Werden wir müde?

Die anhaltende Pandemie erzwingt, was durchaus zu Recht »social distancing« und nicht nur Körperdistanz genannt wird. Wir beschränken uns, vermeiden soziale Kontakte oder verlagern ihn auf einen Bildschirm. Die Verlagerung des Kontaktes, der Kommunikation auf einen Bildschirm, war am Anfang relativ leicht, ja, war zum Teil belebend – ein Abenteuer. Abenteuer sind jedoch auf eine kurze Zeitspanne hin limitiert. Für uns dauert es nun schon Monate und wir können ein Ende nicht absehen. Wir leben derzeit von einem in der Vergangenheit angesammelten Beziehungspotential. Das hat uns getragen und trägt uns auch jetzt noch. Wie wichtig das angesammelte Beziehungspotential ist, merkt man, wenn man Praktikanten, Neueinsteigern zuhört, die nun ohne analogen Kontakt in ein Team, eine Gruppe sich einfügen sollen und wollen – ohne die in der Vorpandemiezeit angesammelten Beziehungen findet man sich kaum ein, man fällt in ein Beziehungsloch. Ohne einen angesammelten Beziehungsschatz wird es schwer, sich zu orientieren, Fuß zu fassen, dazuzugehören.

Die nun feststellbare Müdigkeit, die sich auch in Kurzangebundenheit, Aggression zeigen kann, ist ein Indiz dafür, dass wir schon den Boden im Topf unseres Beziehungskapitals sehen. Verständlich, dass gerade junge Menschen die Isolation durchbrechen und Gemeinschaft suchen. Im Sinne einer Pandemiebekämpfung eher dumm, im Sinne der Notwendigkeit, Gemeinschaft zu erleben – und die Raves sind vor allem auch körperliche Begegnung – eher klug.

Was tun wir in Unternehmen, in Organisationen, um in diesem Spagat sinnvoll zu handeln und beide Aspekte, Distanz und Nähe, in eine lebendige Form zu bringen? Das sich nun ausbildende »New Normal« kann nicht nur Homeoffice und remote working sein. Wir brauchen die Begegnung, den eher zufälligen Kontakt, den zweckfreien Austausch. Wir werden wohl hybride Modelle entwickeln müssen. Virtuelle Meetings, in denen sich nicht nur Einzelpersonen digital zusammenschalten, sondern sich kleine Gruppen, die analog zusammen sind, mit anderen kleinen Gruppen digital treffen. Dann findet, wenn auch reduziert, Gruppendynamik statt und damit auch direkte Begegnung von Menschen und nicht nur die Begegnung von Statements.

Wir werden auch Formen brauchen, in denen sich nicht nur wohl definierte Teams um Aufgaben herum bilden, sondern wir brauchen analoge und digitale Begegnungsräume, in denen Gespräche und Kontakte in einem Zwischen der Funktionen und Aufgaben stattfinden können. Das »New Normal« muss auch die Bedeutung der informellen Beziehungswelt gestalten – wobei diese kaum designed werden kann, denn sie lebt von der emotionalen Energie der einzelnen Individuen. Aber wir können dafür Orte, Räume und auch Zeiträume schaffen. Und wenn wir dafür Masken tragen müssen – na, das ist allemal besser als in nicht allzu großer Ferne in einen leeren Beziehungstopf blicken zu müssen.

Rüdiger Müngersdorff
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Kaizen? CIP? KVP? Waren das nicht Ideen aus dem letzten Jahrhundert?

In den Unternehmen begegnet man den Worten kaum noch. Sie sind Geschichte. Manches aus diesen Konzepten ist in die Produktionssysteme gewandert – im direkten Bereich waren die Vorgehensweisen der kontinuierlichen Verbesserung auch besonders erfolgreich. Im indirekten Bereich hatte es das Vorgehen immer schon schwerer. Aber selbst da, wo der Gedanke der kontinuierlichen Verbesserung in den Produktionssystemen verankert ist, geht ein wesentlicher Aspekt dieser Verbesserungsbewegung verloren. Immer mehr übernimmt eine Spezialistenbrille die Hoheit über die Verbesserungsanstrengungen – ein scheinbar objektiver, planender Blick von außen, gefüttert mit Daten und Algorithmen. Dies wird sich mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Einsatz von AI noch deutlich verstärken.

Verloren geht dabei das implizite Wissen der Menschen, die vor Ort arbeiten – ihre oft halbbewussten Einschätzungen, ihr praktisches Wissen. Es mag sein, dass wir, gefüttert von Daten, dieses Wissen nicht mehr benötigen – aber auch das ist zu bezweifeln. Was aber auf jeden Fall verloren geht, ist ein oft verborgener Aspekt des alten Kaizens: die Beteiligung, das Erlebnis von Selbstwirksamkeit, das Gemeinschaftserlebnis – gemeinschaftlich für das, was im eigenen Arbeitsumfeld geschieht, verantwortlich zu sein.

In der derzeitigen Umgestaltung der Arbeitsmethodik zu agilen Arbeitsformen ist der Verbesserungsgedanke im inkrementellen Vorgehen oft schon enthalten – die kleinteiligen Schrittfolgen, die Möglichkeit zu schnellen Korrekturschleifen sind gelebte Verbesserungsphilosophie. Allerdings mit einem blinden Fleck: sie sind immer zielbezogen, fokussiert. Der Charme der reifen Kaizenbewegung war es, durch die Arbeitsformen einer lebendigen Moderation und der Arbeit mit der Beziehungskraft in Gruppen einen schweifenden, offen suchenden Blick einzunehmen. Es gab eine Entlastung von der direkten Leistungsbezogenheit hin zu einer offenen Suchbewegung. In diesem Aspekt war Kaizen auch ein wesentlicher Innovationstreiber bezogen auf Arbeitsabläufe, Organisationsfragen und Unterstützungen von Prozessen durch die Möglichkeit Kultur- und Verhaltensfragen zu thematisieren.

Hinter der Kaizenidee lag stets auch ein kultureller Ansatz – es war die Beteiligungsphilosophie schlechthin. Hier konnten Planung, rationale Prozessgestaltung, der Wunsch nach Beteiligung und Selbstwirksamkeit zusammenkommen – Kaizen bildete Gemeinschaften. Ein Aspekt, der für uns wieder sehr wichtig werden könnte, wenn digitales Arbeiten und Homeoffice die impliziten, informellen Beziehungsebenen der Arbeit deutlich vermindern werden.

Rüdiger Müngersdorff
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Stadt, Unternehmen, Menschen

Wir (@Synnecta) haben die Stadt oft als Metapher für die Beschreibung von Unternehmen genutzt, z.B. im Konzept der Durchwegung. Oft haben wir dabei auf den informellen Untergrund von Stadt und Unternehmen verwiesen. Wir haben auf Jane Jacobs‘ wichtigen Satz über Städte hingewiesen, den wir in Konzepte der breiten Beteiligung in Unternehmen übersetzt haben.

»Cities have the capacity of providing something for everybody, only because and only when, they are created by everybody.«

Es ist diese offiziell kaum wahrgenommene informelle Schicht, die viel der Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit auch der Unternehmen bestimmt. Während viel über Strategien, Human Ressource Programme und Top-Down-Change-Projekte gesprochen wird, bleibt die informelle Schicht, die wesentlich die Lebendigkeit, Kreativität und Agilität bestimmt, ohne Worte. Es ist für uns ein wichtiger Teil der Arbeit – nur so kann sich Kultur verändern und entwickeln.

Ein Zitat aus @zeitonline über einen Artikel von Hanno Rauterberg erinnert uns wieder daran: Es reiche nicht, die Stadt weiter als Objekt zu behandeln, ausrechenbar und dem Willen der Planer unterworfen, schreibt Hanno Rauterberg. »Eine Stadt wird erst lebendig, wenn das Unbewusste, die Projektionen und Fantasien der Einzelnen ihren Raum haben.«

Rüdiger Müngersdorff
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Umwegige Aspekte der Prozessberatung

Gespräche mit Führungskräften enden oft mit der Aufforderung, manchmal der Bitte: Zeig uns den kürzesten Weg, die schnelle Problemlösung, die gerade Linie von A nach B – glatt, kurz, eindeutig. Dieser Wunsch passt in die Welt der klassischen Beratung, er ist für eine »Prozessberatung« oder salopper gesagt die weiche Beratung, die über Kultur, Mindset, Beziehung, Einstellungen und Verhalten spricht und arbeitet, unerfüllbar. Kurven, Umwege, Holzwege sind hier angemessenere Bilder über den zu gehenden Weg.

Kommen wir zurück zum kürzesten Weg, der geraden Strecke. Was wenn genau dieser Weg nichts anderes ist als ein »mehr desselben« – nun am Anfang mit noch mehr Enthusiasmus, mehr Kraftaufwand und dann doch oft im Gehen schwindender Begeisterung. Man endet eben zu oft im Selben, und die Probleme, Barrieren tauchen wieder auf. Nun hilft dasselbe ja oft, wenn denn die Welt dieselbe bliebe. Was aber hilft, wenn die Welt (der Markt, die Technologien, die Bedürfnisse, die Politik usw.) sich unvorhersehbar verändern, also ein dynamisch kontingentes System sind? Für das, was auf uns zukommt, haben wir oft noch keine Begriffe, es ist noch undefiniert.

Vieles unserer konkreten Arbeit in Workshops besteht in der Kreation eines atmosphärischen Wechsels, der Ermöglichung von Zögern, von Langsamkeit – der Erlaubnis und der Möglichkeit zur Offenheit, Umweglichkeit und Nachdenklichkeit. Unser Beitrag ist nicht Problemlösung, sondern die Ermöglichung von anderen, öffnenden Perspektiven, Spielräumen. Das geht nur mit der Haltung einer Zielverzögerung, einem Wechsel des Horizonts, in dem die Kommunikation stattfindet. Es bedeutet, dass Erzählung wichtiger ist als Begrifflichkeit, dass wir uns im noch nicht festgelegten miteinander bewegen, denn nur so erreichen wir den Grund von Kreativität. Wir gehen gemeinsam durch Unsicherheit, in der dann auch anderes sichtbar wird – andere Zugänge zum Thema, andere Möglichkeiten der Problemlösung, das Entdecken von Wegen, die im Dickicht unserer Begriffe verborgen waren.

Es liegen so viel an Möglichkeiten, Perspektiven und Lösungen in den Individuen verborgen – soziale Faktoren, wie die Tendenz zur Gruppenanpassung, und kulturelle Faktoren wie die bevorzugten Mindsets (Mentalitäten) von Organisationen versperren uns den Weg zu diesem Potential. Die erste Aufgabe einer Prozessberatung und einer ästhetisch orientierten Organisationsentwicklung besteht in der Gestaltung von Offenheit, die nur im Prozess von Zielverzögerung und dem öffnenden Angebot von differenten Horizonten möglich ist. Einer Welt, die sich in einem offenen Horizont bewegt, können wir selbst nur mit offenen Formen der Wirklichkeitsrepräsentation begegnen, erst hierdurch öffnen sich alternative Zugänge zu den gestellten Aufgaben. In der verzögerten, nachdenklichen Kommunikation wird tentatives Handeln möglich, welches schließlich in stringentes Handeln zu münden vermag.

Rüdiger Müngersdorff
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Kurze Wege, zufällige Begegnung, informelle Gespräche

Die soziale Infrastruktur informeller Beziehungen steigert die Leistungsfähigkeit von Individuen und Gruppen und ist ein wesentlicher Innovationsfaktor. Hans Blumenberg beschrieb das im Rückblick auf sein Arbeiten an Universitäten, Erfahrungen innerhalb einer kleinen Universität der Nähe in Kiel bis zu einer Großstadtuniversität in Bochum:

»Man ging nach nebenan, um sich ins Bild zu setzen, Instrumente und Quellen zu nutzen, die man selbst noch nicht hatte, Präparate und Versuche zu sehen, die Signifikanz von Daten abzusichern, Aufgaben abzugeben, für die man größere Kompetenz vermutet. Kurze Wege ersetzen Zwischenträger und Teilüberdeckungsfächer. An Großstadtuniversitäten haben oft schon die weiten Wege derartiges verhindert, noch ehe die Anstalten übergroß wurden und keiner mehr keinen kannte.«

 

(Zwischenfachlich – ein Provisorium UNF 3368/69) zitiert nach R.Zill Der absolute Leser, S.280

Die neuen Bürokonzepte mit ihren inszenierten Begegnungsräumen, der Chance zur zufälligen informellen Begegnung waren sich dessen sehr bewußt. Vieles, was ein Unternehmen bewegt, was Verbesserungspotential und auch Erneuerungspotential trägt, findet in der informellen Struktur statt, jenseits der Organigramme und definierten Prozesse.

In einer weiter fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt und der Ausdehnung von Home Office Arbeiten wird es darauf ankommen, die informelle Ebene des Arbeitens, der Kommunikation, der Anregung nicht zu verlieren. Eine Kaffeepause im virtuellen Meeting ist etwas sehr anderes als eine Kaffeepause im analogen Treffen. Als analoge Wesen brauchen wir analoge Begegnung.

Rüdiger Müngersdorff

Purpose? Purpose!

Auch wenn das Gespräch über »Purpose« in einer Zeit, in der Unternehmen existentiell gefährdet sind, in den Hintergrund tritt und damit der wirtschaftsimmanente Zweck der Werterhaltung, wenn schon nicht Wertsteigerung dominant wird, lohnt es sich dennoch einen genaueren Blick auf die Genealogie und den Zweck des Purposekonzeptes zu werfen.

Purpose soll ein Unternehmen haben, das heißt, von Unternehmen wird gefordert, unabhängig von einem unternehmensimmanenten Gewinnstreben eine Aufgabe, eine Mission zu haben, die über den Egoismus in der Vertretung von Eigeninteressen hinausreicht. Dieser übergeordnete Zweck wird als Schritt hin zur Gesellschaft und zu deren Bedürfnissen verstanden. In dieser Bewegung, dem Unternehmen einen über seinen eigenen Systeminteressen hinausgehenden übergeordneten Sinn zu geben, stehen zwei Aspekte im Vordergrund.

  1. Nach der Ablösung des die Motivationskonzepte bestimmenden Modells vom Mitarbeiter als einem Ego-Maximizer und der breiteren Sicht auf Lebensqualität, werden neue Bindungsformen und neue Performancetreiber gesucht. Die klassischen Karrierepfade und Incentives scheinen nicht mehr zu funktionieren, werden sogar, wenn man auf Performance sieht, als hinderlich gesehen. Hier wird das »Purposekonzept« als ein neues Motivations- und Bindungskonzept eingeführt. Es wird eine Einladung an die Mitarbeiter ausgesprochen, Teil einer »guten« Bewegung zu sein und sich dem der Gesellschaft dienenden Unternehmen anzuschließen und in ihm für den guten Zweck zu arbeiten.
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  3. In letzter Zeit hat sich der Druck auf die Unternehmen, ein guter, dem Gemeinwohl dienender Partner zu sein, deutlich erhöht. Der Verweis auf die »unsichtbare Hand« des Marktes, die individuellen Egoismus in kollektives Wohl verwandelt, hat viel an Glaubwürdigkeit verloren. Der Druck der Gesellschaft hat durch die Unterstützung der sozialen Medien Drohpotential gewonnen: Konsumverzicht, Anbieterwechsel etc. Es ist für die Unternehmen notwendig geworden, sich gesellschaftlich verantwortlich zu zeigen – sie erhalten das Recht zur eigenen Gewinnmaximierung nur im Gegenzug zu dem Versprechen, der besseren Zukunft der Gesellschaft zu dienen.

Die häufige Gleichsetzung von Sinn mit Purpose überhöht das Konzept. Purpose ist eher als Zweck, als Absicht, als Intention zu verstehen. Im wirtschaftlichen Kontext ist es eine von der Gemeinschaft des Unternehmens getragene Absicht, etwas zu erreichen. In unserem Kontext, etwas zum Wohl und der guten Entwicklung der Gesellschaft beizutragen.

Blickt man auf Purpose als Teil der Motivationskonzepte und der Anstrengungen, Mitarbeiter zu gewinnen, besonders auf die Gen Y und Z bezogen, dann geht es nicht mehr um die eine Absicht, den einen Purpose. Neben der inzwischen akzeptierten Notwendigkeit, dafür Sorge zu tragen, dass das Unternehmen als »gut« wahrgenommen werden soll, wird es bedeutsam, wie das Unternehmen, Räume und Kontexte schaffen kann, in denen Mitarbeiter ihre je eigenen individuellen Absichten, Zwecke, Missionen und Bestimmungen leben können. Der Unternehmenspurpose bildet ein Dach für die Räume, in denen Menschen in den Worten von Viktor Frankl Sinn finden können. (Viktor Frankl: »Sinn muss gefunden werden, kann nicht erzeugt werden.«)

Im Folgenden möchte ich mich etwas näher mit dem zweiten Punkt beschäftigen. Dabei ging es darum, dass das Purposekonzept einen Legitimierungszweck erfüllt. Unternehmen bestimmen sich darin als altruistische, nützliche und dem Gemeinwohl dienende Partner (DienerIn) der Gesellschaft.

Blickt man auf die Bestimmungen eines Purpose in den unterschiedlichen Industrien, so haben sie alle eins gemeinsam, sie bestimmen sich aus einer engagierten Zukunftsorientierung. Sie sehen sich einer Utopie verpflichtet, die das Versprechen einer besseren, lebenswerteren Welt in sich trägt. Dabei blenden sie die religiösen und politischen Fragen aus. Sie bauen mit beindruckenden Bildern die nur vage bestimmte Erwartung einer rettenden Zukunft auf. In ihr wird die Technikorientierung mit ihren Errungenschaften zum Heilsbringer.

Diese Orientierung an einer positiven, menschengemachten Zukunft stehen die Modelle entgegen, die teilweise in der Bewegung Fridays for Future ihren Ausdruck gefunden haben. Hier geht es um die Rückgewinnung einer guten Erde, die vor allem durch Verzicht und in der Hinwendung an die Natur erreicht werden sollen. Sie sehen die technisch orientierten Utopien der Unternehmen eher als Ausbeuter eines in sich guten und geschlossenen Lebensraums, eines Vernichters der guten und richtigen Balance eines gemeinschaftlichen Lebensraumes.

Neben apokalyptischen Tönen geht es hier dann um Verzicht, um Rückkehr zu etwas, was einmal gut gewesen ist. Es sind typische europäische Denkfiguren – die eine, die einen stetigen Fortschritt sieht und ihn durch das Handeln der Menschen gemacht versteht, und die andere, die einen Verfall sieht, einen Abstieg von einem guten, natürlichen und harmonischen Leben hin zu Degeneration und Abwendung vom Eigentlichen.

Die jungen Generationen, da wo sie sich öffentlich ausdrücken, stehen dem zweiten Konzept näher – sie sind fortschrittskritisch. Unternehmen haben auf diese Stimmen mit einer schnellen Ergänzung ihres Purpose geantwortet und sich selbst zur Erhaltung der Umwelt, der natürlichen Mitwelt verpflichtet. Allerdings tun sie das auch in ihrer Haltung, sie formulieren eine technische Aufgabe. Es ist zu bezweifeln, dass das die jungen Generationen überzeugt.

Es wäre wohl zuerst die gesellschaftliche Aufgabe, einen begründeten Glauben an die Verbesserung der Lebensverhältnisse allen Lebens durch technischen Fortschritt herzustellen. Hier haben Unternehmen als Träger des technischen Fortschritts eine eigene Aufgabe. Die unternehmerische Orientierung an einem übergreifenden Purpose, der höherwertiger als die systemimmanente Wertsteigerung ist, ist hierzu ein bedeutender Beitrag.

Allerdings ist der Verdacht nicht auszuräumen, dass der Zweck (Purpose) eines Unternehmens und damit sein gesellschaftlicher Nutzen, der als höherwertig zu bestimmen wäre, in Zeiten der Krise doch wieder nur zu einem Mittel, einem neuen Werkzeug zum Zwecke der Werterhaltung und Wertsteigerung des Unternehmens wird.

Rüdiger Müngersdorff