Joe Simpson: Touching the Void

Joe Simpson: Touching the VoidEr hing an einem Seil über dem Abgrund – und sein Freund schnitt es durch. »Touching the Void« von Joe Simpson ist eines der spannendsten und am hitzigsten diskutierten Bergsteigerdramen der Welt. Zwei Engländer, der Autor Joe Simpson und sein Freund Simon Yates, wollen durch eine Erstbesteigung in den Anden in die Geschichte eingehen. Dafür haben sie sich die Westseite des 6344 Meter hohen Gipfels Siula Grande in Peru ausgesucht. Sie sind jung und gehen ihr Unterfangen, wie sie später selbst zugeben, recht unbedarft an – mit ungenügender Vorbereitung und Ausrüstung: »Wir wussten nicht wirklich, was wir taten«, sagte Yates Jahre später in einem Interview.

Zwar erreichen sie den Gipfel, doch beim Abstieg stürzt Simpson und bricht sich das Knie – ohne jede erreichbare Bergrettung in der Nähe eigentlich ein sicheres Todesurteil. Zunächst gelingt es den beiden, sich abwechselnd abzuseilen. Doch dann hängt Simpson am Ende des Seils über einem Eisvorsprung in der Luft und hat keine Möglichkeit, seinem Kletterpartner zu signalisieren, in welcher Lage er sich befindet. Yates hält das Seil fest, bis sein eigenes Leben in Gefahr gerät und er droht, den Halt zu verlieren. Dann schneidet er es durch.

Simpson stürzt mit seinem bereits gebrochenen Bein so weit in die Tiefe, dass es an ein Wunder grenzt, dass er nicht durch den Fall zu Tode kommt. Stattdessen landet er auf einem Vorsprung in einer Gletscherspalte. Zum zweiten Mal, aber noch längst nicht zum letzten Mal im Lauf dieser Expedition, sieht er sich mit dem sicheren Tod konfrontiert, schafft aber das Unglaubliche: Er krabbelt mit seinem gebrochenen Bein aus der Spalte heraus und den ganzen Weg zurück in ihr Basislager, wo er seinen Freund gerade noch antrifft. Yates war bereits kurz davor, sich auf die Rückreise zu machen.

Zugetragen hat sich die haarsträubende Geschichte 1985, drei Jahre später erschien Simpsons Erlebnisbericht »Touching the Void« (auf Deutsch erstmals erschienen unter dem Titel »Sturz ins Leere« 1999 bei Heyne, übersetzt von Edigna Hackelsberger). Am Anfang zieht sich Simpsons Schilderung ein wenig – vielleicht aber auch nur, weil es fast unmöglich ist, das Buch heute in die Hand zu nehmen, ohne zuvor von der Geschichte gehört zu haben. Faszinierend zu lesen ist aber Simpsons eindrückliche Beschreibung seines psychischen Zustandes, während er wieder und wieder mit scheinbar unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert ist und trotzdem nicht aufgibt, obwohl er mehrmals kurz davorsteht. Kein Wunder, dass er nach diesem Erlebnis eine erfolgreiche Karriere als Motivationstrainer hinlegte.

Endlos faszinierend ist natürlich die Frage, ob es in Ordnung war, dass Yates das Seil durchschnitt – und nicht wirklich gründlich nachschaute, ob sein Freund noch lebte, als er selbst beim Abstieg an der Gletscherspalte vorbeikam. Yates, der in »Touching the Void« stellenweise selbst zu Wort kommt, wurde – und wird heute teilweise immer noch – von vielen Seiten für diesen scheinbar ultimativen Tabubruch kritisiert, obwohl er dadurch genau genommen Simpsons Leben gerettet hat. Simpson selbst hat Yates nie Vorwürfe gemacht und immer beteuert, dass er an seiner Stelle genauso gehandelt hätte. Dennoch sind die beiden heute interessanterweise keine guten Freunde mehr, obwohl beide nach wie vor klettern.

Die Vintage-Ausgabe von 1998 enthält ein zusätzliches Kapitel darüber, wie Simpson sich fühlte, als er zehn Jahre nach den Ereignissen für die Verfilmung der Besteigung mit Yates an den Originalschauplatz in den Anden zurückkehrte.* In diesem Kapitel, aber auch schon in der ursprünglichen Erzählung, deutet sich einer der interessantesten Aspekt der Geschichte an: wie sich Simpsons Einstellung zum Bergsteigen verändert hat.

Ursprünglich zum Bergsteigen hingezogen fühlte sich Simpson nach der Lektüre von Heinrich Harrers Bericht über die Durchsteigung der Eiger-Nordwand, »Die Weiße Spinne« von 1959. Simpson versuchte sich spät selbst am Eiger und sah dort mit eigenen Augen andere Kletterer in den Tod stürzen. Nach dem Drama in den Anden, nach dem er mehrfach operiert werden musste und mehrere Ärzte ihm versichert hatten, dass er nie wieder gehen könnte, erarbeitete sich Simpson seine Fähigkeit zum Extrembergsteigen zwar zurück. Doch mit den Jahren scheinen sich die Zweifel, die er bereits in »Touching the Void« anspricht, zu verstärken. In späteren Büchern, vor allem »This Game of Ghosts« (deutsch »Spiel der Geister«) und »The Beckoning Silence« (»Im Banne des Giganten«), beschäftigte er sich, vielleicht intensiver und tiefgründiger als alle anderen Bergsteiger bisher, mit der Frage, was Menschen überhaupt dazu treibt, ihr Leben am Berg zu riskieren – und ob das vergängliche Glücksgefühl am Berg den Tod wert ist.

* Der Film erschien 2003 ebenfalls unter dem Titel »Touching the Void« und wurde, wie das Buch, mit renommierten Preisen ausgezeichnet.

Joe Simpson: Touching the Void
Vintage Books 1998 | 224 Seiten

Deutschsprachige Ausgabe
Sturz ins Leere: Ein Überlebenskampf in den Anden | Deutsch von Edigna Hackelsberger
NG Taschenbuch 2009 | 304 Seiten

Sabine Anders

Yuval Noah Harari: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow

Yuval Noah Harari: Homo Deus. A Brief History of TomorrowNach dem Erfolg seines Bestsellers »Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit« wurde der israelische Historiker Yuval Noah Harari in Interviews immer wieder gefragt, wie es denn nun um die Zukunft der Menschheit bestellt sei. Aus seinen Antworten ist als eine Art Fortsetzung von »Sapiens« sein neuestes Buch entstanden: »Homo Deus. A Brief History of Tomorrow« (auf Deutsch 2017 erschienen unter dem Titel »Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen« im C. H. Beck Verlag, übersetzt von Andreas Wirthensohn).

In der Tat knüpft »Homo Deus« dort an, wo »Sapiens« aufhörte: Die Menschheit hat die drei größten Probleme, mit denen sie bis ins 20. Jahrhundert am meisten kämpfte, weitgehend im Griff. Kommt es heute zu Kriegen, Hungersnöten oder Epidemien, sind sie nicht von unbeeinflussbaren Faktoren wie etwa Wetterschwankungen ausgelöst, sondern sie beruhen auf menschlichem Versagen und hätten vermieden werden können. Diese These scheint gewagt, aber Harari untermauert sie gekonnt mit seiner gewohnt stichhaltigen, absolut klaren und zugänglichen Argumentationsweise.

Doch er wäre nicht Harari, wenn er nicht wie in »Sapiens« eher die Schattenseiten dieser scheinbaren Erfolgsgeschichte betonte. Entsprechend düster, aber erschreckend überzeugend ist das Zukunftsszenario, das er entwickelt: Befreit von der Notwendigkeit, sich ständig mit Krieg, Hunger und Epidemien herumschlagen zu müssen, stecken die Menschen ihre ganze Kreativität in technischen Fortschritt und die Suche nach dem ewigen Leben. Das führt dazu, dass es möglich wird, Menschen biologisch upzugraden, etwa durch Körperteile und Organe, die länger halten, besser arbeiten oder mehr können. Schon am Ende von »Sapiens« hatte Harari angedeutet, dass der Mensch durch die Schaffung künstlicher Intelligenz die seit Millionen von Jahren geltenden Regeln des Evolutionsprozesses außer Kraft setzt.

Solche evolutionsüberspringende Upgrades werden sich aber nur die Reichen leisten können, die sich dadurch immer weiter vom Rest der Menschheit entfernen. Dieser Rest wird gleichzeitig durch den technischen Fortschritt ziemlich überflüssig: Computer werden Menschen nicht nur in den meisten Bereichen als Arbeitskräfte ersetzen, sondern zum Beispiel auch als Soldaten. Die Masse der Menschen wird also sowohl für Arbeitgeber als auch für Machthaber entbehrlich, da sie weder als Arbeitskräfte noch als Soldaten oder als Wähler gebraucht werden.

Entsprechend gering wird das Interesse der Reichen und Mächtigen sein, diese Überflüssigen am technischen Fortschritt zu beteiligen. Möchte man nun darüber spekulieren, wie das Verhältnis zwischen Reich und Arm aussehen wird, überlegt Harari, muss man sich nur ansehen, wie weiter entwickelte Aliens in Science-Fiction-Filmen mit der Menschheit umspringen – oder Menschen mit Tieren.

Wie schon in »Sapiens« gelingt es Harari, den Leser dazu zu bringen, Dinge zu hinterfragen, die man sonst als selbstverständlich hinnimmt. Mit den Wörtern human und Humanismus etwa verbinden die meisten etwas Positives. Sie beinhalten aber auch, dass nicht-menschliche Lebensformen zu Lebewesen zweiter Klasse degradiert werden. Harari zeichnet die Entstehungsgeschichte des Humanismus nach und zeigt, auf welchen philosophischen und biologischen Annahmen er beruht – und wie wenig gerechtfertigt diese rein logisch betrachtet eigentlich sind.

Genauso wie Harari mit »Sapiens« die Zivilisationsgeschichte als Erfolgsgeschichte in Frage stellte, lässt einen »Homo Deus« zweifeln, ob man als Mensch eigentlich zu den good guys gehört oder nicht doch eher zu den bad guys. In Science-Fiction-Filmen stellen Menschen sich üblicherweise als Opfer von Alien-Angriffen dar, die die Menschheit für ihre Zwecke ausrotten oder missbrauchen wollen. Wir porträtieren uns selbst als die good guys. Schaut man sich aber unseren Umgang mit Tieren an und denkt sich einmal, die Tiere wären Menschen, die Menschen die Aliens, wird einem mit Schrecken bewusst, dass man vielleicht eher auf der Seite der bad guys steht – und im Verlauf der Menschheitsgeschichte schon immer gestanden hat.


Yuval Noah Harari, Foto © Daniel Thomas Smith

Trotz aller Düsternis ist »Homo Deus« eine inspirierende Lektüre. Harari will sein Buch ausdrücklich nicht als beklemmende Prophezeiung verstanden wissen. Er will dadurch gerade erreichen, dass Menschen darüber nachdenken, wie sie mit den Möglichkeiten, die durch technischen Fortschritt entstehen, umgehen könnten: Ähnlich wie Karl Marx laut Harari den Kapitalismus gewissermaßen gegen seinen Willen rettete, indem er seinen Untergang vorhersagte.

»Homo Deus« steckt so voller origineller Gedankengänge und Ideen, dass man es gleich noch einmal lesen möchte, um alles aufzunehmen und zu verarbeiten. Es konfrontiert einen mit Fragen wie: Ist es okay, die Bewegungen einer Ratte mithilfe in ihr Gehirn implantierter Elektroden zu steuern, wenn sie sich super dabei fühlt? Welche Rolle spielt Politik in Anbetracht der Tatsache, dass über die Dinge, die die Welt am meisten verändern, oft gar nicht abgestimmt wird – etwa die Einführung des Internets?

Kurz gesagt: Wem »Sapiens« gefallen hat, der sollte sich »Homo Deus« auf keinen Fall entgehen lassen.

Yuval Noah Harari: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow
Harper 2017 | 464 Seiten

Deutschsprachige Ausgabe:
Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen | Deutsch von Andreas Wirthensohn
C.H. Beck 2017 | 576 Seiten

Sabine Anders

Christoph Niemann: Souvenir

Christoph Niemann: SouvenirChristoph Niemann ist ein außergewöhnlicher Künstler, dessen Arbeiten ich auf einem außergewöhnlichen Wege kennenlernen durfte. 2008 veröffentlichte der Münchener Galerist Armin Abmeier in seiner Reihe »Die Tollen Hefte« eine weitere Kurzgeschichte von T.C. Boyle: »Windsbraut«. Ein Exemplar der limitierten Auflage ging von München ins kalifornische Santa Barbara, wo es von Boyle signiert wurde. Anschließend gelangte es auf dem Postweg über München zu mir nach Braunschweig.

Natürlich war ich begeistert, als ich das – im wahrsten Sinne des Wortes – tolle Heft nach seiner langen Reise endlich in meinen Händen hielt. Nicht nur wegen Boyles persönlicher Widmung, sondern auch, weil seine preisgekrönte Kurzgeschichte um eine tragische Liebe auf den Shetland Islands von Christoph Niemann illustriert worden ist. Seine Pixelgrafiken begeisterten mich auf Anhieb, weil es ihm mit einfachsten Mitteln gelang, die Geschichte auf eine einzigartig originelle Weise wiederzugeben.

Seither verfolge ich die Arbeiten von Christoph Niemann mit besonderer Aufmerksamkeit. Sie erscheinen regelmäßig auf den Titelseiten von The New Yorker, Atlantic Monthly und The New York Times Magazine. Aber auch auf seinen Social-Media-Seiten kann man seiner herausragenden Strichkunst folgen. Gern nimmt Niemann Gegenstände des Alltags zur Hand und gibt ihnen mit wenigen Tusche-Linien drumherum einen völlig neuen Sinn. So wird z. B. aus einer kleinen Muschel das wehende Haar einer ins Meer springenden jungen Frau, oder aber er macht aus zwei bunten Büroklammern widerspenstige Klappstühle am Strand.

Motive wie diese deuten es an: Christoph Niemann ist viel auf Reisen. Und gerade dann zeichnet er. Einerseits, um sich angesichts neuer aufregender Umgebungen zu beruhigen, andererseits, um Eindrücke festzuhalten, die mit der Kamera schwer einzufangen sind. Eine große Auswahl dieser Tusche- und Bleistiftzeichnungen hat der Schweizer Diogenes Verlag jetzt in einem prachtvollen Leinen-Kunstband veröffentlicht.

Auch hier lässt sich beobachten, wie der Künstler mit minimalistischem Einsatz äußerst stimmungsgeladene Bilder erzeugt. Betrachtet man nur den Ausschnitt einer seiner Illustrationen, sieht man grobe Linien, Kleckse und Punkte. Im Ganzen fügen sich diese Linien, Kleckse und Punkte jedoch zu einem beeindruckenden »Gemälde« zusammen, in dem kein wichtiges Detail zu fehlen scheint.

Christoph Niemann: Souvenir. © Diogenes Verlag

Wer bei der ersten Betrachtung der Illustrationen die Titel ignoriert, wird überrascht sein, wie schnell er die von Christoph Niemann porträtierten Orte erkennt und sich idealerweise mit seinen eigenen, ganz persönlichen Reiseerinnerungen darin wiederfindet. Diese fotografisch schwer konservierbaren Stimmungsbilder einzufangen, zu vermitteln oder auch wachzurütteln, ist Niemanns Anliegen.

Zählt man die Gestaltung einzelner Buchcover nicht mit, ist »Souvenir« die erste Zusammenarbeit von Christoph Niemann und dem Diogenes Verlag. Und hoffentlich nicht die letzte. Denn zu bemängeln gibt es an diesem wundervollen Kunstband eigentlich nur, dass mit den rund 150 ausgewählten Zeichnungen lediglich einen Ausschnitt von Niemanns vielseitiger Arbeit gezeigt wird.

Christoph Niemann: Souvenir | Mit einem Vorwort von Philipp Keel
Diogenes 2017 | 256 Seiten

Holger Reichard

Karel Čapek, Hans Ticha: Der Krieg mit den Molchen

»Es gibt hier keine Utopie, sondern nur die Gegenwart.«
(Karel Čapek über seinen Roman »Der Krieg mit den Molchen«)

Mit Karel Čapeks Buch »Der Krieg mit den Molchen« legte die Edition Büchergilde im vergangenen Herbst nicht nur einen Klassiker der tschechischen Literatur, sondern auch ein Juwel der Buchgestaltung wieder auf. Der 1936 erschienene apokalyptische Roman in Form einer parodistischen Materialsammlung bedient nahezu alle Textsorten. Im Aufbau Verlag erschien dieses Novum 1987 mit den Illustrationen von Hans Ticha. Kurze Zeit später nahm die Büchergilde den Titel in Lizenz. Nun liegt dem Leser das Kultbuch als Reprint vor.

In Čapeks Roman werden der menschlichen Gesellschaft Profitgier und Größenwahn zum Verhängnis. Das selbst geschaffene Unheil ist nicht mehr reparabel. Dieses Muster ist so aktuell wie kein anderes.

Vor Sumatra entdeckt Kapitän van Toch eine unbekannte Molchart, die den Menschen ähnlich ist. Schnell entwickeln sich die sprachbegabten Riesenmolche zum globalen Wirtschaftsfaktor. Manager sind schon in den Startlöchern; bereit, das Geschäft ihres Lebens zu machen. Ein riesiges Molchsyndikat wächst heran. Die Tiere werden als billige Arbeitssklaven missbraucht und bescheren der Menschheit binnen kürzester Zeit einen bis dahin nicht gekannten Fortschritt.

Mit technischem Sachverstand und im Konkurrenzwahn der Staaten bis an die Zähne bewaffnet wenden sich die Molche am Ende gegen ihre Ausbeuter. Fordernd quäkt die Stimme des Chief Salamander durch den Äther nach neuem Lebensraum für seine Artgenossen. Für das Gipfeltreffen in Vaduz werden Wannen mit Meerwasser für die Molchvertreter bereitgestellt. Doch an ihrer Stelle verhandeln drei mit allen Wassern gewaschene Anwälte. Wem nützt der Rechtsbeistand in der selbst herbeigeführten Katastrophe?

Da stürzen sie auch schon ein, die Twin-Towers, folgen ein sinnloser Krieg, sinnloser Terror, bei dem auf der ganzen Welt unschuldige Menschen sterben … Pardon: Die Molche sprengen eine Küste nach der anderen und präparieren Ufer um Ufer für ihre Seichtgebiete.

Karel Čapek beschreibt mit wissenschaftlicher Genauigkeit, wie Molche im Dienste der Forschung lebend seziert werden. Da muten die Bibeln auf wasserfestem Papier, die dem Seelenheil der Unterwassersklaven dienen sollen, höchst larmoyant an. Dem Leser wird heiß und kalt ob der Suggestionskraft des lebendigen Čapekschen Jargons, der sich allzeit stilgerecht durch Börsenberichte, Abhandlungen und zoologischen Aufsätze zieht. Brillant hält Čapek der eigenen Dummheit, Ängsten, Vorurteilen und Ansprüchen einen Spiegel vor. Nicht nur der Egoismus der einzelnen Länder und der Größenwahn der Konzerne werden aufs Korn genommen, auch Herr Povondra als »kleiner Mann«, der glaubt, dass nur die anderen untergehen werden, bekommt sein Fett weg.

Der Autor selbst hält sich diskret zurück. Im Vordergrund steht der Triumph der Molche – die uns allzu sehr ähnlich gewordenen Tiere im Wahn unserer ureigenen Möglichkeiten: Poesie, Vorstellungskraft und Idealismus. Karel Čapek setzt sich in seinem Roman mit dem politischen Damoklesschwert seiner Zeit auseinander: Nationalismus, Rassenwahn, Kommunismus. Wer hätte gedacht, dass es (neu geschärft) immer noch über uns schwebt.

Hans Ticha unterstreicht mit seinen einzigartigen Illustrationen die unheimliche Aktualität von Čapeks Groteske. Herrlich, wie seine kunstfertige Typographie das förmliche Erscheinungsbild der Texte provoziert. Tichas zeitlose, klare Bildaussagen werden durch die unterschiedlichsten Stilrichtungen seiner Illustrationen gewürzt. Da finden sich Pop-Art-Zitate neben scheinbar wissenschaftlichen Zeichnungen auf braunem Fond. Bildrasterpunkte manipulieren dem Betrachter gedruckten Quellen. Sprechblasen erinnern an gar an einen Comic.

Bis zum bitteren Ende bleibt der Leser nicht nur in der apokalyptischen Szenerie des Weltuntergangs, sondern auch in der Virtuosität der so genialen Illustrationen gefangen.

Karel Čapek, Hans Ticha: Der Krieg mit den Molchen
Edition Büchergilde 2016 | 336 Seiten

Renate Bojanowski

Philipp Hübl: Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie

Wer eine wirklich gut verständliche und kompakte Einführung in die Philosophie sucht, der greift am besten zum Philipp Hübls »Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie«.

Das Buch unterscheidet sich vor allem durch zwei Eigenschaften von anderen philosophischen Einführungsbüchern: Zum einen vertritt Hübl die Auffassung, dass sich auch Philosophen klar und verständlich ausdrücken können – ja sogar sollten. Er zeigt, dass sich hinter schwer verständlichen Texten oft genug nur banale oder unsinnige Aussagen verbergen, dass ihre Verfasser es manchmal nur vertuschen möchten, wenn sie nicht viel zu sagen haben.

Für Hübl sind Philosophen in der heutigen Zeit …

… Ärzte ohne theoretische Grenzen, die nicht nur Sprachverwirrungen therapieren, sondern Unsinn in allen Lebenslagen entlarven. Sie arbeiten mit einem Wahrheits-Detektor, der Alarm schlägt bei den Worthülsen der Politik, der Propaganda der Werbung, den Klischees des Kinos und den Fehlschlüssen in Fernsehsendungen und Zeitungsberichten.

Zum anderen rückt Hübls Übersicht nicht die großen Denker als Persönlichkeiten und Begründer von philosophischen Schulen in den Mittelpunkt, sondern ihre einzelnen Argumente. Er zählt nicht nur auf, welche philosophischen Strömungen es gegeben hat und gibt, sondern ordnet sie ein. Dabei geht er auch darauf ein, welche Bedeutung einzelne Überlegungen für die Debatten unserer eigenen Zeit haben und welche Gedankengebäude sich eher als Irrwege erwiesen haben.

Hübl widmet sich den großen Fragen der Philosophie, etwa ob es einen Gott gibt, wie es um unsere Entscheidungsfreiheit bestellt ist, ob Träume und Gefühle eine Funktion haben, woher wir unser Wissen nehmen, wie Sprache funktioniert, warum wir etwas schön finden, wie man ein glückliches Leben lebt und was es mit dem Tod auf sich hat. Dabei holt er den Leser aber immer bei Beobachtungen ab, die jeder aus seinem eigenen alltäglichen Erleben nachvollziehen kann, was das Buch zugleich äußerst unterhaltsam macht.

Hervorragend ist auch das transparente Literaturverzeichnis – endlich einmal eines, das ganz konkret die Seitenzahlen der zitierten Werke mit angibt. Kein Wunder, dass »Folge dem weißen Kaninchen« 2013 bereits in der sechsten Auflage erschienen ist.

Philipp Hübl: Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie
Rowohlt 2012 | 352 Seiten

Sabine Anders

Jonathan Safran Foer: Here I Am

»Here I Am« (deutsch »Hier bin ich«, übersetzt von Henning Ahrens) ist der dritte Roman des jüdischen Bestsellerautors Jonathan Safran Foer nach »Everything is Illuminated« (»Alles ist erleuchtet«) von 2002 und »Extremely Loud and Incredibly Close« (»Extrem laut und unglaublich nah«) aus dem Jahr 2005. In »Alles ist erleuchtet« erzählte Foer, der aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden stammt, die Vernichtung eines jüdischen Schtetls in Polen durch die Nationalsozialisten mithilfe einer humorvoll gebrochenen Sprache und kunstvoll miteinander verwobenen Erzählsträngen. In »Extrem laut und unglaublich nah«, formal kaum weniger gewagt, stellte er die Anschläge des 11. Septembers und die Luftangriffe auf Dresden während des Zweiten Weltkriegs in einen Zusammenhang.

Im Gegensatz zu diesen Werken, die beide erfolgreich verfilmt wurden, ist »Here I Am« stilistisch wesentlich weniger innovativ. Nur wenige Rezensenten, darunter Daniel Menaker von der New York Times, sehen eine formale Kontinuität. Menaker sieht »Here I Am« sogar auf einer Stufe mit T. S. Eliots »The Waste Land«, einem der wegweisendsten Gedichte der modernen Literatur: Schließlich beinhalte auch »Here I Am« widersprüchliche Darstellungen derselben Ereignisse und baue textuelle Fremdkörper ein – Zitate aus Chatrooms, Nachrichten, Drehbüchern.

Umstritten unter den Rezensenten ist auch: Sind Sprüche wie »In all of human history, nothing has ever gone away on its own«, »Living the wrong life is far worse than dying the wrong death«, »Recklessness is the only fist to throw at nothingness« Weisheiten, leere Phrasen oder nur Glückskeksniveau, wie Nicholas Lezard im Evening Standard meint? Der Roman bietet jedenfalls genug solcher Sentenzen.

Zumindest inhaltlich entwirft Foer auch in »Here I Am« ein gewagtes Szenario: Er lässt den Staat Israel nach einem Erdbeben in einen Krieg geraten. Doch die Zukunftsvision wirkt wenig überzeugend und nicht wirklich durchdacht. Rezensent Jonathan Dee schreibt im Harper’s Magazine, er habe den Eindruck, Foer hätte dieses Untergangsszenario mit großem Tamtam ins Leben gerufen, dann aber nicht so recht gewusst, was er damit anfangen solle. Für Jason Cowley (Financial Times) zeigt es Foers lückenhaftes Verständnis der geopolitischen Lage: Das Erdbeben führt in dem Roman zur raschen Vereinigung »der muslimischen Welt«, etwa zu einem vereinten Jordanien und Saudi Arabien oder einem Bündnis zwischen der Hisbollah und dem IS. »Wer’s glaubt«, ist Cowleys knapper Kommentar.

Aber der epochale Krieg passiert auch erst in der zweiten Hälfte des fast 600 Seiten langen Buchs. Die erste Hälfte liest sich eher wie ein ganz gewöhnliches Familiendrama. Es geht um das jüdische Ehepaar Jacob und Julia Bloch und die schleichende Zerstörung ihrer Ehe. Sie haben drei gesunde Kinder und einen Hund, leben gut situiert in Washington D.C. und haben sich im Lauf der Jahre entfremdet, ohne sagen zu können, wie genau ihnen das nur passieren konnte. Sie wirken beide ein bisschen so, als hätten sie einen Burnout bekommen vor lauter Anstrengung, gute Eltern zu sein, wobei Julia darunter vor allem schadstofffreie Matratzen und viel Gemüse zu verstehen scheint und Jacob sich ihr widerwillig anpasst, aber gegen ihre Regeln verstößt, sobald sie wegschaut. Keiner von beiden weckt so richtig die Sympathie des Lesers, noch scheint dem Autor sonderlich viel an ihnen zu liegen: Kann man überhaupt Mitleid empfinden mit einen Paar, fragt Alex Clark in seiner Rezension im Guardian, das für seinen zehnten Hochzeitstag ein Essen in einem Restaurant plant, auf das sie in einem Magazin für »wohlüberlegtes Leben« aufmerksam geworden sind? Julia verschwindet nach der Trennung sowieso fast völlig aus dem Text, der Leser erfährt nicht mehr viel von ihr.

Auslöser für ihr endgültiges Zerwürfnis ist, dass Julia ein Handy findet, das Jacob benutzt, um mit einer Arbeitskollegin Nachrichten sexueller Natur auszutauschen. Und doch ist Jacobs nie real gewordene Untreue nicht der Grund für die Trennung. Vage im Hintergrund steht die Frage, wer schuld war an einem Unfall, bei dem der älteste Sohn Sam an der Hand verletzt wurde, und Jacobs wahrscheinlich von einem Mittel gegen Haarausfall verursachte Potenzprobleme.

Entsprechend unentschlossen sind Julia und Jacob, ob sie zusammenbleiben sollen oder nicht. Mehrmals proben sie die Ankündigung der Scheidung für die Kinder. Interessant ist Foers detaillierte Beschreibung der schleichenden Entfremdung des Paares, ihres Familienalltags und vor allem ihrer Dialoge, die oft ebenso sehr das aktuell stattfindende Gespräch thematisieren wie den Gesprächsgegenstand: »nice vocab«, »It’s way too late in this conversation for that.«

Offensichtlich wollte Foer einen Zusammenhang herstellen zwischen dem Untergang Israels und dem Scheitern der Ehe der Blochs, nur welchen – das ist vielen Lesern nicht ganz klar geworden. Rezensent Clark hat eine Parallele ausfindig gemacht, und zwar das zerstörerische Festhalten an bedeutungslos gewordenen Ritualen – religiösen wie familiären. In beiden Fällen, dem Untergang der Ehe und Israels, geht es viel um die Frage nach Identitäten, Loyalitäten und wo man zu Hause ist. Jacob stellt fest, dass er in seiner Rolle als Vater und Ehemann nicht mehr er selbst sein kann. Als Amerikaner fragen sich alle Blochs, vor allem die Kinder, worin ihre jüdische Identität besteht, und dann kommt auch noch die Verwandtschaft aus Israel zu Besuch. Neffe Tamir konfrontiert Jacob mit der Frage, was Israel ihm bedeutet, und lässt seine Probleme im Vergleich zum Krieg dort unzulänglich erscheinen. Das verstärkt Jacobs Gefühl, nicht wirklich zu leben. Lebendig gefühlt hat er sich nur einmal, als er als Kind ins Löwengehege im Zoo einbrach – natürlich nur auf Drängen seines Cousins Tamir.

Jedenfalls ist das Ehedrama spannender erzählt und überzeugender als das Chaos um Israel. A. D. Scott stellt im Atlantic Magazine fest, dass das Schicksal der Palästinenser Foer zumindest innerhalb des Romans völlig kaltlässt. Auch seine Beschreibung von Israelis sei nicht viel weniger oberflächlich und nicht einmal für Lacher gut, kritisiert Alexnader Nazaryan in der L. A. Times. Scott hält das Werk für Foers unabsichtlichen aber bedeutenden Beitrag zum Genre »Männliche Midlife Crisis der Generation X«, es lobe Selbstgefälligkeit, Bescheidenheit, Vorsicht und feiere die Kleinheit des Lebens. Meinem Eindruck nach beklagt der Text diese Kleinheit eher. Würde Foer sonst die Entwicklung der Blochschen Ehe so beschreiben?

They had another child. They considered whether a rug would hold its value, knew which of everything was best (Miele vacuum, Vitamix blender, Misono knives, Farrow and Ball paint), consumed Freudian amounts of sushi, and worked harder so they could pay the very best people to take care for their children while they worked. They had another child.

Vielleicht hat »Hier bin ich« so viele Leser enttäuscht, weil es natürlich an den beiden herausragenden Vorgängerromanen von Jonathan Safran Foer gemessen wird. Cowley vermutet, dass sich die Lektoren wegen des Status des berühmten Jungautors nicht einmal getraut haben, das Nötigste am Text zu ändern. Die Kommentare vieler weiterer Rezensenten sind ebenfalls eher vernichtend. Alexander Nazaryan etwa nennt das Werk »freudlose Prosa über freudlose Leute« und »nervig zu lesen«, sogar Supermarktliteratur erfülle besser Kafkas Vorgabe, ein Roman solle eine Axt für das zugefrorene Meer in uns sein. Er schlägt vor, Foer hätte Jacob in den Krieg schicken sollen, weil ein im Westjordanland stationierter verweichlichter Yale-Absolvent die bessere Geschichte ergeben hätte. Möglich. Ohne den Vergleich zu Foers ersten beiden Romanen, auch darin sind sich viele Rezensenten einig, wäre »Here I Am« jedoch leidlich unterhaltsam und größtenteils spannend zu lesen.

Bleibt noch die Frage nach der Bedeutung des Titels. »Hier bin ich« ist ein Zitat aus der biblischen Geschichte, in der Gott Jakob auffordert, seinen Sohn Isaak zu opfern. Natürlich wirft Foer die Frage auf, wie bereit die in der Diaspora lebenden Juden sind, sich in seinem Roman für Israel einzusetzen, und wer von den Blochs für wen da ist. Foer lässt eine von Sams Schulfreundinnen in einer Diskussion über Hamlets »sein oder nicht sein« antworten: sowohl sein als auch nicht sein, passend zu Jacobs Unentschlossenheit, ob er sich scheiden lassen soll oder nicht. Auch »Here I Am« ist eine mögliche Antwort auf »sein oder nicht sein«. Geopfert wird in dem Buch am Ende nur der alte, inkontinente Hund der Familie, den Jacob etwa zeitgleich mit der Scheidung einschläfern lässt. Er ist das überzeugendere und berührendere Symbol der Ehe als der fiktive Krieg. Als es soweit ist, sagt Jacob dem Hund, dass er bei ihm ist. Erst in dem Moment, als es passiert, erkennt Jacob, dass er beides nicht wollte – die Scheidung und das Einschläfern. Aufhalten kann er es trotzdem nicht.

Originalausgabe:
Jonathan Safran Foer: Here I Am
Hamish Hamilton 2016 | 592 Seiten

Deutsche Ausgabe:
Jonathan Safran Foer: Hier bin ich
Deutsch vom Henning Ahrens
Kiepenheuer & Witsch 2016 | 688 Seiten

Sabine Anders