Vor 100 Jahren brach der Forscher Sir Ernest Shackleton auf, als Erster den antarktischen Kontinent zu durchqueren. Obwohl ihm das nicht gelang – sein Schiff blieb im Eis stecken, wurde zermalmt und sank – ist er ausgerechnet für diese Expedition heute immer noch weltberühmt. Hauptsächlich, weil ihm dabei das denkbar Unwahrscheinliche gelang: alle seine Männer aus dieser aussichtslosen Situation herauszumanövrieren und wieder lebend zurückzubringen.

Seit dem Untergang von Shackletons Schiff mit dem passenden Namen »Endurance« haben sich einige Abenteurer und Forscher auf die Spuren des Briten begeben, darunter auch im Winter 2015/2016 eine Reisegruppe um die Hamburger Tina Uebel und Nikolaus Hansen. Nun sind sie und ihre Mitstreiter weder die Ersten noch die Einzigen mit diesem Ansinnen gewesen und sie haben auch – anders als etwa Arved Fuchs – zu keiner Zeit einer Grenzerfahrung zuliebe versucht, die historischen Bedingungen von vor einem Jahrhundert zu imitieren. Im Gegenteil: Immer wieder betonen sie die Unterschiede im Hinblick auf Komfort, Technik und purem Übermut versus nacktem Überlebenskampf. Wozu also, fragt man sich, haben sie die trotz allem heute immer noch gefährliche Reise per Segelschiff ins Weddellmeer und zu Fuß durch Südgeorgien unternommen? Und warum sollte man ihren Bericht darüber, genannt »Die S.E.A.-Expedition«, lesen?

Angetrieben hat sie zum einen die Sehnsucht nach menschenleeren, noch möglichst wenig betretenen Orten, nach einem wenigstens vorübergehenden Ausbruch aus der Zivilisation, das Bedürfnis, der Natur näher zu sein und sich selbst näherzukommen, indem man ihren Gefahren trotzt. Zum anderen war es aber auch schiere Bewunderung für Sir Ernest Shackleton (S.E.A. steht für Sir Ernest Anniversary) und seine Crew, für ihre übermenschlichen Leistungen im ewigen Eis, Shackletons Optimismus und seine Qualitäten als Anführer.

Im Zeitalter der Wettläufe zu den Polen, in dem schon Sir Ernest mit dem Problem konfrontiert war, was er überhaupt noch als Erster vollbringen konnte, bewies er die Größe, sein Ziel aufzugeben, abzubrechen und Leben zu retten, anstatt ewigen Ruhm im Tod zu suchen. Und genau die Bewunderung ist es, die das Buch lesenswert macht – auf alle Fälle für Shackleton-Fans. Es ist eine Hommage, die berührt und ergreift, aber dank Sprachwitz nie ins Sentimentale abdriftet. Uebel und Hansen wollen ihre Reise vor allem als Ehrerbietung gegenüber ihrem historischen Vorbild verstanden wissen: »Ist man endgültig tot«, fragt Tina Uebel, »wenn 100 Jahre später noch Hamburger Heiopeis über einen edwardianischen Briten derart obsessieren, dass sie als Talisman sein Familienmotto um den Hals tragen? Es ist ja schon bemerkenswert, wie der Boss seine Kameraden dazu brachte, an sich zu glauben und ihren antarktischen Obsessionen zu folgen. Wie man den Stunt auch noch 93 Jahre nach seinem Tod bringen kann, ist frappierend.«

Die Sprache, mit der die Autoren ihre Erlebnisse schildern, steckt mit ihrer Begeisterung an – für Shackleton, für die überwältigende Landschaft, für die Mitreisenden, die teilweise Bergsteiger ohne Segelerfahrung sind. Es wird nachvollziehbar, was für eine Persönlichkeit Shackleton war und wieso seine Männer ihm so gerne folgten, dass sie, noch während sie in Lebensgefahr schwebten, zustimmten, bei seiner nächsten Expedition wieder mit von der Partie zu sein. Man versteht im Lauf der Lektüre, warum Tina Uebel sich ein Foto von Shackleton auf den Schreibtisch gestellt hat: »Sicher aber bin ich mir«, erklärt sie, »dass Shackleton mich nicht halb so faszinieren würde, hätte er nicht diese tragikomische Lebensunfähigkeit in der zivilisierten, bürgerlichen Welt an den Tag gelegt.«

Das Buch stellt eine Nähe zu Shackleton her, die nicht auf den Parallelen des Erlebten basiert – obwohl die Autoren hier amüsante Gemeinsamkeiten, etwa in der Geldbeschaffung, feststellen – sondern auf Ähnlichkeit in der Motivation, Sehnsucht nach dem Unbekannten und einem Gefühl der Begeisterung.

Und so ist das Buch eine gelungene Meditation über Fragen wie: Was zählt in der heutigen Zeit noch als Heldentat? Was macht Freiheit und Verantwortung übernehmen aus? Passt der Mensch besser in die Zivilisation oder die Wildnis? Wie genießt man den Augenblick? Warum wird etwas irrelevant, sobald man es erreicht hat? Welche Umstände bringen das Beste im Menschen hervor anstatt das Schlechteste? Schließlich hätte eine Unternehmung wie Shackletons mit anderen Teilnehmern leicht auch in Kannibalismus statt in Heldentaten enden können.

Tina Uebel, Nikolaus Hansen: Die S.E.A.-Expedition. Eine antarktische Reise auf Shackletons Spuren
Malik 2016 | 352 Seiten

Sabine Anders