das in Zukunft dazu führen, dass sich die Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen vertiefen. In manchen Fällen wird das nur nervig sein, in anderen tödlich.

»Unsichtbare Frauen« ist ein Buch der Antworten. Es deckt so unfassbar viele Bereiche ab, dass ich sie hier nicht alle aufzählen kann. Dennoch hat sich die Autorin nicht zu viel vorgenommen. Das Buch zieht einen Querschnitt durch die Gesellschaft und zeigt: Geschlechterungerechtigkeit gibt es überall. Wir müssen nur hinsehen. Ich ziehe meinen Hut vor der unglaublichen Recherchearbeit, die sich hinter dem Buch verbirgt und hoffe, dass es so viel Menschen wie möglich lesen. Dieses Thema betrifft uns alle und wir können auch nur gemeinsam nach Lösungen suchen. Ob arm, reich, Schweden oder Somalia, Care Worker oder CEO. Und eine Lösung, die auch Caroline Criado-Perez vorschlägt, ist vermutlich die simpelste und auch effektivste: Man(n) muss einfach nur die Frauen fragen und sie und ihre Bedürfnisse sichtbar machen.

Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen | Deutsch von Stephanie Singh
btb Verlag 2020 | 496 Seiten

Mariel Reichard

Annie Ernaux: Der Platz/Die Jahre

Woher wir kommen, das meinen wir in der Regel ziemlich genau zu wissen. Wohin wir gehen, wissen wir nicht. Wir wissen bestenfalls, wohin wir gehen wollen. Es bliebe dann aber noch die Frage, ob man auch die Chance hat, dorthin zu gelangen, wohin man will. Das wiederum hängt zu einem großen Teil davon ab, woher wir kommen. Gedanken, die ich vor einigen Jahren in einem Buch über das männliche Klimakterium niederschrieb und die mich bis heute beschäftigen.

Wohl deshalb lande ich bei der Auswahl meiner Lektüre immer wieder beim Thema Herkunft. Mein Interesse daran hat weniger mit Nostalgie zu tun, sondern vielmehr damit, dass sich bei näherer Betrachtung der eigenen Geschichte immer auch Antworten finden, die relevant sind für Gegenwart und Zukunft. Wunderbare Möglichkeiten für eine solche Entdeckungsreise bieten die Bücher »Der Platz« und »Die Jahre« von Annie Ernaux.

In »Der Platz«, das im Original bereits 1983 erschien, arbeitet die französische Schriftstellerin auf knapp 100 Seiten die Biographie ihres Vaters auf, der wenige Monate vor Beginn des 20. Jahrhunderts in der Normandie das Licht der Welt erblickte und dort als Sohn eines Fuhrmanns in äußerst bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Steter Begleiter seines gesellschaftlichen Aufstiegs zum Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens ist die Angst, wieder in diese einfachen Verhältnisse abzurutschen.

Die Tochter (Annie Ernaux) soll es natürlich besser haben. Was ihr auch gelingt. Sie studiert, wird Lehrerin, liest viel, kommt weit herum, heiratet einen Intellektuellen, steigt ins Bildungsbürgertum auf und entfernt sich damit immer weiter von der provinziellen Welt ihrer Eltern – mit ihren spießigen Nöten und begrenzten Sichtweisen (was hier aber keineswegs despektierlich gemeint ist).

Und so beschreibt Annie Ernaux nicht nur die wesentlichen Ereignisse im Dasein ihres Vaters, sondern schließlich auch die immer größer werdende Kluft zwischen ihrem Leben und dem Leben ihrer Eltern. Beides gelingt ihr stilistisch meisterhaft, mit einer erstaunlichen Beobachtungsgabe und auf eine Weise, die tief berührt.

Als »eine lebensverändernde Lektüre« preist der Suhrkamp Verlag das Buch an (ein Zitat von Didier Eribon). In der Tat lädt »Der Platz« immer wieder ein zur Selbstreflektion und macht vieles verständlich, sowohl in den Konflikten zwischen den Generationen als auch in den Gegensätzen ländlichen und urbanen Lebens.

In ihrem Bestsellerroman »Die Jahre«, der 2008 auf französisch erschien, durchleuchtet Annie Ernaux u.a. anhand alter Fotografien ihr eigenes Leben: ihre Kindheit in der Nachkriegszeit, ihre Zeit an der Universität, ihre schriftstellerischen Ambitionen (inklusive der üblichen Selbstzweifel), Eheleben, Mutterschaft, Scheidung, Emanzipation, das Altern. Sie erzählt ihre Geschichte nicht in Ich-Form, sondern schreibt von »ihr« und über »sie« und schafft so beim Erzählen eine angenehme Distanz zu dem Erlebten.

Verknüpft sind ihre privaten Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen mit wichtigen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen, aus französischer Sicht, für die deutschsprachige Leserschaft deswegen aber nicht minder spannend: Algerienkrise, de Gaulle, Studentenunruhen, Globalisierung, 9/11. Ihre Erinnerungen bieten viele Momente des Wiedererkennens, und über diese Erinnerungen, das macht »Die Jahre« besonders lesenswert, stellt Annie Ernaux tiefgreifend die Frage nach der Bedeutung und Vergänglichkeit des eigenes Lebens und Wirkens.

All das wird innerhalb einer Sekunde vergehen. Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich. Die Sprache wird die Welt weiter in Worte fassen. Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet.

»Der Platz« und »Die Jahre« zählen für mich zu den schönsten Leseerfahrungen des Jahres 2019. Mit »Eine Frau« liegt bereits ein drittes Buch von Annie Ernaux auf deutsch vor und auch schon auf meinem Lesestapel.

Annie Ernaux: Der Platz | Deutsch von Sonja Finck
Suhrkamp 2019 | 94 Seiten

Annie Ernaux: Die Jahre | Deutsch von Sonja Finck
Suhrkamp 2017 | 255 Seiten

Holger Reichard

Michael Roes: Zeithain

Vielen mag das tragische Ende des Hans Hermann von Katte bekannt sein. Katte war Leibgardist des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. und eng mit dessen Sohn, dem Kronprinzen Friedrich, befreundet. Dieser hatte unter der Tyrannei seines Vaters so sehr zu leiden, dass er – auf die Thronnachfolge verzichtend – ins Ausland entfliehen wollte. Katte unterstütze ihn dabei und bezahlte dafür mit seinem Leben. Friedrich Wilhelm I. ließ Katte im November 1730 hinrichten. Der junge Friedrich musste dabei zuschauen.

Wenn von diesem Drama erzählt wird, liegt der Fokus zumeist auf dem Kronprinzen, der später als Friedrich der Große ja auch noch reichlich Geschichte schreiben sollte. Das Leben des Hans Hermann von Katte kommt in den Schilderungen vielfach zu kurz. Schon Theodor Fontane wies in seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« auf diesen Umstand hin, als er schrieb: »Er (Katte) ist der Held, und er bezahlt die Schuld.« Auch Michael Roes weiß ihn als Held zu würdigen. In seinem Roman »Zeithain«, erschienen im August 2017 bei Schöffling & Co., widmet er sich ganz der Biografie Kattes. Es ist ein großartiges Denkmal geworden.

Roes erzählt von Kattes Kindheit im brandenburgischen Wust, von der strengen Erziehung im Pädagogium Regium zu Glaucha, einer aus heutiger Sicht recht fragwürdigen Erziehungs- und Bildungsanstalt für Kinder aus dem Adel und dem reichen Bürgertum; von Kattes Aufenthalten als Student in Königsberg sowie als junger Offizier des preußischen Kürassierregiments in Berlin, von seinen Kavaliersreisen nach Paris und London, von seiner Teilnahme an einer gigantischen Heerschau im sächsischen Zeithain und von seinem traurigen Lebensende in Küstrin.

Zwei Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen sind in Roes‘ Roman hervorzuheben. Zum einen das Verhältnis der Väter zu ihren Söhnen. Dabei erscheinen einem die Erziehungsmethoden von Kattes Vater nicht weniger grausam als Friedrichs Leiden unter der strengen Knute des Soldatenkönigs.

Ein einprägsames Beispiel ist, wie die Köchin auf dem Gutshaus in Wust heimlich einen geqälten Hund in die Freiheit entlässt und der kleine Katte die Köchin vor der Strafe des Hausherrn zu schützen versucht, was jedoch misslingt. Der Junge wird von seinem Vater daraufhin beinahe zu Tode geprügelt. Das Mitgefühl der Köchin und des Kindes auf der einen Seite sowie die Herzlosigkeit und Brutalität des Vaters auf der anderen rühren zu Tränen und ist eben doch nur ein Beispiel. Kein Ausnahmefall in jener Zeit, sondern Normalität.

Zumindest hier in Wust sind Prügel nichts Außergewöhnliches. Im Dorfe werden alle Knaben und sogar manche Mädchen von ihren Vätern geschlagen. Es gilt ihnen als Christenpflicht. Und selbst die Kinder nehmen es als fromme Notwendigkeit hin.

Zum anderen beleuchtet das Buch die Gefühle zwischen heranwachsenden jungen Männern, schon im Pädagogium Regium, wo sie – im frühen Stadium der Pubertät – auch nur unter sich sind und nächtens im bitterkalten Schlafsaal unter permanenter Aufsicht kontrolliert wird, dass bei allen die Hände über der Bettdecke bleiben.

Später fokussiert sich der Blick natürlich auf die Beziehung zwischen Hans Hermann von Katte und dem jungen Friedrich. Überflüssig zu erwähnen, dass sowohl diese spezielle Beziehung als auch das Thema im Ganzen, eingeschnürrt in das enge Moralkorsett des frühen 18. Jahrhunderts, eine ganz besondere Brisanz besitzt. Michael Roes beschreibt das Verhältnis der beiden Hauptfiguren, ihre Gefühle füreinander, auf äußerst einfühlsame Weise und angenehm unspektakulär.

Ruhig atmend liegt er neben mir, das bartlose Gesicht noch jünger, unschuldiger als ohnehin schon. Aber es täuscht. Es ist eine gefährliche Unschuld, die uns noch einmal in Teufels Küche bringen wird. – Ich streiche ihm das wirre Haar aus dem Gesicht. Sein Vater, der König, hat recht, wenig Männliches lässt sich darin finden.

Unterbrochen wird die Lebensgeschichte Kattes von Sprüngen in die Gegenwart, von Philip Stanhope, einem entfernten Verwandten, der sich rund 300 Jahre später an den historischen Schauplätzen auf Spurensuche begibt. Diesen Erzählstrang hätte der Roman nicht wirklich benötigt, zumal Roes hier über die Gedankenwelt Stanhopes mehrfach ins Surreale abgleitet, wobei sich einem der Sinn des Erzählten nicht immer erschließt.

Andererseits sind diese Unterbrechungen willkommende Gelegenheiten, um kurz durchzuatmen. Denn die eigentliche Geschichte, die des Hans Hermann von Katte, ist von Michael Roes so meisterhaft erzählt, dass man den rund 800 Seiten starken Roman nicht aus der Hand legen möchte. Spannend, berührend und sprachlich ein Fest.

Michael Roes: Zeithain
Schöffling & Co. 2017 | 804 Seiten

Holger Reichard

Alessandro Biamonti: ArchiFlop

Alessandro Biamonti: ArchiFlopDass die Errichtung der Hamburger Elbphilharmonie wesentlich länger dauerte als geplant und die Baukosten sich am Ende monströs auftürmen, ist schon tragisch. Aber es hätte ja noch schlimmer kommen können. Man stelle sich vor, das imposante Bauwerk hätte sich nicht nur während der Bauzeit, sondern auch nach seiner Eröffnung als Fehlplanung erwiesen, würde zum Beispiel die hohen Erwartungen nicht erfüllen, könnte nicht vollumfänglich genutzt werden oder die Besucher blieben fern.

Zum Glück wird die Elbphilharmonie in diesen Tagen gefeiert. Sie wäre sonst wohl ein Fall für Alessandro Biamonti. In seinem Fotoband »ArchiFlop« präsentiert der Mailänder Architekt die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur. Gescheiterte Visionen heißt es im Untertitel. Riesige Geisterstädte, eine verlassene und heruntergekommene Shopping Mall, verwahrloste Vernügungsparks, Stahl- und Betonskelette auf hoher See. Biamonti hat die Objekte seines Buches aussagekräftig in folgende Rubriken unterteilt:

  1. Die Überlegung lautete: Es werden viele Tausende kommen.
  2. Die Überlegung lautete: Es wird riesige Gewinne bringen.
  3. Die Überlegung lautete: Sie werden es nicht bemerken.
  4. Die Überlegung lautete: Sie werden sich bestens amüsieren.

Die gewählten Überschriften suggerieren bereits, was falsch lief: Mal fehlte das Interesse der Kundschaft, mal das Geld. Mal machten Naturkatastrophen alle Erwartungen zunichte, mal politische Wendungen oder Irrwege. Meist fehlte es an Weitsicht, oftmals auch an Einfühlungsvermögen.

Überraschend ist, wie viele architektonische Fehlschläge sich in Asien befinden. Oder auch nicht, wenn man bedenkt, wie schnell und in welchem Umfang dort ganze Städte verrückt und hunderttausende Menschen umgesiedelt werden, weil mal eben ein neuer Staudamm gebaut werden muss oder neu entdeckte Bodenschätze zu heben sind.

Allerdings hat auch Europa eine Vielzahl spektakulärer Ruinen zu bieten. Eindrucksvolle Beispiele in Biamontis Buch sind die Metro-Linie Châtelet im belgischen Charleroi, die u.a. wegen der Krise der Stahlwirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren nie in Betrieb genommen wurde; oder der Spreepark in Ostberlin, erster und einziger Vergnügungspark der DDR, der wenigstens ein paar Jahrzehnte in Betrieb war, dessen Aufgabe im Jahre 2001 jedoch vermutlich schon mit dem Fall der Mauer vorhersehbar war.

Faszinierend an »ArchiFlop« sind nicht nur die Fotos, die Biamonto zusammengetragen hat, sondern auch die kurz und knapp von ihm dargelegten Hintergründe des Scheiterns. Gulliver’s Kingdom zum Beispiel, ein Themenpark mit einer 45 Meter langen liegenden Statue des Lemuel Gulliver im japanischen Kamikuishiki, floppte unter anderem deshalb, weil der gewählte Standort mit seinen jahrhundertealten Bäumen eine besondere Anziehungskraft auf Suizidgefährdete ausübt – und weil sowohl der Sitz der berüchtigten Aum-Sekte als auch eine Nervengasfabrik in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden sind. Nun ja, hätte man vielleicht vorher wissen können.

Immerhin erlangten einige der architektonischen Fehlschläge aus Biamontis Buch Berühmtheit als Filmkulisse. Die im Kaspischen Meer errichtete Öl-Stadt Neft Dashlari mit ihrem verwirrenden Brückengeflecht kennen James-Bond-Fans aus »Die Welt ist nicht genug«, die künstliche Insel Hashima war in »Skyfall« geheimnisvoller Sitz des 007-Gegenspielers.

Die Frage, die sich der Autor am Anfang und Ende seines Buches stellt – und irgendwann dazwischen auch seine Leserschaft: Kann man den architektonischen Fehlleistungen etwas Positives abgewinnen, außer dass sie hinterher als Ruine eine interessante Filmkulisse abgeben?

Biamontis Antwort lautet: Ja. Die größten Chancen, so schreibt er, tun sich häufig vor dem Hintergrund von Problemen, Fehlschlägen oder Zusammenbrüchen auf. Zum besseren Verständnis zitiert er Basketball-Superstar Michael Jordan, der einmal gesagt hat: »Gerade weil ich 9000 Würfe verfehlt habe, bin ich Michael Jordan geworden.« Soll heißen: Ohne Flops kein Erfolg.

Alessandro Biamonti: ArchiFlop
Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur
| Deutsch von Ulrike Stopfel
DVA 2017 | 192 Seiten

Holger Reichard

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmenDie Geschichte beginnt mit dem Selbstmordversuch eines jungen Mannes. Wilbur will sich das Leben nehmen. Auf Coney Island stürzt er sich – betrunken und unter dem Schock eines Verkehrsunfalls stehend – ins Meer. Aber er überlebt und erwacht in einer Spezialklinik, wo er sich weigert zu sprechen. Was war geschehen? Und wird der junge Mann sein Leben wieder in den Griff bekommen? Davon erzählt der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert in seinem 2008 veröffentlichten, episch angelegten Bildungsroman »Nach Hause schwimmen«.

Rückblende: Für den kleinen Wilbur hätte das Leben nicht tragischer beginnen können. Als er das Licht der Welt erblickt, stirbt seine Mutter. Sein Vater ist spurlos verschwunden. Mehrere Krankenschwestern und ein im Waisenhaus angestelltes Ehepaar nehmen sich seiner zunächst liebevoll an, bis Großvater Eamon McDermott aus Irland anreist, um sich fortan um den Jungen zu kümmern. Doch nicht er wird die neue Bezugsperson in Wilburs Leben, sondern Eamons Frau Orla.

Eamon McDermott ist ein verschlossener Mensch mit einer mysteriösen Vergangenheit. Als junger Mann entdeckte er am Strand einen sterbenden Schiffbrüchigen mit einer geheimnisvollen Kiste. Den Schiffbrüchigen meldete er, nicht aber den Fund der Kiste, auf deren Inhalt sich Eamons Leben aufbaut, ein Leben voller Lug und Trug.

Doch Wilbur hat ja Orla und könnte sich unter ihrer Obhut einer sorglosen Kindheit auf dem irischen Lande erfreuen, wäre da nicht der Besuch der Schule. Hier wird der kleinwüchsige Wilbur fortlaufend gedemütigt und drangsaliert. Am meisten hat er unter Sportlehrer Fintan Taggart zu leiden – und unter dem Mitschüler Conor Lynch, der mit einem herzlosen Vater selbst in schwierigen Familienverhältnissen aufwächst. Der große Knall ist vorprogrammiert und hat schlimme Folgen. Dabei spielt der Inhalt von Eamons »Schatzkiste« eine nicht unbedeutende Rolle.

Das alles ereignet sich auf den ersten 156 Seiten des insgesamt knapp 550 Seiten umfassenden Romans. Welche Schicksalsschläge die Beteiligten und vor allem Wilbur zu verkraften haben, soll an dieser Stelle nicht im Detail verraten werden. Nur so viel: Über Umwege begibt sich Wilbur später auf die Suche nach seinem Vater. Sein Weg führt ihn nach Schweden und schließlich zurück in die USA, wo seine Lebensgeschichte einst auf so tragische Weise ihren Anfang nahm. Immer wieder betreten alte und neue Figuren die Bühne, und Lappert stattet sie alle mit einer äußerst lebendigen Biographie aus.

Im zweiten, nicht ganz so ereignisreichen Handlungsstrang des Romans führt Lappert die Gegenwart fort: Wilburs Aufenthalt in der Spezialklinik, wo er schon bald auf die charmante Aimee trifft. Sie wird sein Leben verändern, aber auch hier braucht es viele Umwege. Die Spannung bleibt. Lappert transportiert sie kunstvoll von Kapitel zu Kapitel. Die schwierigen Situationen, mit denen er seine Protagonisten stets aufs Neue konfrontiert, beschreibt er einfühlsam und mit einem feinen, unaufdringlichen Humor.

So fesselt und fasziniert der Roman, der 2008 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, von der ersten bis zur letzten Seite. Rolf Lappert ist damit ein Meisterwerk gelungen, das in seiner erzählerischen Wucht vielleicht vergleichbar ist mit John Irvings »Garp und wie er die Welt sah«, eine großartige Geschichte über Freundschaft und Moral, über Schicksale und ihre Kausalitäten, über die Liebe und das Leben.

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen
Hanser 2008 | 544 Seiten

Holger Reichard

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen»Aus so wenigen Beispielen kann man ersehen, was für Wunder an den Insekten zu bemerken sein müssen, und wie dienlich uns die Untersuchung ihrer natürlichen Beschaffenheit zur Verherrlichung des göttlichen Rahmens sein könnte, der große Dinge tut, die man nicht ergründen kann, und Wunder, die man nicht erzählen kann.«

Werden die Bienen wirklich aussterben? Wie fühlt sich das an, wenn alle Nutzpflanzen von Hand bestäubt werden müssen? Wie sieht die Welt um ein solches Horrorszenario aus? Die norwegische Autorin Maja Lunde führt dem Leser in ihrem Roman »Die Geschichte der Bienen« genau diese Situation vor Augen. Packend, lebendig, einfühlsam und doch gnadenlos.

Im Jahr 2098 bestäubt die Arbeiterin Tao in China die Bäume von Hand, weil die Bienen längst ausgestorben sind. Gemeinsam mit ihrem Mann unternimmt sie alles, um ihrem Sohn Wei-Wen ein weniger entbehrungsreiches Leben zu ermöglichen. An einem der seltenen freien Tage erleidet Wei-Wen während eines Familienausfluges einen mysteriösen Unfall, der nicht nur sein Leben gefährdet, sondern das Fortbestehen der gesamten Menschheit beeinflussen wird. Weil die Behörden den kleinen Jungen isolieren, riskiert Tao ihre Ehe und begibt sich auf eine lange Suche. An deren Ende atmet man gemeinsam mit der Heldin dieser Zeit ein Fünkchen Hoffnung.

Ungefähr 240 Jahre vorher lernt man den in England lebenden Biologen und Samenhändler William kennen. Seit Wochen liegt er krank im Bett, sein Mentor Rahm hat ihn längst aufgegeben, sein Geschäft ist geschlossen. Auch die Forschungen des eigenbrötlerisch wirkenden Typen scheinen lange schon erfolglos. Seine Idee von einem vollkommen anders konstruierten Bienenstock lässt Williams Leidenschaft noch einmal aufleben. Spannend schildert Maja Lunde, wie William erfahren muss, dass er nicht der erste ist, der an einer neuartigen Bauweise von Bienenbehausungen arbeitet. Der Leser leidet mit ihm und bangt um die Baupläne, die im Verlauf der Handlung noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Im Jahr 2007 hängen diese eingerahmt im Hause des Imkers George, der für seinen Traum hart arbeitet. Er möchte seinen Hof vergrößern und wünscht sich, dass er von seinem Sohn Tom übernommen wird. Tom möchte jedoch Journalist werden, erhält ein Stipendium und schreibt sich an einer Universität ein. Bis die Bienen eines Tages verschwinden.

Maja Lunde beschreibt Rückschläge und Hoffnungen der drei Protagonisten abwechselnd aus der Sicht der jeweiligen Hauptperson. Fließend, bewegend und nachdrücklich erzählt sie von der ineinander greifenden Kooperation der Generationen und dem nicht fassbaren Zusammenhang zwischen der Menschheitsgeschichte und den Bienen. Der Leser reist fasziniert durch die Zeiten, durchlebt Krisen und Konflikte mit William, George, Tom und Tao und hangelt sich an deren Hoffnungen durch die Jahrhunderte. Für den rundum lesenswerten Roman hat die Übersetzerin Ursel Allenstein einen adäquaten Tonfall gefunden.

Trotz der eher spartanischen Ausgabe haben die Buchgestalter mit der glänzenden liegenden Biene auf dem Schutzumschlag einen Coup gelandet, ist man doch immer geneigt, ihr zaghaft über den Rücken zu streichen. Hardcover, Vorsatzpapier und Lesebändchen sind förmlich in sonnengelben Honig getaucht.

Was bleibt, sind die unausweichlichen Fragen, die dem schmackhaften Imker-Honigbrötchen zum Frühstück einen neuen Stellenwert verleihen. Wie gehen wir mit unserer Umwelt und deren Lebewesen um? In welchem Zustand hinterlassen wir die Erde unserer nachfolgenden Generation? So wenig und doch so viel wiegen die kleinen summenden Lebewesen, denen wir in unserem von der Industrie bestimmten Alltag (zu) wenig Bedeutung beimessen.

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen | Deutsch von Ursel Allenstein
btb 2017 | 512 Seiten

Renate Bojanowski