Im Jahr 2010 schrieb Georg Diezin der SZ Nr. 275:

»Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Jahrzehnt, das sich immerhin in Konturen abzeichnet. Ein neuer grüner Hedonismus, eine neue Technikeuophorie, eine Krise, die alte Hierarchien über den Haufen wirft und neue Konstellationen ermöglicht und Platz macht für neue Ideen.«

Und nun sind die Medien, die sozialen wie die offiziellen, voll von Vorschlägen, wie mit demokratischen Formen und Methoden die Krise der Hierarchie bewältigt werden kann. Ob dies mit den Systemzwecken von Unternehmen und ihrer Einbettung in den globalen Finanzmarkt in Übereinstimmung zu bringen ist, wird wenig gefragt. In den Vorschlägen zu einer Demokratisierung schwingt eine andere Hoffnung mit: die Hoffnung vieler, engagiert und selbstbestimmt arbeiten zu können.

Wenn diese Diskussionen in Unternehmen aufgenommen werden, dann aus zwei Fragestellungen: Was muss ich erstens tun, um einen Ort zu schaffen, der MitarbeiterInnen engagiert arbeiten lässt, und wie kann ich zweitens einen Kontext kreieren, in dem sie mir ihr Potenzial tatsächlich zur Verfügung stellen. Antworten auf beide Fragen führen zu einer anderen Realität von Führungsarbeit – im Kern wird gefragt: Wie kann ich Mitarbeitern Gehör verschaffen und wie können sie in einem Zusammenhang arbeiten, den sie als bedeutsam empfinden. Wäre beides verwirklicht, könnten mehr MitarbeiterInnen sich als selbstwirksam erleben – die psychologische Basis für motivierte, selbstbewusste Menschen.

Die derzeitige Dringlichkeit wird deutlich, wenn man sich mit den nahen und mittelfernen Zukunftsszenarien auseinandersetzt, die in Bezug auf eine unternehmensinterne Wahrnehmung mit dem Kürzel VUCA beschrieben wird (Jörg Müngersdorff: Neue Führung für eine neue Welt; Johannes Ries: VUCA).

Jörg Müngersdorff hat die mögliche Dramatik der Entwicklung in den unterschiedlichsten Themenfelder klar benannt und die entscheidende Frage gestellt: Sind Unternehmen darauf vorbereitet? Blickt man auf die regelmäßigen Messungen zur Motivation von Mitarbeitern in größeren und großen Unternehmen (70% bis 80% je nach Studie werden als unmotiviert beschrieben), muss die Antwort wohl nein heißen. Es sei denn, man glaubt, mit 30% Potenzial der Mitarbeiterschaft ließen sich die kommenden Herausforderungen bewältigen.

Aber ist Demokratisierung die Antwort? Allein ein Blick auf das Thema »Wir wählen unsere Führung« lässt die Befürchtung eines ständigen Wahlkampfes aufkommen. Dennoch: Die Demokratisierung findet längst statt. Plebiszitäre Formen wie die Mitarbeiterbefragungen, das 360° Feedback und Managementdialoge sind Schritte auf dem Weg zu einem demokratischer verfassten Unternehmen.

Wenn wir über die nächsten Schritte nachdenken, dann stehen zwei Themenfelder im Vordergrund, bevor man sich an das Experiment des »Wählens« von Führungskräften, strategischen Themen, Gehältern, etc. wagen kann.

Zunächst geht es um ein Aufbrechen hierarchischer Grenzen. Wir bilden Schichten in Unternehmen, die einen auf diese Schicht eingeengten Diskurs führen, der sich zu oft in gleichen Mustern wiederholt. Wir erleben derzeit, dass die unteren Schichten gegen diese Abgrenzung protestieren. Und es geht dabei nicht vor allem um Statusfragen oder das, was gemeinhin unter Neidfaktor subsumiert wird, es geht um die Wahrnehmung, dass die Führung zu weit weg ist von der Realität, dass ihr Bodenkontakt fehlt. Das gilt intern aber auch in Bezug auf die Entwicklung der Märkte. Das Aufbrechen dieser Abgrenzung lässt sich schnell und ohne Eingriffe in die Struktur realisieren. Man könnte es als ein wirklich Werden der verbreiteten Kamingespräche verstehen.

Die Führungstagungen, Managementmeetings, Strategiekreise und ähnliche Treffen werden anders besetzt. Die Hälfte der Teilnehmer werden von Mitarbeitern hineingesandt. Dabei ist es wichtig, dass lokale oder funktionale Einheiten, die kleiner als einhundert Mitarbeiter sind, Kollegen in diese Kreise wählen. Das wird immer nur ausgewählte, im Zeitverlauf wechselnde, Gruppen betreffen, aber es wird die Gespräche, die Auseinandersetzungen und die Themen in den klassischen Treffen nachhaltig verändern. Die hierarchischen Grenzen werden fließender, bottom-up Wissen dringt in die Meinungsbildung und Beteiligung (die Bedingung für Engagement und Motivation) wird ermöglicht. Dies sind sanfte Methoden der Demokratisierung, die zugleich die vertikale Kommunikation der Unternehmensführung nachhaltig verbessern. Wer dabei war, wird anders darüber sprechen.

Das zweite Themenfeld betrifft eine der Grundlagen demokratischer Orientierung, der Aufbau einer kritischen internen Medienlandschaft. Unternehmen müssen den Weg aus einer gelenkten, an Imagebroschüren orientierten internen Presse aufgeben. Die kritische Gegenöffentlichkeit ist eine der Bedingungen für funktionierende Beteiligung und für die Verantwortlichen eine wichtige Informationsquelle über das, was gedacht, wahrgenommen und gefühlt wird. Die eingeführten internen sozialen Plattformen sind hier ein Eingangstor für das Üben und Probieren im Umgang mit einer kritischen Gegenöffentlichkeit.

Es ist sichtbar, das klassische Procedere, eine Führungskraft aus der Hierarchie zu bestimmen, hat nicht mehr die volle Legitimierungskraft, die dem Verfahren früher zukam. Heute gibt es einen zweiten Bestimmungsprozes: Meine Mitarbeiter müssen mich nach der Besetzung aktiv wählen. Das macht uns dialogpflichtig. Und verlangt die so oft angesprochenen sozialen Kompetenzen. In einem Unternehmen, dem es gelungen ist vertikale Beteiligungsmodelle einzuführen, und das mit den Mitarbeitern tatsächlich im Gespräch ist, ist es erheblich einfacher, soziale Kompetenz zu erwerben. In solchen Unternehmen arbeiten die Menschen gemeinsam an einem Zweck, wissen um die Bedeutung dessen, was sie tun und können erleben, dass ihr Beitrag wertvoll ist.

Und zur Erinnerung: Warum das alles? Weil wir mehr als 20% oder 30% engagierte MitarbeiterInnen benötigen, wenn wir den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wollen.

Rüdiger Müngersdorff