Die Gruppe schwieg. Sie blieb still, obwohl die einladende Führungskraft versuchte, eine optimistische und aufbauende Botschaft zu senden. Fragen würden ignoriert oder die Antworten waren vage und irrelevant. In kleineren Gruppen wurden die Gespräche ein wenig lebhafter und doch gab es keine klaren Aussagen, die das für eine Gruppe im Arbeitsumfeld sehr ungewöhnliche Verhalten hätten erklären können. Ich saß vor dem, was von einer Gruppe, einer Organisation nach einem gescheiterten agilen Experiment übrig geblieben war: Schweigen, Enttäuschung, Trauer, Zerwürfnis. Was war hier schiefgegangen?

Es war nicht einfach die Führungskraft, die man als Verursacher hätte betrachten können. Er hatte ein sehr klares Verständnis von agilen Methoden, agilen Organisationsformen und er zeigte deutlich, dass er seine Position, sein Verhalten reflektiert hatte und es auch weiterhin tat. Dennoch hatte er ein paar soziale und psychische Dynamiken seines Experiments unterschätzt.

Später am Tag konnten wir ein paar Gründe für den Zustand dessen, was von einer Organisationseinheit geblieben war, besprechen. Es führte nicht aus der tiefen Enttäuschung und dem Verlust an Vertrauen in sich selbst und in das Unternehmen, aber es half zu einer realistischeren Einschätzung. Was waren die nicht förderlichen Umstände, also das Lernpotenzial?

1. Es wurden brilliante Menschen mit guter Ausbildung, hohem Engagement und leidenschaftlich verfolgten Ideen eingestellt. Sie sollten anders sein als die Mehrheit der Mitarbeiter in diesem globalen, sehr gut organisierten Unternehmen. Es wurde ihnen ein Ort versprochen, an dem sie ihre Ideen verfolgen könnten, ihre Herzensprojekte umsetzen könnten. Der Anfang war enthusiastisch, Teams entwickelten sich, die Arbeit war hoch befriedigend. Dann aber griff die Organisation mit ihren eigenen strategischen Vorstellungen ein. Sie entsprachen oft nicht den Träumen, den Hoffnungen der eingestellten Menschen. Einigen Projekten wurde die Finanzierung genommen – logisch und sinnvoll aus der Sicht des Unternehmens, ein brutaler Stopp einer doch aussichtsreichen, neuen Idee, mit deren Realisierung man in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht hatte. Die Mitarbeiter_innen konnten, wollten den Begründungen nicht folgen, bezweifelten auch die ökonomischen Bedenken. Sie wurden in andere Projekte, andere Anfänge verschoben – was sie einst mit einem so tiefen Sinn erfüllt hatte, war weg. Nun fanden sie sich in einer genauso freien und selbstorganisierten Struktur wieder, aber sie hatte nicht den Inhalt, nicht die emotionale Attraktion. Andere verließen schon an diesem Punkt das Unternehmen. In unserem Workshop war die Trauer über die verlorenen Projekte zu spüren, sie lag schwer über allem. Doch es wurde darüber nicht gesprochen, es war so etwas wie ein von allen gewusstes Geheimnis. In Organisationsformen, die so vom Engagement, von der Leidenschaft der Teilnehmer bestimmt ist, sind Abschiednehmen, sind Trauerrituale notwendig, sollen die Menschen wieder frei für Neues, für eine neue Begeisterung werden. Und es ist schwierig in einem Umfeld abhängiger Beschäftigung für eine Produktidee zu brennen, es ist wohl aussichtsreicher mit Menschen zu arbeiten, die sich für Problemstellungen, für Kunden, für Möglichkeiten engagieren wollen.

2. Wie in den Lehrbüchern beschrieben bestimmten sie einen Scrum-Master, einen ebenfalls brillianten jungen Mann, lebendig, fluide Intelligenz, der Abschlüsse mehrerer Spitzenuniversitäten vorlegen konnte. Er war gut, doch konnte nicht aufhören der Beste der Besten zu sein und er konnte sich nicht zurückhalten, in jedem Thema mit seinem Wissen, seinen Ideen, Teil der inhaltlichen Arbeit zu sein. Er versuchte, recht dogmatisch, die Regeln zu vermitteln und forderte die Disziplin ein. Was fehlte, war soziale Kompetenz, ein beherrschter Narzissmus und ein Verständnis für die Aufgabe und Rolle eines methodischen und sozialen Begleiters. Er war der Falsche für diese Aufgabe. Soziale Kompetenz erlernt man eher selten an Spitzenuniversitäten.

3. Ohne tieferes Verständnis für die Dynamiken einer agilen, selbstorganisierten Struktur wurden die Menschen in einen agilen Arbeitskontext positioniert. Ihr eigener psychologischer Vertrag mit dem Unternehmen beinhaltet jedoch viele nicht agile Elemente: So das Verständnis, mit dem Eintritt in das Unternehmen Teil eines Systems geworden zu sein, welches fürsorglich einen sicheren Ort bereitstellt und so von den Sorgen der unsicheren Zukunft entlastete. Sie waren in eine Sicherheitszone eingetreten, die ihnen eine lange Karriere versprach. Sie erwarteten alle Freiheiten und zugleich eine Führungskraft, die die Richtung vorgab, die die Last der Entscheidung übernahm und in Konfliktfällen Lösungen herbeiführte. Was sie bekamen, war eine generelle, strategische Ausrichtung, einen Diskussionspartner und jemanden, der sich darum kümmerte, dass die Zusammenarbeit mit der Gesamtorganisation funktionierte, aber sie bekamen keine Entscheidungen, wenn es Inhalte ihres Themas, ihres Projekts betraf. Schon das war eine Überforderung. Völlig überfordernd war es dann, als beschlossen wurde, dass die Feedbackgespräche nun in den Gruppen selbst geführt werden sollten. Da niemand in dem System über gruppendynamische Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, eskalierten Situationen und/oder es legte sich ein lähmendes Schweigen über das System.

4. Während des Beginnens wurden alle Zweifel, Widersprüche und Unsicherheiten von der eigenen Begeisterung für das eigene Thema kompensiert. Mit der Zeit und dem Verlust von Projekten, der Notwendigkeit, Träume als Illusionen zu erkennen, kamen Fragen auf, Fragen nach der eigenen Zukunft, nach der Sicherheit, wenn die Begeisterung nicht mehr trägt. Waren Karriere, Sicherheiten, Belohnungen am Anfang irrelevant, so nahmen sie jetzt mehr und mehr Raum ein. Nun wurden Fragen nach der Zukunft, dem Karriereweg wichtig. Und es ging um Aufstieg – die Idee von lateralen Karrieren löste nur Enttäuschung aus. Ein Unternehmen, das keine nach oben führende Karriere anbieten konnte, wurde unattraktiv.

Nach langen Perioden des Schweigens konnten wir die Bruchstücke der Schmerzen und Enttäuschungen zusammenfügen und zumindest einen höheren Grad von Wahrhaftigkeit etablieren. Es wurden Szenarien für einen Neustart entworfen und es öffnete sich für Einige die Chance noch einmal, nun mit mehr Verständnis, in eine agile Welt einzutauchen. Für Andere stellte es die Klarheit her, zu wissen, dass agile Selbstorganisation kein Platz für sie ist. Und einige verlassen die Organisation – Headhunter warten schon. Die gewonnene Klarheit machte es den Einzeln möglich, Entscheidungen zu treffen und so den Weg frei zu machen, das Gelernte und Erfahrene in einem neuen Versuch umzusetzen.

Klarheit und Wahrhaftigkeit über eine agile Organisation sollten von Anfang an deutlich vermittelt werden, es sollte verstanden sein, dass ohne eine hohe soziale Kompetenz der Beteiligten diese Reise kaum gelingen wird. Die Position eines Agile Culture Coaches sollte selbstverständlich sein. Und wir sollten uns eingestehen, dass wir noch wenige Ideen haben, wie wir Menschen in solchen Organisationsformen Zukunftswege aufzeigen können, die das Modell einer vertikalen Karriere attraktiv herausfordern.

Rüdiger Müngersdorff