Tischrunde: Von Bingo zur Vielfalt

Diese Person: hat 3 Kinder, ist nicht hetero, spricht drei oder mehr Sprachen, hat schon mal im Ausland gelebt, ist jünger als ich, hat nicht studiert, kann Golf spielen, lebt alleine, ist Führungskraft von über 100 MitarbeiterInnen.

Bingo spielen wir nicht mit Zahlen, sondern mit Beschreibungen. Eine Beschreibung, die »auf den ersten Blick« auf eine andere Person im Raum zutrifft. Ich gehe auf die Person zu und frage sie, ob meine Annahme wirklich stimmt. Meine Bilder im Kopf über andere. Die Beschreibungen werden zu Zuschreibungen. Manche Fragen sind unverfänglich, einige kritisch und manche sind echte Tabuthemen. Was ist schwieriger: fragen oder gefragt zu werden?

In der SYNNECTA Tischrunde »Wachsende Vielfalt – von Barrieren zur Ressource. HR als Initiator für mehr Diversity Awareness« am 21. April 2016 in Köln kommen Menschen zusammen, die in der HR, PE, OE kleiner und großer Organisationen tätig sind. Von eigenen Erfahrungsberichten, über Role-Model-Funktion der HR Abteilungen, zu harten Fakten der Strategie: wir diskutieren Faktoren eines umfassenden Diversity Managements und was wir als SYNNECTA in diesem Feld beraterisch anbieten.

In unserer Rolle als BeraterInnen richten wir den Blick auf Organisationsstrukturen, und auf die Handlung von Menschen, wir fragen nach dem Warum und Wie. Diversity Management ist Teil von OE/Change Management, es erfordert ein Umdenken, ein Erneuern von Prozessen und individuellem Verhalten. Weil Vielfalt so vielfältig ist, widmen wir uns drei Diversity-Kategorien: Alter, sexuelle Orientierung, kulturelle Herkunft.

Wie können Unternehmen mit der demographischen Entwicklung umgehen? Was bedeutet eigentlich alter(n)sgerechte Führung? Wie können Unternehmen mögliche Benachteiligungen aufgrund des Alters bereits in ihrer Personalplanung entgegenwirken? Wertvollen Input gibt uns die Gastreferentin Dr. Anna-Maria Aldorf zu Alter und Demographie.

Zur Kategorie der sexuellen Orientierung, ein großes Tabuthema in deutschen Unternehmen, geben Magnus Anschütz und Julia Steding bedeutende Gedankenanstöße. Als ReferentInnen unseres Kooperationspartners anyway e.V. (SchLAu-Team) machen sie deutlich, dass sexuelle Orientierung wesentlicher Teil menschlicher Identität ist: Wer das volle Potential der Menschen nutzen möchte, muss die Kategorie der sexuellen Orientierung integrieren und mitdenken.

A.Krishna, Financial Director of Bosch RBEI India, zuvor in leitender HR Funktion in Indien, inspiriert mit seinen Erfahrungen aus inter-/transkulturellen Arbeits- und Lebenswelten in Indien und Deutschland. Wie passen Globalisierung und local habits zusammen? Wie lassen sich koloniale Denkweisen und Arbeitsstrukturen aufbrechen und neue, gerechte globale Arbeitswelten schaffen? Wie funktioniert kultursensible Leadership und was kann HR beitragen, damit Herkunft und Kultur keinen Grund zur Diskriminierung darstellt, sondern als Bereicherung wahrgenommen und genutzt wird?

Diese Tischrunde zeigt einmal mehr, dass es in der OE um die persönlichen Erfahrungen von Menschen geht. Als Beratung stellen wir essentielle, teilweise unbequemen Fragen, holen Menschen aus der Komfortzone heraus, jedoch immer die »Sicherheit« aller im Blick. Beim Diversity Management können keine Standardlösungen aufgefahren, sondern zusammen mit den Menschen die Bedarfe im Kontext der Unternehmenziele analysiert werden. Unser Diversity Management-Start beginnt auf Ebene des menschlichen Bewusstseins. Prozesse und Struktur wie bspw. Bewerbungsverfahren können angepasst werden. Zwar sind für einen HRler diese Elemente ein wichtiges Hilfsmittel, er oder sie muss aber insbesondere sensibel interagieren (eigene Sozialkompetenz und Diversity Awareness) und geschult (Wissen) sein. Im Personalgespräch oder Job-Interview ist es die Aufgabe der HRlerIn, diversitykompetent zu sein und Entscheidungen entlang der Diversity-Strategie des Unternehmens zu treffen. Die individuelle Verantwortung und Eigenverantwortung (free radicals) von staff und leader kommen im Anschluss zum Tragen.

Es ist deutlich, diversity ist ein sensibles Thema, Vermeidung ist eine klassische Form des Umgangs mit Unterschieden. Dies vermeidet Konflikte. Zugleich wird klar, Vermeidung bedeutet, die Reduzierung von Leistungspotential und es vermindert das Engagement von Mitarbeitern. Deshalb, sensibles Vorgehen, ja – aber wer etwas bewegen will muss sich auch der Auseinandersetzung stellen und sich aus den Schaufensteransätzen herauswagen. Wirkliche Agilität wird es ohne diversity nicht geben.

Die Produktion eines »diversity tree« mit bunten Fingerabdrücken aus Wasserfarben macht noch keine neue Unternehmensstrategie. Sie bildet die Individualität ab, die im Raum ist, Symbol für das gemeinsame Wachsen an solchen Tischrunden-Tagen, für die Verästelung von Meinungen, Erfahrungen, Inhalten, Interessen, und zugleich für den »menschlichen Stamm«, der uns alle verbindet.

Eine Frage wird noch diskutiert: Ist es sinnvoll und notwendig, am CSD teilzunehmen, auch wenn ich selber dieses Event eigentlich gerne meiden würde? Überzeugen Sie sich selbst im Juli 2016 und nehmen Sie am Kölner SYNNECTA Sommerseminar »Diversity und sexuelle Identitäten« teil.

Hanna Göhler

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Wichtig ist, dass man um dich herum freundlich redet. Dann geht vieles.

Altern ist ein Thema, das in der Literatur bisher noch lange nicht ausreichend beschrieben ist, besonders wenn man bedenkt, dass es, zumindest in den westlichen Gesellschaften, in Zukunft sehr viel mehr alte als junge Menschen geben wird. Mit »Der alte König in seinem Exil« hat Arno Geiger jetzt ein Werk vorgelegt, das diesem schwierigen Thema mehr als gerecht wird. Es handelt sich dabei nicht um einen Roman: Geiger erzählt, wie sein eigener Vater an Alzheimer erkrankt ist. Zuerst erkennen die Angehörigen die Anzeichen nicht und reagieren mit Ungeduld und Wut, wenn der Vater sich scheinbar unvernünftig und unlogisch verhält:

Während wir Kinder die Zeichen missdeuteten, muss das Gefühl, mit dem er selber die Veränderungen an sich wahrnahm, qualvoll gewesen sein, die bohrende Angst, dass etwas Feindliches sich seiner bemächtigte, gegen das er sich nicht wehren konnte. Dazu geäußert hat er sich nie, das verhinderte seine Verschlossenheit, seine Unfähigkeit, Gefühle mitzuteilen. Das lag nicht in seinem Charakter, er hatte es nie getan, und jetzt war es zu spät, damit anzufangen.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Vater kurz vor Ausbruch der Krankheit von seiner fünfzehn Jahre jüngeren Frau verlassen wurde. Während die Krankheit fortschreitet, bemüht sich Geiger, noch so viel wie möglich über seinen Vater herauszufinden, bevor er ihm ganz entgleitet. Im Verlauf der Krankheit bildet sich zwischen dem Erzähler und seinem Vater eine neue Art von Freundschaft, durch die Geiger der Krankheit auch etwas Positives abgewinnen kann.

Sein Vater und er hatten sich längst voneinander entfremdet, einerseits weil sie aus völlig verschiedenen Generationen kommen – der Vater hatte noch den Krieg erlebt und strebte Zeit seines Lebens nach Sicherheit und Geborgenheit – und andererseits durch ganz gewöhnliche Generationenkonflikte und Familienstreitigkeiten. Durch die Krankheit finden der Erzähler und sein Vater auf einer anderen Ebene wieder zusammen, während der Erzähler lernt, dass die Welt der Demenz nach eigenen Regeln funktioniert.

Anstatt auf den Fakten der Wirklichkeit zu beharren, passt er sich in der Kommunikation mit dem Vater dessen Lebenswelt an, weil es wichtiger ist, dem Vater ein gutes Gefühl zu geben als den Maßstäben der Normalität treu zu bleiben. Der Vater will zum Beispiel immer nach Hause, obwohl er bereits zu Hause ist, was er aber nicht mehr erkennt. Zum einen ist das Teil des Krankheitsbilds, zum anderen wollte der Vater aufgrund seiner Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft nie gerne von zu Hause weg, nicht einmal in den Urlaub.

Nach einiger Zeit versucht der Erzähler nicht mehr, seinem Vater zu erklären oder zu beweisen, dass er bereits in seinem Zuhause ist, sondern verspricht ihm, dass sie sich gleich auf den Weg nach Hause machen, bis der Vater darüber ruhig wird und den Wunsch vergisst. Eine andere Art von Verständnis stellt sich ein: Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles.

Geiger entdeckt in den Äußerungen und Wortneuschöpfungen seines Vaters, die der alltäglichen Logik enthoben sind, eine besondere Poetik und Kreativität. Sogar dem Altersheim kann er eine positive Seite abgewinnen: Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind. Oder: Ein Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas Befreiendes. Geiger lässt aber auch andere Angehörige zu Wort kommen, die mit der Situation nicht so gut zurecht kommen, und schildert auch unschöne Erlebnisse, zum Beispiel Ausbrüche von Gewalttätigkeit.

Geiger erzählt auf eine sehr zurückhaltende Art, die gerade dadurch umso berührender und verstörender wirkt. Man spürt ein unterdrücktes Entsetzen vor den Schrecken dieser Krankheit, eine gewisse Hilflosigkeit und den Versuch, das Unausweichliche tapfer zu akzeptieren. Faszinierend sind auch Geigers Beobachtungen, wie sein Vater seine Persönlichkeit bewahrt, obwohl er vieles aus seinem Leben vergisst und seine Angehörigen teilweise nicht mehr erkennt, und wie eine neue Schönheit und Würde in seinem Leben entsteht.

Er schließt seine Erzählung über den Vater mit den Worten: Es heißt: Wer lange genug wartet, kann König werden.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Deutsch | Hanser 2011 | 192 Seiten

Sabine Anders