Sprintworkshop: eine agile Alternative zum klassischen Teamworkshop

Die sich ausbreitende Sensibilität für Agilität in Unternehmen eröffnet ein neues Spielfeld, in welchem Experimente gewagt werden dürfen. In diesem Blogbeitrag möchte ich das Format eines Sprintworkshops vorstellen, das aus einem solchen Experiment entstanden ist und mit dem ich in mehreren Projekten gute Erfahrungen gemacht habe.

Den ersten Prototypen entwickelte ich bereits vor einigen Jahren aus einer gewissen Frustration heraus: Eine Veranstaltung mit 50 hochrangigen Führungskräften zum Thema Agilität war in die Sackgasse geraten. Statt der Bearbeitung relevanter Themen hatten nur Scheindiskussionen stattgefunden, die jede tiefe Reflexion verhindert hatten. Eine Taktik des Dauerkommentars hatte jegliche Maßnahmenbildung unmöglich gemacht. Auch ein kontinuierliches Spiegeln der wirkenden destruktiven Muster in die Gruppe hinein hatte keine Effekte generiert. Irgendwie hatten wir es dann doch noch einigermaßen fertiggebracht, den Workshop zu einem Minimalziel zu bringen. Aber die Frustration war sowohl auf Seiten der Teilnehmenden als beim Moderator groß.

Gemeinsam mit einer mutigen Auftraggeberin kam ich im Nachgang zu dem Schluss, dass wir – um mit dieser Gruppe Wert und Wirksamkeit stiften zu können – im nächsten Workshop die Muster komplett brechen mussten. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte ich das im Folgenden beschriebene Format eines Sprintworkshops. Dieses Format half nicht nur, die oben geschilderte Gruppe in eine produktive Diskussion relevanter Themen zu bringen und sie greifbare und greifende Maßnahmen entwickeln zu lassen; es bewährte sich auch in der Umsetzung mit mehreren anderen Großgruppen und in anderen Kontexten. Heute setze ich dieses Format vielfach ein, um agile Prinzipien in der konkreten Arbeit an drängenden und komplexen Themen erlebbar und wirksam zu machen.

Das Format versucht zum einen, die drei von Dan Pink prominent beschriebenen Hauptmotivatoren des Menschen anzutriggern: Es setzt auf Purpose, Autonomy und Mastery. Zum anderen nimmt es die Vorzüge einer Scrum- bzw. Sprintlogik in Dienst, kombiniert mit supervisorischen Rollen und kontinuierlichem Feedback. Es setzt dabei folgendes Framework:

1. Erstellung eines Themenbacklogs (90 min)
Die Teilnehmenden werden in kleine Teams von ca. sechs Personen aufgeteilt. Gemeinsam sammeln sie in einem ersten Schritt unter einer geeigneten Leitfrage die Herausforderungen bzw. Hürden der aktuellen Situation. Anschließend schreiben sie aus Perspektive entsprechender Stakeholder- bzw. Zielgruppen (mit Hilfe von Templates) User Stories zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderung bzw. Beseitigung der Hürde.

Im Falle eines Workshops mit Führungskräften könnten User Stories zum Beispiel wie folgt klingen:

  • »Als MitarbeiterIn möchte von meiner Führungskraft regelmäßig über die Ziele orientiert werden, damit ich für mich gut planen kann.«
  • »Als KollegIn möchte ich von anderen Führungskräften maximal unterstützt werden, um die mir zugeordneten komplexen Ziele wirklich erfüllen zu können.«
  • »Als Vorgesetzte(r) möchte ich von der mir unterstellten Führungskraft frühzeitig über Probleme informiert werden, damit ich mich sicher fühle.«

Alle aus der Diskussion abgeleiteten User Stories werden dann im Plenum vorgestellt. Im nächsten Schritt werden sie in eine priorisierte Reihenfolge gebracht. Hierzu bietet sich eine einfache Schwarmbewertung an: Jede(r) Teilnehmende erhält die gleiche Anzahl von Punkten und kann sie auf die User Stories verteilen. Letztere werden dann entsprechend der Punkte von oben nach unten im Themenbacklog sortiert.

2. Sprinteinheiten (je 90 min)
Ist das Themenbacklog fertiggestellt, geht es in den Sprintmodus. Die Teilnehmenden werden in cross-funktional/divers zusammengesetzte Sprintteams (fünf bis sieben Personen) aufgeteilt, deren Aufgabe es nun ist, die Backlogthemen von oben nach unten zu bearbeiten. Ziel ist es, aus den User Stories konkrete Maßnahmen abzuleiten und deren Umsetzung konzeptionell abzusichern.

2.1. Arbeitsphase (45 min)
In der Arbeitsphase jedes Sprints »zieht« sich jedes Sprintteam jeweils das oberste Thema und arbeitet an der Erstellung eines Maßnahmenprototyps, der auf einer Pinnwand präsentiert werden soll. Es hat sich hier bewährt, Canvas-Poster zur Verfügung zu stellen, die über Leitfragen einen groben Orientierungsrahmen setzen, von den Teams jedoch in selbstorganisierten Brainstorming-, Diskussions- und Ableitungsphasen unmoderiert befüllt werden. Ziel ist es, dass jedes Sprintteam den Maßnahmenprototyp an der Pinnwand jeweils so aufbereitet, dass er quasi selbsterklärend präsentiert werden kann. Befindet das Sprintteam eine User Story als zufriedenstellend in Maßnahmen übersetzt, »zieht« es sich die nächste, oberste User Story vom Backlog und startet sofort deren Bearbeitung. Zu Beginn jeder Arbeitsphase bestimmt jedes Sprintteam aus der eigenen Mitte einen stillen Beobachter. Dieser hat die Aufgabe, das Team in der Arbeitsphase supervisorisch zu beobachten, um später Feedback geben zu können.

2.2. Review-Marktplatz (15 min)
Nach der Arbeitsphase findet in Marktplatzlogik ein Review der Maßnahmenprotoypen statt. Hierzu bleibt jeweils ein Vertreter des Sprintteams als Repräsentant an der Pinnwand des Sprintteams stehen; die anderen schwärmen aus, um sich die Prototypen der anderen Sprintteams anzusehen bzw. vorstellen zu lassen und zum jeweiligen Arbeitsstand Feedback zu geben. Der Repräsentant des Sprintteams sammelt dieses Feedback, sodass sein Sprintteam den Maßnahmenprototypen im nächsten Sprint gegebenenfalls optimieren kann.

2.3. Sprintteam-Retrospektive (15 min)
Anschließend trifft sich jedes Sprintteam wieder im eigenen Kreis. Der Beobachter teilt der Gruppe innerhalb von fünf Minuten seine Beobachtungen mit, adressiert wahrgenommene Hürden und macht Verbesserungsvorschläge für den nächsten Sprint. In den nächsten fünf Minuten melden alle Sprintteammitglieder kurz zurück, wie sie die allgemeine Zusammenarbeit in der Arbeitsphase wahrgenommen haben. Die letzten fünf Minuten der Retrospektive werden dazu genutzt, dass sich die Sprintteammitglieder in einem 1:1-Dialog jeweils gegenseitig kurz rückmelden, wie sie den jeweils anderen in seinem Einzelverhalten in der Arbeitsphase wahrgenommen haben.

2.4. Pause (15 min)
Bevor der nächste Sprint beginnt, wird eine Pause eingelegt.

Der nächste Sprint läuft wie der erste ab. Hat das Sprintteam von den anderen Teilnehmenden die Rückmeldung erhalten, dass der Maßnahmenprototyp noch nicht zufriedenstellend ist, wird an diesem weitergearbeitet. Ist dieser von der Gesamtgruppe für gut befunden, holt sich das Sprintteam das nächste Thema. Es wählt einen neuen Beobachter aus und startet in die selbstorganisierte Themenbearbeitung…

3. Schlussplenum (60 min)
In einer letzten Runde werden die fertigen Maßnahmen noch einmal kurz vorgestellt und – so kein Veto geäußert wird – gemeinsam verabschiedet. Der Sprintworkshop endet mit einer finalen Feedbackrunde, in welcher individuelle Erfahrungen mit dem Format vergemeinschaftet und gegebenenfalls Schlussfolgerungen für eine folgende Veranstaltung gezogen werden.

Ein so gestalteter Sprintworkshop kann an einem Tag mit insgesamt vier Sprints bereits hohe Wirksamkeit erzielen. Werden anderthalb oder gar zwei Tage in diesem Format gestaltet, kann eine beachtliche Anzahl an Maßnahmen mit hoher Umsetzungswahrscheinlichkeit generiert werden. Je nach Zielgruppe, Themenfokus und Dauer des Workshops können die Maßnahmentemplates, Leitfragen und Sprintlängen individuell angepasst sowie Zwischenplena oder Gesamtretrospektiven eingezogen werden. Der vorgestellt Gesamtframework des Formats hat sich jedoch in dieser Form in mehreren Projekten als tragfähig und überaus produktiv erwiesen. Das Feedback der Teilnehmenden thematisiert immer wieder das eigene Erstaunen, wie zielfokussiert und produktiv das Format wirkt; gleichzeitig melden viele Teilnehmende zurück, dass sie aus dem eigenen Erleben von Sprintlogik, Retrospektiven und Feedback einen wertvollen Zugang zum Thema Agilität erhalten hätten.

Johannes Ries

Warum Agilität und Diversity zusammengehören, Teil 2

Bevor wir verrückt werden

Menschen mit agilem und dynamischen Mindset sind in der Lage, schnell und flexibel zu reagieren. Sie sind offen gegenüber anderen Menschen und neuen Ideen. Sie sind überzeugt, dass Veränderungen möglich und nützlich sind, und warten nicht auf den nächsten Befehl von oben, sondern handeln intrinsisch und proaktiv. Herzlichen Glückwunsch.

Klingt einfach – ist es aber nicht. Die Einführung agiler Organisationsmodelle geht mit mehr einher, als »nur« mit »neuem« Verhalten der Mitarbeitenden. Die eigene Haltung, das ganze System, die Führungsdenke, die Art und Weise sind berührt. Die Kultur.

Zwei unheimliche Settings aus dem Alltag: Die hochmotivierten Agilen sind vereinzelt da, aber sie potenzieren sich nicht, weil das System veränderungsresistent ist. Aus Angst oder Bequemlichkeit lässt sich kein anderer von der Proaktivität anstecken. Oder, das System wird organisatorisch verändert, eine Methode nach der anderen wird eingeführt, aber niemand hinterfragt das eigene Mindset.

Gleich welche Version nun bekannt vorkommt, es kann im Wahn enden, dem Zustand des Hola-Crazy. Im neuen Leadership Report 2017 heißt es: »Nein, Hola-Crazy ist kein Tippfehler, sondern ein Fehler im Blickwinkel. Denn viele Unternehmen erhoffen sich durch Holacracy und andere agile Organisationsmodelle die Lösung ihrer Probleme – und werden dabei ganz verrückt.« Kühmayers These lautet, dass dazu künftig nicht weniger, sondern mehr Führung gefragt sei. Dafür fordert der Autor ein neues Denken in den Führungsetagen ein, »denn Umstrukturierungen dürfen nicht nur an den Mitarbeitern hängen, sondern müssen vor allem von Top-Managern gelebt werden« (vgl. Franz Kühmayer, Leadership Report 2017, Zukunftsinstitut). #holacrazy #holacracy

Ok, bedeutet wohl, es muss an allen Rädchen gedreht werden, damit agile Organisationsmodelle wirklich gut wirken und nutzen. Eins dieser Rädchen ist, die Vielfalt im Unternehmen zu nutzen. Meine These: Nur wer die Diversität in der Gruppe kennt, wertschätzt und nutzbar macht, kann wirklich agil sein und arbeiten. Damit ist es ein System-, Kultur-, Führungs-, und ein individuelles Thema. Bezüglich beidem (Agilität und Diversity) müssen den Menschen in der Organisation ähnliche Fragen gestellt werden. Es betrifft eine bestimmte Sache: das gemeinsame Lernen.

Der bunte Haufen

In einer agilen Organisation sind flexible und cross-funktionale Teams, also heterogene Konstellationen, normal. Heterogenität an sich ist nicht neu in Organisationen, denn Menschengruppen sind eigentlich immer heterogen. Auch in vermeintlich homogenen, einheitlichen Firmen lassen sich vielfältige Menschen und Lebenswelten entdecken, wenn man nur will und dies zulässt. Und wiederum: »Alle wollen individuell sein, aber wehe jemand ist anders.«

Im Diversity Management (DiM) ist neu: die soziale Norm, das Wahrnehmen und Benennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, und wie dieser Zustand bewertet wird. Neu ist auch, dass die Heterogenität entlang bestimmter Dimensionen sichtbar gemacht werden kann (z.B. soziale Herkunft, Alter, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, Gender/Geschlecht, körperliche und psychische Ability, Job Level).

Es geht nicht darum, Menschen als einen bunten Haufen zu betiteln und sich dann glücklich zu schätzen. Diversity Management heißt nicht, (die längst bestehende) Heterogenität als bunt und divers zu deklarieren. Im Diversity Management wird Andersein, anders als die Mehrheitsgruppe, erlaubt und gefördert. Die Dominanzkultur wird in Frage gestellt, marginalisierte Gruppen werden explizit angesprochen und sichtbar gemacht.

Die demografisch und kulturell bedingte Heterogenisierung in der Gesellschaft macht sich auch unter den Menschen im Unternehmen bemerkbar. Allerdings reicht die Beschäftigung von einigen Fachleuten zur Nutzung deren »ExpertInnenwissen« nicht aus, um mit den Herausforderungen einer globalisierten Welt adäquat umzugehen. Vielmehr bedarf es einer generellen Erhöhung der Kompetenz im Umgang mit diversen Kulturen, mit beruflichen und persönlichen Hintergründen, mit individuellen Lebensstilen – durch die bewusste Auseinandersetzung aller Menschen. Diese Kompetenz ist erlernbar, es heißt »Diversity-Lernen«.

Diversity-Lernen und Agility-Lernen

Bei der Gestaltung eines solchen Diversity-Lernens kommt es auf die Bedingungen und Voraussetzungen im System an. Zentral sind in diesem Zusammenhang diese Fragen: »Auf welche Unterscheidungen (im Sinne der Diversity-Dimensionen) will das System rekurrieren? Welche sozialen Differenzen bzw. Differenzierungen werden dabei manifest/bewusst? Diversity-Lernen heißt in diesem Rahmen: Entscheidungs- und Differenzkonstrukte, Bias-Konstrukte, Vorurteile, Überzeugungen und Einstellungen im Prozess ihrer Herstellung und Erzeugung beobachten und hinterfragen zu können, ohne dadurch in der eigenen Handlungsfähigkeit stark oder dauerhaft beeinträchtigt zu sein« (Verena Bruchhagen 2007: 6).

Lernprozesse brauchen Zeit und ein wertschätzendes Klima. Bedenken und Vorurteile gegenüber der Gruppe »der Anderen« müssen abgebaut werden. Die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, der potentiell Fremden, selbst wenn es ChefIn oder ArbeitskollegIn ist, bedeutet auch die Auseinandersetzung mit dem Selbst: Wer bin ich, im Verhältnis zum Anderen – eine spannende und herausfordernde Frage, die auch im Agilen Team gestellt werden muss.

Kostspielige Recruiting/PE-Instrumente sind nicht zwangsläufig nötig, um Diversity ins Unternehmen zu holen. Viele Dimensionen sind längst Realität, sie müssen »nur« sichtbar und nutzbar gemacht werden. Ein Beispiel: Die digitale Transformation soll vorangetrieben werden, parallel werden agile Arbeitsformen eingeführt, um die Produktentwicklung zu beschleunigen. Im Zuge dessen wird die Organisation entlang der Diversity-Dimension »Alter« analysiert. Unterschiedliche Generationen haben unterschiedlichen Zugang zur digitalen Welt, so die These, und können voneinander lernen. Die Zugehörigen der Generation Y benötigen als Digital Natives keine persönliche Transformation und sind daher unentbehrliche MultiplikatorInnen für die Generation der sogenannten Digital Immigrants. Umgekehrt sind die Älteren unentbehrlich, weil es um Weitergabe von langjährigem Fach- und ExpertInnenwissen geht. Wichtig ist, dass die Wissensressourcen nicht ungenutzt koexistieren, sondern Lernprozesse, die miteinander gestaltet werden in denen man konstruktiv »voneinander« (formell und informell) lernt (vgl. Gerpott und Voelpel, 2016).

Denkbar ist auch, eine andere Diversity-Kategorie zu nutzen. So könnte nicht das Alter (jung/alt) als Ausgangslage der Lernsituation gelten, sondern die Lerngruppen werden entlang der Kategorie der Erfahrung, also des »Grades an Digitalisierung« zusammengestellt, abgefragt durch Selbsteinschätzung. Gleich welche Variante, die Diversität wird strategisch genutzt, um agil arbeiten zu können. Die Diversity Awareness des einzelnen ist eine notwendige Voraussetzung, wenn agile und crossfunktionale Teams funktionieren sollen.

Diversity-Lernen passiert auf organisationaler Ebene, wenn ein »Diversity Management« als gesamte Strategie implementiert wird. Organisationen, die agil arbeiten wollen, können gezielt diverse Teams aufbauen, entlang vorher festgelegter Diversity-Dimensionen. Denn Diversität steigert die Innovationsfähigkeit des Systems. #inclusion #genderequality #femaleempowerment #agediversity #culturaldiversity #sexualdiversity #unconsciousbias #scrum #designthinking

Ermöglichen heißt das Zauberwort

Agilität und Diversität bedeuten Wandel auf verschiedenen Ebenen. Nur in einer vertrauensvollen Situation wird aus Fehlern gelernt und nur dann können gängige Bewertungsmuster verändert werden. Ziele von agilen Arbeitsformen sind Innovation und schnelle Anpassungsfähigkeit, und das kann beides nur erreicht werden, wenn Multiperspektivität ermöglicht und gemanagt wird. Das viel beschworene agile Mindset ist keine Maske, die man sich schnell überstreift. Sondern ein agiles Mindset zeigt sich durch Sozialkompetenzen wie Ambiguitätstoleranz, Flexibilität, Offenheit. Die Menschen müssen bereit sein, verschiedene Perspektiven einzunehmen, neue Wege zu gehen, andere als die bisher gewünschten, in unbekanntem Terrain. Je mehr Perspektiven (durch gezieltes DiM) schon im Raum versammelt ist, desto höher ist die Chance, dass agil und flexibel gestaltet wird.

Ambiguitätstoleranz (also die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten und Unterschiede auszuhalten oder besser, diese zu akzeptieren), gilt als ein Merkmal von Diversity Awareness. Sie ist ebenso unabdingbar für das agile Mindset. Wenn diese Fähigkeit fehlt, reagieren Menschen auf mehrdeutige und oft unkontrollierbar erscheinenden Situationen im agilen Setting mit linearem Denken. Sie verfallen in starre, alte, tradierte Muster, also dem Gegenteil von being agile und konstruktivem Diversity-Lernen.

Führung muss »empowern« und »enablen«, wie es so schön heißt. Auch wenn die Situation VUCA ist. Oder gerade weil. Leadership und Hierachie bekommen neue Bedeutungen, denn autonomes und selbstorganisiertes Arbeiten sollen normal werden. Agile Organisationsmodelle und DiM gehen einher mit einer Führungsdenke, die Proaktives begrüßt und zulässt. Der Spirit verändert sich, Grenzen werden aufgelöst und neu definiert. Wer bin ich, im Verhältnis zum Anderen.

Was brauchen wir? Reicht Wertschätzung?

»Agilität« sollte nicht als Selbstzweck fungieren, ein schneller Zug, auf den wir gezwungen werden, aufzuspringen, oder dazu herhalten, um Schludrigkeiten oder Chaos zu erklären. Diversität sollte als Phänomen wahrgenommen und eingeordnet werden, das schlichtweg die Realität beschreibt. Nur entfernt vom kurzlebigen Hype-Dasein, können agile Methoden als Konzept/Arbeitsmodus/Haltung (doing und being) einen sinnhaften Charakter erhalten.

Agile Arbeitsmodelle sind in manchen Situationen nutzlos, und lösen Hola-Crazy aus. Wenn sie aber sinnvollerweise eingeführt werden, weil sie nachweislich innovativ wirken, dann muss auch auf Diversität geachtet werden. Agile Transformation \ braucht Innovation und agiles mindset \ braucht Offenheit für Diverses \ weil diverses zusammmenkommt \ Vielfalt ermöglicht Innovation.

In Zeiten des Wandels, so heißt es, müsse man »inspirieren, ermutigen, befähigen«. Damit sich möglichst viele Menschen inspiriert, ermutigt und befähigt fühlen, braucht es viele unterschiedliche Vorbilder, in Führung und in der Organisation insgesamt. Mit Offenheit ist nicht gemeint: absolute Toleranz. Denn, wer offen für alles ist, ist auch nicht ganz dicht. Sondern, unter der Voraussetzung des Teilens humanistischer Werte ist damit gemeint: Wertschätzung von Unterschieden, und Anerkennung des Menschen in dessen Individualität und Anderssein. Hire people who value people.

Die Kraft zum Umdenken speist sich daraus, dass Menschen einen Sinn darin sehen, dass andere Menschen gleichberechtigt sind in ihrem Dasein und in ihrer kreativen (Arbeits-)kraft. Diversity Awareness und Sozialkompetenzen wie die oben genannten sind nicht angeboren. Sie müssen erlernt werden – eine Leistung, die auf Emotionen, Verstand und hoffentlich auch Vernunft basiert. #leadingdiversity #agileleader

Hanna Göhler

Literatur:

  • Gerpott/Voelpel. Generation X, Y, Z?
    Intergenerationale Lernprozesse in Unternehmen als Instrument der Personalentwicklung

    in: Genkova Hg., Handbuch Diversity Kompetenz, Springer, 2016.
  • Bruchhagen. Diversity – Lernen
    in: Iris Koall; Verena Bruchhagen; Friederike Höher (Hg.)
    Diversity Outlooks, Hamburg: LIT, 2007.

Blaming Game

Gespräche in Unternehmen – quer durch die Organisation. Immer wieder das gleiche Bild: Die da unten tun es nicht! (häufig mit der Bitte an uns – repariere sie) und die Antwort der anderen Seite: die da oben verstehen nicht (häufig mit der Bitte, sag es ihnen). Oben hilflose aktive Macht, unten passive beharrende Macht. Mittendrin die Orte von energetischem Miteinander (in der Regel zu wenige).

Gruppen unterscheiden. Sie wissen, wer zum »uns« gehört und wer die anderen, die »die da« sind. Das vereinfacht die Welt und schafft eine schützende Zugehörigkeit. Leider erfolgt das oft mit einer Wertung: Wir sind ok – die da sind irgendwie nicht so ok. In dieser Unterscheidungsdynamik kommt es dann oft dazu, die anderen als Bedrohung des eigenen Status zu sehen, Neid zu entwickeln, nicht zu vertrauen oder sich selbst zu stabilisieren, in dem andere abgewertet werden. Oben und Unten ist dabei nur eine der vielfältigen Varianten. Es ist am Ende ein Spiel, in dem niemand gewinnt – es sorgt für Stillstand oder zumindest für eine beträchtliche Verlangsamung der Entwicklung gruppenübergreifender Strukturen.

In unserer dynamisch, emergenten und kontingenten Entwicklung der Gesellschaft und so auch der Märkte ist die starre Unterscheidung zwischen »uns« und »denen« nicht mehr hilfreich. Es ist unsere Lernaufgabe, fluide Zugehörigkeiten zu bilden, engagierte Zugehörigkeit auf Zeit. Das heißt, die sozialen Kompetenzen zu entwickeln, bei anderen ankommen zu können, engagiert da zu sein und wieder gehen zu können.

Das setzt ein stabiles Ich voraus, ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Resilienz und das tiefe Wissen, in mir und mit mir selbst Heimat sein zu können. In unserem Verhalten werden wir vielleicht eine soziale Maxime verankern: Verhalte dich zu den »Die Da’s« so, wie Du als wahrscheinlich künftiger Teil eines »Die Da« behandelt werden möchtest. Ohne dieses Lernen werden wir Agilität als Eigenschaft eines sozialen Systems nicht verwirklichen können.

Rüdiger Müngersdorff

Spiritualität

Erfahrungen aus intensiven Coachings – Anlass für ein paar Gedanken

Es ist eine lange Tradition des »Beraterstammes«, sich mit dem Gottesbezug auseinanderzusetzen. Hier wurden Erlösungsfragen, Gotteszweifel, das Gefühl der Sicherheit und Aufgehobenheit besprochen – ein Verhältnis zwischen Hoffnung und Zweifel – doch immer wieder ein Rückbezug, der Sicherheit und Gelassenheit gewährte. Heute jedoch müssen wir uns mit der Gottesleere beschäftigen – der Zweifel hat sich als Nicht-Erfahrung des Göttlichen manifestiert. Und in diese Leere fließen viele Inhalte hinein, die uns über diese Leere hinweghelfen sollen. Es gibt einen Boom an magischen und esoterischen Angeboten, die die Leere füllen und uns einen neuen Boden der Sicherheit gewähren sollen. Die meisten sind sehr individualistisch – keine Stammesmagie, sondern individuelle Programme zur Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit und des eigenen Glücks. In vielen Fällen bringen die spirituell – magischen Praktiken spürbare Resultate – Menschen fühlen sich mehr aufgehoben, sicherer, gehalten. Leider bleibt diese Erfahrung in der rücksichtslosen Realität nicht sehr lange stabil – die individuelle Leere kehrt zurück.

Für heutige Berater ist es sicher nötig, gesprächsfähig zu sein, wenn das Thema Spiritualität in den Vordergrund rückt. Und es kann für manchen Zweifel hilfreich und lösend sein. Jedoch führt uns der individuelle Ansatz nicht weiter, er ist eine Art Reparaturbetrieb für einen wesentlich umfassenderen Zweifel. Spiritualität ist nicht nur ein individuelles Thema, sondern ein wesentliches Thema der Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle. Es ist in unserer persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die konsequent auf Individualisierung und Unterscheidung setzt, folgerichtig, die Gottesleere auch individuell überwinden zu wollen, sich zumindest individuell mit ihr auseinanderzusetzen. Das aber unterschätzt den gemeinschaftlichen Aspekt der Spiritualität. Zugehörigkeit ist einer der Aspekte, der uns Sicherheit gibt, weil sie reale Aufgehobenheit bedeutet. Damit ist das Thema Spiritualität, die Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Gottesleere, auch ein Thema der Unternehmen.

Wir setzen uns heute unter dem Begriff Sinn, die meine Arbeit machen soll, mit diesem Thema auseinander. Und so müssen wir immer wieder die Frage stellen, warum eigentlich tun wir, was wir tun? Und die Antwort kann heute nicht heißen, weil wir Geld verdienen, verdienen müssen.

Die Antwort ist vielschichtiger – sie betrifft die Frage, warum eigentlich akzeptiert die Gesellschaft uns in unserem systemeigenen Gewinnstreben? Warum verstehen wir, was wir tun, als wertvoll und bedeutungsvoll? Wie rechtfertigen wir unser Gewinnstreben im Kontext unser aller Verantwortung für die alle umschließende Gemeinschaft der Erdenbewohner? Und wo sehen wir, dass wir etwas zur Entwicklung der Menschheit beitragen? Es reicht nicht aus, wenn wir zur Beantwortung dieser Fragen auf unsere (sehr wertvollen) sozialen Projekte verweisen. Eine reflektierte Antwort greift tiefer in die ideelle Konstitution der Unternehmen ein, denn es geht nicht um eine mit Sinnelementen angereicherte Visionsbildung. Vielmehr stellt sich die Frage: Können wir als Unternehmen, zumindest für eine Zeit, einen Ort bilden, der sinnhafte kollektive Zugehörigkeit schenkt? Und was ist die Aufgabe der begleitenden Beratung in diesem Prozess?

Ein Aspekt mag das verdeutlichen: Nehmen wir die oben genannte Aufgabe ernst, dann müssen wir uns zugleich mit dem Thema der Diversität auseinandersetzen und lernen hilfreich zu sein, wenn sich Unternehmen die Aufgabe stellen, eine sehr inklusive, respektgetragene Einladung zu einer emotional tragenden Gemeinschaft zu formulieren und zu leben – akzeptierend, dass es für manche ein lange schützendes Dach ist, für manche ein vorübergehendes – sie kommen, beteiligen sich und lösen sich. Es geht um eine Gemeinschaftsbildung, die Widersprüche und Abweichungen zu respektieren vermag und sie zugleich als Erfahrung zu nutzen weiß. Wenn wir kritisch auf die Beratungslandschaft blicken, dann ist die Diversity-Kompetenz nicht sehr ausgebildet.

Zygmund Baumann hat, lange bevor das Wort Agilität in Mode kam, von fluiden Organisationen gesprochen – fließend sind unsere Verhältnisse heute – Menschen kommen, sind ganz bei uns und dann lösen sie sich, gehen weg oder kommen zurück. Grenzen sind nicht mehr fest – wir bestimmen individuell unsere Zugehörigkeit. Was Unternehmen heute tun können, ist, einen lebendigen, attraktiven Ort zu bilden, an dem Menschen für eine Weile Heimat finden. Spiritualität, also das Gefühl in einem tieferen Sinne das Richtige zu tun und zu einer tragenden Gemeinschaft zu gehören, ist so ein wichtiges Thema in der Organisationsentwicklung – eines, das heute zu oft auf den Einzelnen und das Persönliche geschoben wird, jedoch eigentlich ein Thema der Gemeinschaft ist.

In unserer Überzeugung wird es kein gelingendes Diversitätsprogramm geben, das sich nicht zuvor mit der Frage des spirituellen Bezugs der Organisation beschäftigt hat. Erst dann kann sie auch vorübergehende Heimat für die so umworbenen High Potentials sein. Und das stellt ganz andere Anforderungen an die Qualität einer Visionsbildung, als sie heute noch vertreten werden.

Rüdiger Müngersdorff

Agile Transformation

Fred Turner (Standford University) verglich die Kultur »digitaler Unternehmen« mit der traditioneller Unternehmen:

»Was es hier (Silicon Valley) braucht um erfolgreich zu sein: intellektuelle Feuerkraft, gute Ausbildung, soziale Flexibilität, die Fähigkeit, sich schnell um zu orientieren und mit verschiedenen sozialen Milieus klar zu kommen. Was wichtig war, um in einer Fabrik in Detroit gut zu sein, waren Beständigkeit, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und generell eine Arbeitsethik, die allem entgegensteht, was dich hier (Silicon Valley) erfolgreich macht.«

Dazu gehören heute globale Netzwerke der digitalen Eliten, denen oft nicht vernetzte und nicht globale Eliten der Produktion gegenüberstehen. SYNNECTA spricht hier von der zweiten Dichotomie, sie folgt auf die erste, die mit der Identifizierung von wertschöpfenden und nicht wertschöpfenden Tätigkeiten die soziale Ordnung in Unternehmen grundlegend geändert hat und damit den mindset der Mitarbeiter.

Heute verläuft die mindset ändernde Zuschreibung zwischen digitaler Welt mit neuen Geschäftsmodellen und der »alten Produktionswelt« – die Generierung von ökonomischen Werten verschiebt sich hin auf die Seite der Vernetzung, der digitalen Geschäftsmodelle und der damit verbundenen Serviceleistungen und bringt die Erstellungs- und Ausbringungsorganisation in größten Kostendruck.

Eine Folge für Unternehmen, die sich auf die Reise zu der digitalen/agilen Transformation aufgemacht haben: Sie können nicht mehr glaubwürdig von dem einen mindset, der einen Kultur sprechen – sie brauchen heute je nach Ort und Aufgabe differenzierte Einstellungen, Werteorientierungen und Urteilsmodelle. Die Rede von dem einen mindset ist veraltet. So kann man sehen, dass Diversität nicht bei den klassischen Themen stehen bleibt – wir brauchen auch ein Lernen im Umgang mit der Binnendiversität und der damit verbundenen umverteilten Wertschätzung in Unternehmen.

Rüdiger Müngersdorff