Bewährtes wirksam und Neues möglich machen.
(Langjähriger Claim der SYNNECTA)

Organisationale Ambidexterität. Mit diesem etwas sperrigen Wort haben in den 1970er Jahren Robert Duncan, in den 1990er Jahren James March und vor kurzem einige weitere Autoren eine zentrale Zukunftskompetenz von Organisationen bezeichnet. Das Wort Ambidexterität stammt von lateinisch ambo (beide) und dexter (rechte Hand) und bezeichnet die Fähigkeit, mit beiden Händen gleich gut hantieren zu können. In den Unternehmenskontext übertragen sind ambidexterische Organisationen gleichzeitig effizient und flexibel bzw. anpassungsfähig. Sie können sowohl das Bestehende maximal ausnutzen (exploitation) als auch Neues erkunden (exploration).

Bisher habe ich mich in meinen Blog-Beiträgen vor allem auf den Pol der Anpassungsfähigkeit und das Explorationspotenzial von Unternehmen in einer von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) gezeichneten Situation konzentriert, auf der Suche nach adäquaten Verhaltensweisen eines VUCA-Handlings, zum Beispiel in den Bereichen Strategie, Organisation, Zusammenarbeit oder Führung. Ich bin auch weiterhin überzeugt, dass Unternehmen in Zukunft immer stärker mit VUCA konfrontiert sein werden und damit die exploration immer wichtiger werden wird. Gleichzeitig meine ich damit jedoch nicht, dass die exploitation aus den Augen zu verlieren sei. Unternehmen werden weiterhin auch zu guten Teilen in von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) geprägten Umfeldern agieren. Und in der SSEE-Situation ist es sinnvoll, in anderer Art und Weise zu agieren, als in der VUCA-Situation.

Um den richten Ansatz wählen zu können, ist es zunächst wichtig zu wissen, in welcher Situation man sich denn überhaupt befindet. Die nach Ralph Stacey benannte Stacey-Matrix kann hier hilfreich sein: Stacey korreliert die Ausprägung der Einigkeit über den Weg (agreement) und den Grad der Sicherheit des Weges (certainty). Sind sich etwa alle Beteiligtenim Unternehmen einig, welcher Weg gegangen werden soll, und ist auch klar, wie man diesen Weg zu gehen hat, so befindet sich die Organisation in einer einfachen Situation, in der es Sinn macht, auf erprobte Standards zurückzugreifen, diese einem engen Monitoring zu unterwerfen und kontinuierlich zu verbessern.

Anders verhält sich die Situation, wenn Uneinigkeit über den Weg herrscht – etwa aufgrund einer hohen Diversität unter den Stakeholdern. Wenn dann zusätzlich noch der Weg zur Erreichung der Ziele zunehmend unsicher wird – etwa wenn nicht genügend Informationen vorliegen oder zielführende Technologien erst entwickelt werden müssen – so gerät die Organisation immer mehr in eine komplexe Situation (steigen Uneinigkeit und Unsicherheit beide ins Maximale, so wird das Umfeld sogar chaotisch). In der komplexen Situation helfen Standards nur wenig. Hier ist es sinnvoller, durch offene Formen der Zusammenarbeit Wege »auszuhandeln« sowie Kreativität und Innovation zu fördern.

Ähnlich unterscheidet der Waliser Dave Snowden in seinem Cynefin Framework vier unterschiedliche »Lebensbereiche« von Organisationen: einfache und komplizierte Bereiche sind übersichtlich genug, um hier aus best bzw. good practices klar abzuleiten, was zu tun ist. Hingegen steigt die Unklarheit in komplexen und noch mehr in chaotischen Bereichen so stark an, dass hier nur noch emergent bzw. novel practices helfen. Der Unterschied zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Bereichen liegt in folgendem Vorgehen: In einfachen und komplizierten Bereichen nehme ich wahr, was passiert, kategorisiere bzw. analysiere dann die wahrgenommene Wirklichkeit und gestalte an den Ergebnissen orientiert meine Reaktion. In komplexen und chaotischen Bereichen hingegen beginne ich mit dem Testen bzw. Agieren. Erst danach nehme ich wahr, was passiert ist und gestalte dann daran orientiert meinen nächsten Schritt der Reaktion.

Sowohl die Stacey-Matrix als auch der Cynefin Framework können in Unternehmen sehr hilfreich sein, um die aktuelle Situation etwa einer Projektlandschaft zu identifizieren. In Workshops habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, mit den Teilnehmenden die einzelnen (Teil-)Projekte an Pinnwänden der Stacey-Matrix oder den vier Cynefin-Feldern zuzuordnen. Danach kann meist besser entschieden werden, welches Vorgehen sich für das jeweilige (Teil-)Projekt am besten eignet.

Denn in einfachen und komplizierten Bereichen bietet es sich an, in exploitation Effizienzen durch Standardisierung zu heben, da die notwenige Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) gegeben ist. Hier machen Effizienzprogramme, etwa aus dem Lean-Umfeld, Sinn. In komplexen Bereichen hingegen, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) geprägt sind, eignet sich am besten die exploration agiler Arbeitsweisen.

Ich möchte hier nicht ins Detail der Lean- bzw. agilen Ansätze gehen, sie jedoch kurz in Abgrenzung zueinander skizzieren. Aus der Automobilindustrie stammend und auf Serienfertigung und Massenproduktion fokussiert, versucht der Lean-Ansatz ein schlankes Unternehmen zu schaffen, das durch optimierte Prozesse und kontinuierliche Verbesserung so kostengünstig wie möglich und in bester Qualität mit schnellster Durchlaufzeit produziert. Zur Hebung von Effizienzen werden dabei kontinuierlich sogenannte Verschwendungen identifiziert und ausgemerzt. Eine wichtige Rolle spielt die Standardisierung, durch welche Veränderungen reduziert werden sollen und volle Prozesssicherheit generiert werden soll. Gleichzeitig herrscht im Unternehmen idealiter volle Transparenz über alle Kennzahlen.

Im Gegensatz dazu stammen agile Ansätze vor allem aus dem IT-Umfeld zur Generierung von Einzelprodukten (die anschließend »geklont« werden können). In iterativer Vorgehensweise entsteht unter starker Einbindung des Kunden das Produkt als kontinuierliches Inkrement Schritt für Schritt, von der ersten, rudimentär funktionierenden Rohversion bis hin zur finalen Fassung. Dabei erhält das agile Vorgehen volle Flexibilität, vor allem, um in Reaktion auf geänderte Rahmenbedingungen Veränderungen am Produkt schnell und kostengünstig umsetzen zu können. In kurzen Zyklen wird nach Arbeitsphasen (oft Sprints genannt) regelmäßig offenes Feedback eingeholt, um nicht zu lange in eine falsche Richtung zu laufen, sondern sich frühzeitig anpassen zu können.

Meiner Erfahrung nach kämpfen agile Ansätze in Unternehmen oft (unbegründet) gegen eine Fama des Chaos und der Anarchie – sie werden jedoch meist nicht als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegensatz dazu fürchtet bei Ankündigung eines neuen Lean-Projekts oft jeder zweite Mitarbeiter um seinen Arbeitsplatz oder geht zumindest davon aus, dass nun »härtere Zeiten« anbrechen. Die Schaffung von Transparenz wird nicht selten als Zunahme an totalitärer Kontrolle erlebt. Dies ist insofern nicht unbegründet, als in Europa viele Lean-Projekte tatsächlich nicht dem Mindset der ursprünglichen, aus Asien stammenden Lean-Philosophie verpflichtet zu sein scheinen: Oft handelt es sich bei Lean-Programmen in europäischen Unternehmen tatsächlich um squeezeouts, nach denen der Gürtel enger geschnallt werden muss. Und nicht selten werden diese mit Hilfe von mit Stoppuhr bewaffneten Beratern von außen initiiert und dann unter starker Nutzung von hierarchischer Autorität von oben nach unten in die Organisation »geprügelt«.

Derart implementierte Lean-Programme geraten dann in einen signifikanten Widerstreit zu agilen Ansätzen: Agiles Arbeiten auf Druck von oben ist nicht möglich. Zu sehr ist Selbstorganisation im Team und Pirate Leadership zentrale Grundbedingung für agiles Arbeiten: Denn nur so kann (dem Ashbyschen Gesetz folgend) die externe Komplexität des Umfelds organisationsintern hinreichend abgebildet werden, um die Steuerungshoheit zu behaupten.

Ich komme zurück auf die eingangs vorgestellte organisationale Ambidexterität: Simultan lean und agil agieren zu können erlaubt einem Unternehmen tatsächlich die Beidhändigkeit von exploitation und exploration. In der heutigen, eben kurz angerissenen Anwendung von Lean-Ansätzen liegt jedoch in vielen Unternehmen eine massive Barriere für die Realisierung von Ambidexterität: Anstatt die Vorteile der Beidhändigkeit zu realisieren, etablieren Unternehmen vielfach ungewollt eine Janusköpfigkeit und sprechen mit gespaltener Zunge. Wenn von Mitarbeitern auf der einen Seite verlangt wird, sich selbst zu organisieren, hierarchiefrei zu kommunizieren und kreativ zu denken (um exploration und Agilität zu realisieren), gleichzeitig jedoch mit harter Hand Effizienzprogramme in die Organisation gedrückt werden (und exploitation nur im wahrlich negativen Wortsinn betrieben wird), so treten in der gleichen Organisation zwei fundamental gegensätzlich gelagerte Führungsdiskurse in Konkurrenz. Dieser Widerstreit kann dann nicht zu Ambidexterität führen, sondern generiert einem organisationskulturellen double bind, der die Mitarbeiter verunsichert und die Organisation lähmt.

Der Janusköpfigkeit kann jedoch vorgebeugt werden, wenn sich Unternehmen bei der Durchführung von Lean-Projekten auf die Denkhaltung fokussieren, die der asiatischen Lean-Philosophie ursprünglich zugrunde liegt. In ihr findet im schlanken Unternehmen ein tatsächliches Empowerment der Mitarbeiter statt. Diesen wird in großem Umfang Eigenverantwortung zur Hebung der Effizienzpotenziale übertragen. Ihre Teamarbeit steht stark im Vordergrund und Führungskräfte verstehen sich als Unterstützer und Dienstleister der Mitarbeiter. Die geschaffene Transparenzkultur wird dann nicht als Bedrohung erlebt (da sie kein Kontrollinstrument autoritärer Führung ist), sondern dient gepaart mit offenem Feedback in einer gesunden Fehlerkultur tatsächlich der ständigen Verbesserung. All dies ist dann kompatibel mit agilen Ansätzen.

Mit dieser Geisteshaltung zeigen Lean- und agile Ansätze in einem Unternehmen beide das gleiche, wertschätzende und kalkulierbare Gesicht der Führung. Sie sprechen nur mit einer Zunge eine eindeutige Sprache der verlässlichen Organisationskultur. Innerhalb dieser können Mitarbeiter dann mit beiden Händen kraftvoll zupackend sowohl die SSEE-Welt effizient bewirtschaften, als auch die VUCA-Welt erfolgreich erschließen.

Johannes Ries