Blickt jemand in den Sternenhimmel, so mag er erhabene Ruhe und Größe sehen oder Sphärenmusik hören – es sind Weisen in den Himmel zu schauen und zu hören –, Bilder, die wir uns machen. Heinrich Hertz hat als Hardcore-Naturwissenschaftler bemerkt, dass wir uns Bilder von etwas machen, die nur die Orientierung haben, mehr oder weniger unser Erklärungsbedürfnis zu stillen und unsere Handlungsoptionen zu erhöhen. Mit Hertz ist die zweierlei Weltsicht – »The world is fact and matter« oder »The world is words and stories« – so aufgelöst, dass jede Erkenntnis, jedes Bild von Wirklichkeit nur ein mögliches ist und so lange gilt, als es Nutzen stiftet und nicht als falsch gezeigt werden kann. Es sind Bilder, die unsere Erfahrungen mit der Welt bezeichnen und ordnen. Die ändern sich, wenn andere Perspektiven leistungsfähiger zu sein scheinen.

In der Organisationsentwicklung stehen wir vor einem solchen Bildwechsel – und alle Bildwechsel haben immer einen großen Einfluss auf das, was von uns im Verhalten, im Handeln gefordert wird. Wie lässt sich dieser Bildwechsel beschreiben?

Es gab eine erste, sehr wirksame Dichotomie in der Beschreibung von Unternehmen – sie begann mit nur einem Wort: wertschöpfend. Über Nacht veränderte sich das Denken – plötzlich waren bedeutsame Funktionen nicht mehr wertschöpfend und ihr Wert bestand darin, wertschöpfende Bereiche zu unterstützen. Eine Umwertung – mit der zugleich das Lean-Denken Einzug hielt. Generationen von Managern lernten, dass Reduzierung von Aufwand und konsequentes Effizienzdenken die Kunst des Managements seien. Kosten und deren Reduzierung, Entwicklung immer schlankerer Prozesse und deren Reproduktion waren das tägliche Brot der Führung. So entstand ein »Bild« von Führung und exzellenter Organisation. Es hat uns einen beispiellosen Wettlauf um das Kostengünstigste eingebracht.

Wir erleben eine neue Dichotomie – sie lässt sich mit dem Begriffspaar Agilität und Exzellenz (der Euphemismus für ein radikales Leankonzept) beschreiben. Sie trennt die Organisation in zwei distinktiv unterschiedliche Unternehmungen, eine Ausbringungs- oder Supply Chain Organisation und auf der anderen Seite die dann als agil beschriebene, in kleineren Einheiten agierende, marktnahe mit Innovationen, Produkt- und Geschäftsmodellen beschäftigte Organisation. Man kann den Grund für diese zweite Dichotomie im Digitalisierungsschub sehen, in einem reversen Globalisierungsschub, im Übergang zu einer Wissensgesellschaft – wir sehen es mehr als Reaktion auf die Erwartung von nicht linearen Ereignissen, gegenüber denen auch Smart Data blind sind, in einem etwas modischeren Wort: in Disruptiviät. Auf diese drängend werdende Erwartung, dass etwas Unvorhergesehenes eintritt und das Spiel neu bestimmt, reagieren Unternehmen mit der Zielsetzung selbst, die Quelle der Disruptivität zu sein – also innovativ oder wenigstes hoch adaptiv zu sein, also agil.

Dieses Ziel lässt sich mit der hierarchisch ebenenreich gestaffelten Organisation und mit der klassischen europäisch-amerikanischen Planungs- und Strategielogik nicht erreichen. Es besteht die Notwendigkeit inkrementelle Arbeits- und Planungsformen einzuführen, eher mit Visionsräumen zu arbeiten und neben Kosten- und Ertragszielen auch Verschwendungsziele zu setzen. Am deutlichsten wird der Unterschied der zweiten Dichotomie in der Bedeutung des Fehlers. Er war und er ist in der Ausbringungsorganisation ein Planungs- und Prozessfehler, eine Unterbrechung des wohl Kontrollierten, und es gilt, ihn unmittelbar und für immer zu beseitigen.

In der agilen Organisation ist der Fehler eine Leiter, die zu Neuem führen kann oder notwendiger Teil des flexiblen Ausprobierens, das zu neuem Lernen führt. Im Fehler verstehen wir. So wird für die agile Organisation das Spielen wieder zu einem Leitbegriff und kann dabei auf die Gedanken der Klassik zurückgreifen, z.B. auf Friedrich Schiller, der bemerkte, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, also im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, wenn er spielt. Diese »andere« Art und Logik des Arbeitens gilt aber nur dort, wo das Ereignis droht oder erhofft wird – in der Ausbringungsorganisation gilt weiter die bewährte Planungs-, Prozess- und Standardisierungslogik.

Wir stürzen uns als Organisationsentwickler auf das Neue, die zweite Seite der Dichotomie, wobei wir manchmal vernachlässigen, dass die erste Seite der Dichotomie, das Alte, die Basis ist und bleibt. Psychologisch erleben wir eine ähnliche Reaktion, wie wir sie bei der ersten Dichotomie – der Unterscheidung wertschöpfend oder nicht wertschöpfend – erlebt haben: das Gefühl der Entwertung auf der einen Seite und kraftvoller, euphorischer Narzissmus auf der anderen Seite.

Was heißt das für uns? Auch wir müssen unsere Unterstützungsangebote der Dichotomie anpassen. Was benötigt die Ausbringungsorganisation psychologisch, motivatorisch …? Es wird nicht möglich sein, die für den Erfolg wesentlichen Organisationseinheiten in eine Kultur umzuwandeln, die der von Amazon Warehouses oder der von Apples Foxcom Organisation entspricht. Es wird auch in einem radikalen Leankonzept nötig sein, den Kopf und das Herz der Menschen zu gewinnen – das gilt umso mehr, als wir mit Industrie 4.0 einen deutlich höheren Ausbildungsgrad der Mitarbeiter verlangen. Neben flexiblen Bildungskonzepten, wie sie in Kombinationen mit Blended-Learning-Ansätzen zur Verfügung stehen, halten wir eine kraftvolle Wiederbelebung des Kaizen für eine Notwendigkeit – denn hier geht und ging es ja nicht zuvörderst um das eingebrachte Sparpotenzial, sondern um die motivierende, Verantwortungsübernahme anregende Kraft dieser Ansätze. Selbstwirksamkeit muss auch an diesen hoch standardisierten Arbeitsplätzen eine Möglichkeit sein. Es wäre ein großer Fehler, unter den Gesichtspunkt der Effizienz den menschlichen Faktor in der Ausbringungsorganisation zu unterschätzen.

Die Aufmerksamkeit und das Geld fließen derzeit aber vor allem in die agilen Organisationsteile – hier floriert neben dem Methodentraining (Scrum/Designthinking …) vor allem das Ausprobieren neuer Organisationsformen. Vielfältige Fragen, wie denn eine selbstorganisierte Einheit geführt werden kann usw., werden behandelt, und es werden Unterstützungsangebote für die Teams und relativ selbständigen Einheiten, wie z.B. der »Agile Coach«, entwickelt. Wir erleben, dass das Arbeiten in solchen relativ freien Teams sehr bereichernd und lustvoll sein kann, aber es ist in seiner Sozialdynamik auch anstrengend und manchmal bedrohlich, denn es geht auch viel von dem Schutzcharakter von Führung verloren. Es florieren Begleitungsangebote und es wird sichtbar, dass es mit dem einmaligen Teamtraining nicht getan ist. Gruppendynamik ist dynamisch und in ihrem Verlauf irrational – so denken wir über interne und externe dauerhafte Begleitung nach – auch hier kann Blended Learning ein zusätzliches Unterstützungselement sein.

Zugleich wirft eine agile Arbeitsform eine Menge organisatorischer Fragen auf – sie beschränkten sich anfangs auf den Übergang von einem Projektteam zu einem agilen Team. Inzwischen gilt es, die ganze Organisation zu betrachten – Hierarchieebenen werden überflüssig, eine ganze Menge an Fragen der Kontrolle und Transparenz sind weiter ungeklärt – es gibt also vielfältige Unruhe. Es geht darum, die Verantwortung und die Handlungsfreiheit an die Ränder der Organisation zu verlagern und eine Organisation so eher als in der Breite ausgedehnt zu betrachten anstatt in die Höhe der Pyramide.

Wir beginnen gerade zu lernen, wie solche Organisationen funktionieren und geführt werden. Zudem erwarten wir, dass Organisationsteile an das Unternehmen andocken werden, die nicht im klassischen Sinne Teil des Unternehmens sind, was die Aufgabe der Führung noch komplizierter macht. Reicht es auf charismatische Führer zu verweisen – die ja politisch derzeit en vogue sind, oder bedarf es einer tieferen Neubestimmung des Führungsverhaltens, wie es in Bruchstücken mit den Konzepten der transformationellen Führung abstrakt vorliegt?

Wir greifen einen Aspekt heraus: Agilität – als Beschreibung einer flexibel, schnell, ideenreich und verantwortungsübernehmend handelnden Organisation – wird nur möglich sein, wenn das Unternehmen Diversität der eigenen Mitarbeiter lebt – was heißt, die Unterschiede nicht normativ zu verwischen, sondern sich mit dieser »Andersheit«, der Differenz, stetig auseinanderzusetzen. Nur so erfüllt sie eine der großen Hoffnungen, die mit einer agilen Organisation verbunden sind: die Tendenzen, Erwartungen, Bewegungen der Gesellschaft innerhalb der eigenen Organisation abbilden und verstehen zu können – also dem Zielzustand eines innovativen und hoch adaptiven Unternehmens zu entsprechen.

Unterschätzt wird die Auswirkung auf die sogenannten Governance- und Serviceeinheiten der Unternehmen. Sie werden zukünftig eine Plattform anbieten müssen, an die unterschiedlichste Einheiten mit unterschiedlichsten Unterstützungsbedürfnissen andocken können. Hier ist ein Ort der Excellence, der die eigenen Leistungen den agilen Einheiten zur Verfügung stellt. Diese Einheiten müssen sich von der dauernden Diskussion, nicht genügend Durchsetzungsmacht zu haben, lösen und sich hin zu einem Anbieter von entlastenden, ebenfalls flexiblen Lösungen entwickeln.

Und zuletzt verweist uns eine Organisation, die sich selbst stetig vorläuft, um sein zu können, was sie wird sein müssen, auf den Platz, die das »Unternehmen« in Gesellschaften einnimmt. Menschen stellen Sinnfragen, Menschen möchten in einem Kontext leben, der das Gewissen nicht belastet. Wir sind hier zu vielerlei Selbsttäuschung in der Lage, aber der Anspruch bleibt: Mein Unternehmen soll ein guter Ort sein – und er ist es in einer agilen Welt nicht nur innerhalb der Grenzen des Unternehmens, sondern in seiner vielfältigen Verbundenheit mit Gesellschaften.

Unternehmen werden daher kaum umhinkommen, sich immer wieder die Fragen zu stellen: Warum eigentlich duldet die Gesellschaft unser Gewinnstreben? Was ist es, was wir geben, dass uns das Recht zu einem egoistischen Gewinnstreben gegeben wird? Pharmakonzerne, die Geld in die Entwicklung von Medikamenten für Kinder stecken, wissen, dass dies nicht das große Geschäft sein wird, aber sie können sich entscheiden, genau dies zu tun, weil sie eine, wohl in der Wahl freie, aber im Ganzen unbedingte Pflicht haben, dem Ganzen zu nutzen. Und blicken wir in die Welt, sind dann die großen Konzerne nicht einer der wenigen Orte, an denen globale Fragen verhandelt werden? Oder wann haben Sie zuletzt in den Nachrichten von der UNO gehört?

Rüdiger Müngersdorff