Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (2)

Für alle Teams, die ich bis jetzt im agilen Kontext getroffen habe, bedeutet agiles Arbeiten immer die zumindest von Außen herangetragene Erwartung effektiver, beweglicher und schneller Outputs zu liefern. Mit der agilen Transformation soll etwas Neues entstehen. Die bisherigen Strukturen, Entscheidungsbereiche, Machtstrukturen und persönlich erarbeiteten Aspekte von Status, Einfluss, Sicherheit und Respekt stehen auf dem Spiel. Was kriege ich dafür, wenn ich das hier aufgebe?

Wenn etwas auf dem Spiel steht, löst das bei vielen Menschen Kampf- und Fluchtdynamiken aus, weil sie schlichtweg Angst haben. Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass unter Angst verstärkt die alten Routinen zur Lösung von neuen Bedrohungen herangezogen werden. Eine eher ungünstige innere Dynamik, um Erneuerung zu gestalten.

Sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende erleben diese Situationen häufig als kritisch und gefährdend für ihren Verantwortungsbereich, Status und ihre Reputation. Wenn eine Vielzahl von Akteuren in Transformationsprozessen in alte archaische Muster von Kampf, Verteidigung und Flucht verfallen, wird das gemeinsame Gestalten von neuen Formen der Zusammenarbeit richtig schwierig.

Hürden, wenn es um das Erlernen neuer Fähigkeiten geht

Gerade auch Menschen in Projekt- und Führungsverantwortung können in solchen Prozessen dank einer häufig sehr starken Selbstkontrolle und Disziplin äußerlich solche inneren Zustände (Überlebenskampf-Modus) überspielen. Im inneren Verabeitungsprozess sind die alten archaischen Muster aber trotzdem dominant. Der Überlebenskampf-Modus und die daraus resultierenden Denkmodi und Verhaltenstendenzen sind von einigen Neurowissenschaftlern und Stressforschern ausreichend beschrieben worden.

Tendenziell könnte man sagen, dass im aktuellen Bedrohungsmodus alte Routinen aktiviert werden, die häufig erprobt wurden (Wir können an Kampfsportler denken, die Bewegungen tausendmal im Training optimieren. Im Kampfmodus können diese kaum erprobt werden. Nur viele tausendmal erprobte Abläufe funktionieren in diesen Situationen). Mentale Bewertungsprozesse im Kampf- und Flucht-Modus führen jedoch immer wieder dazu, dass neue Ideen, kreative Gedanken anderer und neue Kooperationsformen tendenziell eher negativ bewertet werden und alte Lösungen und Ideen sich auf mentaler, interner Verarbeitungsebene stärker durchsetzen und Erneuerung behindern.

Generell werden Umwelt sowie andere Gestalter und Akteure im Überlebenskampf-Modus eher als feindlich und Bedrohung erlebt. Das kann der eine oder andere dann nachvollziehen, wenn sie/er einen stressigen Tag erlebt hat und dann nach Hause, womöglich zu Partner/in und und Kindern kommt. Sehr leicht werden diese geliebten Menschen dann auch situativ als bedrohlich erlebt….

Folgende ungünstige Effekte werden durch den Überlebenskampf-Modus bei Akteuren verstärkt:

  • Sieger-Verlierer-Wettbewerb: Es geht insbesondere ums Verlieren und Gewinnen. Das verstärkt Effekte auf das Selbstwertsystem und wird beim Verlieren verstärkt Kränkungseffekte hervorrufen.
  • Überlebenskampfmechanismen rücken in den Vordergrund: Der Bruch von Regeln, verdecktes Handeln und Taktieren werden ausgebaut.
  • Sunk Cost Bias (z. B. Studie INSEAD): Wenn man in alte Modelle, Projekte und Strukturen investiert hat, dann kann man diese ganz schlecht loslassen (Tote Pferde werden weiter geritten). Debiasing the Mind Through Meditation: Mindfulness and the Sunk-Cost Bias
  • Alte Routinen zur Durchsetzung, Koalitionsbildung, Verteidigung und Gestaltung werden deutlich stärker fokussiert. Die Offenheit für neue Kooperationsmöglichkeiten und Gestaltung sinkt deutlich.

Persönliche und kollektive mentale Denkmuster verstärken, die Erneuerung begünstigen

Stattdessen macht es also Sinn auf kollektiver und persönlicher Ebene daran zu arbeiten, dass möglichst viele Akteure in einem Transformationsprozess nicht zu oft in diese archaischen Denk- und Interaktionsmuster (Überlebenskampf-Modus) hineingeraten. Möglichst viele Akteure sollten immer wieder in mentale Zustände kommen, die Zuversicht, Verbundenheit und kreatives Neu-Denken ermöglichen. Was das im Detail bedeutet, darüber schreibe ich in meinem nächsten Blogartikel »Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen.«

Herbert Bittorf
Titelbild: Josh Calabrese on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (1)

Zunehmend erlebe ich eine große Bereitschaft und Offenheit bei Bereichen und Teams, sich auf agile Workframes einzulassen. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Tatsächlich wird dann jedoch im gemeinsamen Arbeiten erkennbar, dass dieses bewusste Einlassen begleitet wird von einer ebenso großen Kampfbereitschaft, wertvolle Errungenschaften, geschätzte Prozesse und hart erarbeitete Rollen aus der Vergangenheit zu verteidigen.

Diese gegenläufigen Tendenzen, die wir ja auch als Individuen alle in uns haben, werden auch hier in unterschiedlichen Gruppendynamiken auf dem Weg zu neuen Arbeitsformen deutlich. Vorfreude auf Neues – und die Angst vor dem Ungewissen, verbunden mit allen Gefahren für eigene Rollen, Anerkennung, Status und eigene Leistungsmöglichkeiten. Wir könnten diesen Modus Überlebenskampf-Modus nennen.

Werden die damit verbundenen Prozesse auf individueller Ebene bei vielen Akteuren dominant, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die daraus resultierenden Haltungen und Handlungsvarianten starke Auswirkungen auf gruppendynamische Prozesse im Transformationsgeschehen haben. Insbesondere, wenn Drehpunktfiguren, häufig auch Führungskräfte im Überlebenskampf-Modus agieren.

Gegenmittel Achtsamkeit

Interessant ist dabei die Beobachtung, dass Techniken und Haltungen aus dem Feld der Achtsamkeit einen Veränderungsshift im Klima von Interaktionen unterstützen, so dass Erneuerung, Perspektivenwechsel und Vertrauen in den Vordergrund rücken – nennen wir diesen Modus Kollaborationsmodus. Wie ist das zu erklären?

Dazu müssen wir zunächst auf die Wirkmuster von Achtsamkeit auf unsere Denkmodi schauen. Ellen Langer, die originelle Forscherin von der Harvard-University, hat im Laufe ihrer Forschungsarbeiten mehrere Kennzeichen von Menschen im Achtsamkeitsmodus beschrieben. Hier die wesentlichen Merkmale:

Wenn wir uns die linke Seite anschauen erkennen wir die Denkmuster, die achtsame Akteure prägen. Und genau solche Denkmuster sind sehr hilfreich, um aus einem »Überlebenskampf-Modus« in einen »Kollaborationsmodus« zu wechseln.

Ein wesentlicher Wirkmechanismus scheint dabei zu sein, dass Achtsamkeit dem Einzelnen ermöglicht, sich von eigenen (automatischen) schnellen Bewertungen, Vorurteilen und Routinen zu distanzieren. Dazu gehören bei erprobten Akteuren im Unternehmensumfeld insbesondere die Routinen, um sich durchzusetzen, sich zu verteidigen und zu gewinnen. Sobald diesen »Reflexen« nicht mehr unmittelbar gefolgt wird, entsteht Raum in der Kooperation, neue Gedanken und Ideen gemeinsam zu verfolgen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Was kann Achtsamkeit als Selbststeuerungstool bewirken?

Achtsamkeit kann eine mentale Plattform sein, die Energien aus dem Modus der Kampfbereitschaft und Verteidigung in einen Modus der Fokussierung, Entschlossenheit, und gemeinsamen Gestaltungswillen zu transformieren. Eine achtsame Haltung ermöglicht die Distanz zu alten Auto-Pilot-Reflexen und eine Distanz zu Mechanismen, die aus Bedrohung und Angst entstehen.

Offensichtlich empfinden wir Abweichungen von alten Routinen und Mustern in der Selbstorganisation, neben der frohen Erwartung auf schönes Neues, sehr leicht als Bedrohung. Sobald aber interne Bedrohungs- und Angstroutinen unsere Denkmodi beherrschen, werden alte Muster bei Individuen und Kollektiven sehr mächtig und blockieren neue Wege.

Und obwohl wir eigentlich auf der rationalen, bewussten Ebene Veränderung wollen, fallen uns als Reaktionen auf bestimmte Situationen und der Gestaltung der Veränderung nur alte Lösungen ein. Oder noch präziser: Diese alten Reaktionsmuster passieren einfach.

Achtsamkeit ermöglicht die innere Distanzierung von alten Mustern – und ermöglicht so, auch unter Bedrohung, neue Handlungsmöglichkeiten. Damit ist eine gute Voraussetzung geschaffen, um neue Arbeitsformen, anderen Umgang mit Hierarchien und neues Lernen zu erleichtern.

Achtsamkeit als Nährboden für Haltungen, die agile Arbeitsformen unterstützen

Welche Haltungen erleichtern Kooperation, Erneuerung, Veränderung und Selbstverantwortung? Hier können mehrere Haltungen hervorgehoben werden. Da ist mit Sicherheit die Offenheit für Neues hervorzuheben. Achtsamkeit fördert und kultiviert den sogenannten »Anfängerblick«, die Haltung der »Präsenz« und die »nicht-wertende Betrachtung«.

Allein dieses Trio von Haltungen ist ein guter Nährboden für neue Arbeitsformen. Präsenz meint die Haltung, ganz da im Augenblick zu sein. Ergänzt durch den Anfängerblick wird die Bereitschaft erzeugt, Dinge neu und aus anderen Perspektiven zu betrachten. Unterstützt wird dieser Verarbeitungsprozess durch die »nicht-wertende Betrachtung«, die es ermöglicht, Erfahrungen nicht zu schnell in alte Denkschubladen einzuordnen und damit Neubetrachtungen zu unterbinden. Allein diese drei Haltungen sind sehr gute Voraussetzungen, um Geschäftsmodelle, eigene Rollen, Formen der Zusammenarbeit mit positiven emotionalen Bereitschaften neu zu denken.

In diesen Zeilen beschreibe ich meine persönlichen Erfahrungen als Begleiter von agilen Prozessen und setze diese in Beziehung zu den Erkenntnissen aus der Forschung zu Achtsamkeit. In meinem nächsten Blog schreibe ich über archaische Reaktionen von Menschen in agilen Transformationen und was wir tun können, um achtsame Haltungen einzunehmen.

Herbert Bittorf
Titelbild: Sanju M Gurung on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Erfolgsfaktoren agiler Führung

Das Umfeld, in welchem Unternehmen erfolgreich wirtschaften müssen, verändert sich seit einigen Jahren radikal. Es wird zunehmend von VUCA – von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität – erfasst. Digitalisierung, Globalisierung und zunehmende Vernetzung generieren eine exponentiell steigende Komplexität, die mit den herkömmlichen Ansätzen von Führung und Zusammenarbeit nicht mehr beherrschbar ist. Damit verändern sich die Grundregeln von Wertstiftung und Wertschöpfung fundamental.

Gleichzeitig sehen sich Unternehmen mit einem zunehmenden Fachkräftemangel in einen War for Talent geworfen. Arbeitgeberattraktivität und Mitarbeiterbindung werden in verschärfter Weise zu zentralen Wettbewerbsvorteilen. Junge Menschen der viel zitierten Generationen Y und Z stellen dabei gesteigerte Erwartungen an ihre Arbeitgeber. Vor dem Hintergrund einer generellen gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Autonomiebestreben und Individualismus möchten sie sich lebenslang lernend unter optimalen Arbeitsbedingungen intrinsisch motiviert als sinnstiftend erleben, ohne von Autoritäten dominiert zu werden.

Somit werden die Antworten auf die beiden folgenden Fragen für Unternehmen zu zentralen Erfolgsfaktoren: Wie gestaltet sich Wertschöpfung, in der unter komplexesten Bedingungen Aufgaben sinnvoll verteilt und effizient bearbeitet werden können? Und wie lässt sich im Unternehmen der Faktor Mensch stärken und sinnstiftend das Potenzial intrinsischer Motivation heben?

Führung spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. In neuer Form kann sie die Basis legen, um die oben genannte doppelte Wertstiftung möglich zu machen. Die Motivationsforschung hat Sinnstiftung, Autonomie und das Gefühl, besser zu werden, als zentrale Faktoren intrinsischer Motivation identifiziert (siehe z.B. Dan Pink). Die selben Faktoren erlauben es geleichzeitig, Komplexität beherrschbar zu machen. Die Gestaltung eines Umfelds, in welchem diese drei Faktoren sowohl für den Menschen als auch für den Unternehmenserfolg maximal wirken können, ist damit zentraler Bestandteil agiler Führung.

Durch Purpose und Rahmensetzung in der Unübersichtlichkeit orientieren

Wo in der VUCA-Situation die Komplexität der Stakeholderinteressen und der Auftragslage Eindeutigkeit zunichte machen und Mitarbeitende jeden Tag vor einer neuen Situation stehen, verlieren eindeutige, feste Ziele sowie die Einhaltung von Regeln und Prozessen an Wirkkraft. Anstelle eines fixen Fernziels, das hierarchisch »nach unten« kaskadiert wird, spannt agile Führung ein offeneres Zielfeld auf, dem man sich iterativ annähert und das sich erst Schritt für Schritt konkretisiert. Unter Nutzung der aktuell günstigsten Faktoren wird kurzfristig fokussiert ein Nahziel angesteuert, das mit einer präzisen Taktik erfüllt wird. Zentrale Bedeutung für die Orientierung der Mitarbeitenden erlangt dabei Purpose: Dieser »Sinn-Zweck« wird als richtungsweisende, sinnstiftende Vision klar und stabil gesetzt, ohne den Freiraum zu beschneiden, wie er erlangt werden kann. Da er nicht nur Wert, sondern auch Sinn stiftet, wirkt der Purpose nicht nur richtungsweisend, sondern motiviert Mitarbeitende intrinsisch und erlaubt starke Identifikation. An die Stelle von engen Regeln und starren Prozessen setzt agile Führung Frameworks und arbeitet mit Prinzipien. Rahmenwerke stecken dabei einen Freiraum ab, innerhalb dessen von den Mitarbeitenden autonom Sinn gestiftet und Wert geschöpft werden können. Prinzipien definieren einen klaren Spielraum für Verhalten, in dem jedoch ebenfalls auf die jeweilige individuelle Situation reagiert werden kann.

Selbstorganisation ermöglichen, um Komplexität zu beherrschen

Dem Ashbyschen Gesetz folgend kann man sagen: Je komplexer das Umfeld ist, desto komplexer muss die Steuerung gestaltet sein, um das Umfeld beherrschen zu können. In der VUCA-Situation wird das klassische Modell einer Hierarchie, deren oberste Führungsperson alle Entscheidungen trifft, problematisch. Der Fachexperte an der Spitze wird zum Flaschenhals; und das hierarchische Modell ist »zu einfach gestrickt« für die Komplexität der Situation. Zentrale Aufgabe agiler Führung ist es daher, selbstorganisierte Teams aufzubauen, die in autonomer Ausgestaltung eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können. In selbstorganisierten Teams erhöht sich die Varianz der Modalitäten von (temporärer) Führung, Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung enorm, womit gesteigerte Komplexitätsbeherrschung möglich wird. Gleichzeitig wirkt die Autonomie der Selbstorganisation intrinsisch motivierend. Es obliegt dabei der agilen Führungskraft, selbstorganisierte Team zu ermächtigen, zu befähigen und in Selbstverantwortung zu halten.

Ein kontinuierlich lernendes System schaffen

In einfachen und überschaubaren Umfeldern ist es bewährt, zuerst die Situation zu analysieren um anschließend auf Basis der Einschätzung in ein sinnvolles Handeln zu gehen. In der VUCA-Situation verliert dieses Vorgehen seine Wirkkraft, da Komplexität und Dynamik die Halbwertzeit von Analysen radikal verkürzen. Hier hat sich folgendes Vorgehen bewährt: Zuerst handeln und damit eine empirische Basis der Erfahrung schaffen, dann kurzzyklisch auswerten, welches Handeln sich bewährt (und welches nicht) und schließlich kontinuierlich lernend Handlungseffizienz und Wertstiftung optimieren. Selbst lernen und andere weiter bringen wird hierbei zum zentralen Erfolgsfaktor und Grundmotivator. Die Implementierung regelmäßiger Reviews (bezogen auf das Produkt/Konzept), Retrospektiven (bezogen auf die Art der Zusammenarbeit) sowie eine dauernde Identifikation von Hürden (Impediments) und klares (Leistungs- und Beziehungs-)Feedback sind zentrale Werkzeuge agiler Führung. All dies ist nicht möglich, ohne die Etablierung einer Lernkultur, in der jeder Fehler als wertvolle Lernchance angesehen und genutzt wird. Fail fast wird zu einem zentralen Leitspruch agiler Führungsarbeit.

Cultivating Leadership

In der klassisch-hierarchischen Organisation wird die Führungskraft als direkt gestaltender Treiber des Erfolgs gesehen, der seinen Führungsbereich maschinengleich optimal konfiguriert, einstellt, steuert und geschmiert hält. Die Leitmetapher für die agile Führungskraft dürfte im Gegensatz dazu der Gärtner sein, der ein lebendiges Ökosystem am Wachsen und Gedeihen hält. Agile Führung gestaltet das Umfeld, etabliert Rahmenbedingungen, schafft Hürden aus dem Weg, unterstützt den Eigenantrieb, fördert Synergien… und agiert damit vor allem indirekt. Sie ermächtigt und verpflichtet zur Selbstverantwortung, ohne die Mitarbeitenden allein zu lassen. Sie sorgt dafür, dass Mitarbeitende in Selbstsorge adäquat mit Belastung, Konflikt und Spannung umgehen können. Sie verhilft zur Selbsthilfe. In diesem Sinne ist agile Führung immer auch Kultur- und Entwicklungsarbeit.

Agile Transformationsarbeit

Was in den oben stehenden Absätzen für die agile Führung von Teams gilt, hat gleichermaßen Relevanz für die Führung ganzer Organisationen. Statt Organisationen mit einem eng gefassten und langfristigen Zielbild durch hierarchisch gesteuertes Change Management von A nach B zu verändern, hält agile Führung das eigene Unternehmen unter dem Leitstern eines klaren Purpose als lernende Organisation in dauernder Transformation. Wo früher strategische Themen in einem Top-Down Deployment ins Unternehmen getrieben wurden, lässt agile Führung sie in der VUCA-Situation idealiter aus der selbstorganisierten Kraft aller Mitarbeitenden emergieren; Geschäftsfelder werden co-kreativ geboren, im Kleinen getestet, dann iterativ weiterentwickelt und bei Erfolg sukzessive ins Große skaliert. Wie auch in der klassischen Organisation kommt der agile Führungskraft hierbei eine Vorbildfunktion zu: Wer agile Werte wie Commitment, Offenheit, Fokus, Mut und Respekt ins Unternehmen bringen möchte, muss sie zuallererst in die eigene Führungsarbeit integrieren und in seinem Verhalten lebendig machen.

Johannes Ries
Foto: Hanna Göhler

Nachbemerkung: Dieser Text entstand als erster Entwurf im Rahmen einer laufenden co-kreativen Initiative zum Thema Agile Leadership der Robert Bosch GmbH und der SYNNECTA. Über die Ergebnisse der Initiative werden wir in diesem Blog weiter berichten. Der Autor dankt den Mitgliedern des Co-Creation Teams Michael Knuth, Jörg Jockel, Dennis Heine und Martin Hurich sowie Christian Fust für die wertvollen Anregungen.

Mental Change? Agile Organisationen brauchen neue »Identitäten«

Betrachten wir das agile Dreieck (Methoden, Struktur, Kultur), dann bleibt der Aspekt kulturelle Veränderung einer der schwierigsten – was weder neu noch überraschend ist. Was wir Kultur nennen ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren, die sich über ein kausales Denken nicht erfassen lassen und so von den üblichen Methoden des Change Managements kaum zu beeinflussen sind. Kultur ist kein Ding, welches man verändert, es ist etwas, was wir leben, was wir durch uns selbst und das Zusammenspiel mit anderen zum Leben bringen.

Blickt man auf das Bild des Menschen, des Mitarbeitenden, das wir den agilen Arbeitsmethoden, dem Arbeiten und Leben in agilen Organisationen zu Grunde legen, dann ist es in der Regel ein Konstrukt über junge Menschen der Generation Y oder Z. Agile, demokratischere, Hierarchie reduzierte, selbstorganisierte Strukturen haben, wen sie gelingen sollen, viel mit den Lebenskonzepten von Individuen zu tun. Und es ist nicht verwunderlich, wenn man konstatieren muss: Diese »Identitäten« sind in Unternehmen heute selten. Man kann Identitäten nicht einfach austauschen oder eine neue Identität annehmen und doch erwarten wir von Mitarbeitenden genau dies zu tun. Und damit erleben wir, dass die so zukunftsweisenden Modelle der »neuen« Arbeit oft an den Menschen, die heute die Leistung in den Unternehmen erbringen, vorbeisehen.

Wir stehen vor der Herausforderung neue Identitäten für die modernen Organisationen zu entwickeln – eine Aufgabe, die nicht nur Unternehmen leisten können, sondern eine, die die sozialen Identitätskonstruktionen unserer Gesellschaft betreffen.

Identität ist eher ein kontinuierlicher Prozess, indem Menschen ihr Leben verstehen und gestalten – in psychologischer, sozialer, politischer und philosophischer Dimension. Das Verständnis von Arbeit und die Bedeutung von Arbeit für die Identitätsbildung ist dabei ein zentraler Aspekt, der alle Dimensionen durchzieht. Genau in diesen Prozess müssen wir eingreifen. Und das heißt, wir müssen uns auch um die Bedeutung von Status, von Aufstieg, von Lebenssinn, die durch die Arbeit in einer akzeptierten Struktur vermittelt wird, kümmern. Auch da wo Mitarbeitende heute Hierarchie abbauen wollen, der Gedanke einer lateralen Karriere passt nicht in ihre Identitätsbildung, da hängen sie an der Aussicht von hierarchischem Aufstieg und Statusgewinn.

Da Identität ein Prozess ist, eine Verhandlung zwischen Akteuren und von Akteuren mit Strukturen, lässt sich an einem für die neuen Organisationsformen passenden Identitätsprozess arbeiten – hier aber fällt die Grenze von Arbeitsidentität und gesellschaftlicher Identität – die Bedingungen hierfür sehe ich derzeit nur in den urbanen Lebensumständen.

Und es ist ein Prozess, was heißt, er durchläuft verschiedene Stadien. Sie umfassen Momente der Konfusion, des wertenden Vergleichs mit anderen, einer Toleranz für die neuen Formen des sich Ausprobierens, eine Akzeptanz der neuen Identitätsstufe, eine Entwicklung von Stolz und schließlich die Integration der »Arbeitsidentität« in das ganze Spektrum der personalen Identität. Es ist sinnvoll dies als eine Reise zu beschreiben, die dann leichter wird, wenn sie mit Partnern gemeinsam unternommen wird. Und es ist wohl notwendig, dass diese Prozesse begleitet werden. Dafür stehen neben dem individuellen Coaching vor allem Supervisionskonzepte für Gruppen zur Verfügung. Und sucht man nach einem Einstieg in diesen Prozess, dann ist es aussichtsreich auf das Thema Diversity und Inklusion zu schauen – eine Auseinandersetzung mit diesen Aspekten öffnet Menschen und lässt Offenheit auch für den eigenen Prozess der Identitätsbildung entstehen. Gleichwohl sollte man nicht überschätzen, was Unternehmen hier leisten können, die gesellschaftlichen Bedingungen und Wertungen sind hier dominant. Daher wird man wohl auch Menschen suchen müssen, die bereits auf dem Weg sind, eine andere Arbeitsidentität zu leben.

Rüdiger Müngersdorff

Raumhalter: Eine neue Rolle in der radikal selbstorganisierten Führungskräfteentwicklung

In der aktuellen Ausgabe der managerSeminare beschreibt Petra Martin in einem lebhaft-anschaulich gehaltenen Beitrag Aufbruch ins Unbekannte das Format eines agilen Führungskräfteentwicklungsprogramms bei Bosch Automotive Electronics, das radikal auf die Selbstorganisationskompetenz der teilnehmenden Führungskräfte setzt. In co-creativer Zusammenarbeit mit der Autorin (die gleichzeitig mutige und visionäre Auftraggeberin für das Projekt war) und der Geschäftsführerin der Kalapa Leadership Academy und großartigen Beraterkollegin Liane Stephan durfte ich das Programm von Grund auf mit konzipieren und in der Implementierung begleiten.

In diesem Beitrag möchte ich nicht den Ablauf des Programms beschreiben – hierfür lege ich jeder/m Leser_in eine Lektüre des oben erwähnten Artikels ans Herz. Vielmehr möchte ich kurz aus Trainersicht die wichtigsten Prinzipien herausheben, die es möglich machen, den Fokus auf die Teilnehmenden und die zwischen ihnen immer stärker werdende Kompetenz zur Selbstorganisation zu legen.

Die Prinzipien orientieren sich grundsätzlich an den von Dan Pink identifizierten intrinsischen Hauptmotivatoren: Purpose, Autonomy und Mastery. Auch in anderen Beratungskontexten arbeite ich wo immer möglich entlang dieser Prinzipien. Damit einher geht eine Veränderung meiner Rolle: Ich trete als organisierender, thematisch führender, (be)lehrender Trainer zurück; im Gegenzug befähige ich die Teilnehmenden zu Selbstorganisation, Selbstführung und selbstgesteuertem Lernen. Meine (nicht zu unterschätzende) Hauptfunktion wird dabei das Raumhalten. Ganz analog dazu hieß die Vision, die Petra Martin, Liane Stephan und ich ganz zu Beginn der Konzeptphase formulierten: »Wir möchten eine trainerlose Akademie schaffen!«

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich die Prinzipen wie folgt formulieren:

Sinn und Wert stiften

In der Veranstaltung soll nur das Platz finden, was aus Perspektive der Teilnehmenden Sinn und Wert stiftet. Was diesem Anspruch nicht gerecht wird, wird gar nicht erst angefangen oder abgebrochen. Die Frage nach dem zu stiftenden Sinn leitet die Veranstaltung ein, aus ihr heraus werden alle Themen abgeleitet. Das heißt, dass sich eine inhaltliche Vorbereitung im Vorfeld (im positiven wie herausfordernden Sinne) erledig. Die kontinuierliche Frage danach, ob die Teilnehmenden sinn-voll unterwegs sind und ihre Zeit wert-stiftend verbringen, erlaubt in der Veranstaltung zu priorisieren und konsequent Entscheidungen zu treffen.

Autonomie sichern und einfordern

Teilnehmende werden als radikal selbstverantwortlich positioniert und behandelt. Sie selbst entscheiden für sich, wo und wie sie in Entwicklung gehen möchten und wo nicht. Es steht ihnen jederzeit frei abzubrechen oder etwas anderes zu tun – sie tragen jedoch für die Konsequenzen die Verantwortung. Im von Petra Martin beschriebenen Programm war zum Beispiel eine der größten Herausforderungen, dass Teilnehmende uns Trainer_innen immer wieder »einluden« (mitunter auch energisch einforderten), etwa durch Themeninputs Führung zu übernehmen. Um die Autonomie des Lernprozesses zu sichern, mussten wir die Einladungen konsequent in die Selbstorganisation zurück delegieren.

Raum gestalten

Um die Autonomie des Selbstlernens möglich zu machen, muss ein Raum geschaffen werden, der gleichzeitig sicher und kreativ-ansprechend ist. Dies gilt im Hinblick auf die Gegebenheiten des Veranstaltungsorts; es gilt jedoch ebenso für Veranstaltungsformate, Methoden oder den Denkraum der Teilnehmenden. Modularisierte Frameworks, Tools und Arbeitsblätter, aus denen die Teilnehmenden je nach Situation, Neigung und Dynamik selbst auswählen und die sie sich selbst schnell aneignen können, erlauben Autonomie, ohne dass Chaos und Desorientierung entstehen.

Agile Architektur

Sprintlogik, Timeboxing, Review und Retro (wie ich sie in anderem Kontext in einem anderen Blogbeitrag beschrieben habe) sind die agilen Hauptinstrumente, über die aus dem Hintergrund gesteuert werden kann. Allein hier liegt der führende und ordnende Aspekt der Trainerrolle – zyklische Zeitdisziplin und kybernetisches Feedback sichern Freiraum und Weiterentwicklung ab.

Flow-Vertrauen und spannungsbasiertes Arbeiten

Mit die größte Herausforderung des Raumhaltens ist, auf die Dynamik der selbstorganisierten Gruppe zu vertrauen. Spannungen und Konflikte treten – alle Regeln der Teamdynamik bestätigend – mit hoher Wahrscheinlichkeit auf. Diese dann jedoch »nur« bewusst zu machen und die Verantwortung zur Bearbeitung der Spannungen und Lösung etwaiger Konflikte in die Gruppe zurück zu delegieren, produziert mitunter Aversion gegen Trainer_in oder Format. Hier Stand zu halten, geduldig zu spiegeln und zu befähigen zahlt sich jedoch nachhaltig aus. Es erlaubt den vielleicht größten Sprung für Gruppen in die Selbstorganisation. Wie es eine Teilnehmerin sagte: Gruppendynamik selbst zu erleben und Spannungen (von den Trainer_innen befähigt) selbst zu bearbeiten, erwies sich als vielfach wertvoller als alle zuvor gelernte Konfliktmanagementtheorie.

Vertrautes, vielfältiges Trainerteam

Sowohl in der Konzeption als auch in der Durchführung der Veranstaltung ist es essentiell, in einem Team zu arbeiten, das sich blind vertrauen kann, beziehungstechnisch gut reflektiert ist und mit Rollenbewusstsein und Führungsflexibilität ans Werk geht. Nur so sind die in selbstorganisierten Kontexten unumgänglich auftretenden Spannungen produktiv zu nutzen. Diversity-orientiert sollten die Kernexptertisen im Trainer_innenteam unterschiedlich verteilt sein; jedes Teammitglied sollte jedoch gleichzeitig ein Maß an generalistischen Moderations-, Mediations- und Coaching-Fähigkeiten teilen (sinnvolle Kombination von T-Profilen).

Johannes Ries

Empathie oder Compassion?

Es gibt einen guten Grund für die Business-Karriere des Begriffs Empathie: Während wir relativ zuversichtlich sind, dass die neuen, flacheren Hierarchien und eher selbstorganisierten Organisationsformen für die einzelnen Individuen Spiel- und Gestaltungsraum bieten, sehen wir zugleich, dass der von ihnen provozierte Individualismus noch kein adäquates Gegengewicht im Sinne einer Gemeinschaftorientierung gefunden hat.

Dieser Mangel wird spürbar in der Häufung konkreter Anfragen an uns, die immer nach größerem Zusammenhalt, Stärkung gegenseitiger Rücksicht, besserem Umgang mit Konflikten fragen. Auch die notwenigen »Retros« der agilen Arbeitsmethodiken werden fast immer im Sinne von Gemeinschaftsbildung angefragt – die sogenannten weichen Faktoren stehen im Vordergrund.

Ob die Treffen, Workshops nun als Retro, als Subversion, als Teambildung oder als Konfliktmoderation angefragt werden, es geht in ihnen um die Qualität der Gemeinschaft, um Zusammenhalt, um gemeinsames Verständnis dessen, was man will und soll. Es geht darum, den anderen mit zu berücksichtigen – in der Gruppe und in übergreifenden Zusammenhängen. Das Konzept Empathie folgt dabei dem Individualisierungstrend – es ist die Forderung an Individuen eine Fähigkeit zu entwickeln, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen und im eigenen Kalkül zu berücksichtigen.

Empathie als Werkzeug des besseren Verständnisses und recht oft als Befähigung zur besseren Manipulation greift für die Organisationsentwicklung zu kurz. Es geht hier um ein notwendiges Gegengewicht zur individuellen Performancesteigerung – es geht um die Bildung einer gemeinsamen Mitte, die Orientierung stiftet und individuelles Handeln an den Nutzen für die Gemeinschaft zurückbindet. Es geht um das Feuer der Mitte – und das braucht mehr als Empathie, es braucht Compassion – die emotionale Bereitschaft für andere zu handeln.

Rüdiger Müngersdorff