Das Irreparable in der Wirtschaft: Sein Bestes geben ohne perfekt zu sein

Wie du bist, wie die Welt ist – das ist das Irreparable.
(Giorgio Agamben)

In seinem kleinen, aber philosophisch sehr dichtem Büchlein Die kommende Gemeinschaft erhebt der italienische Philosoph Giorgio Agamben (vgl. auch den Blog-Beitrag zum Thema Ausnahmezustand) das Irreparable zum Zeichen des eigentlichen Seins: »Das Irreparable ist weder eine Essenz noch eine Existenz, weder eine Substanz noch eine Qualität, weder etwas Notwendiges noch etwas Zufälliges. Eigentlich ist es gar keine Modalität des Seins, sondern das Sein, das je schon immer auf seine Weise gegeben ist, seine Modalitäten ist. Es ist nicht so, sondern sein So.«

Für die Welt der Unternehmen klingt diese Idee absonderlich – nicht nur, weil die eben zitierten Sätze stilistisch mit der typischen Managementliteratur nicht passfähig sind. Etwas Defektes, Kaputtes, Schad- und Mangelhaftes zum Zeichen des wahren Seins zu erheben? Das klingt nicht nur absonderlich, sondern nach Dummheit. Jeder Kunde würde ein irreparables Produkt reklamieren und es reparieren oder sich ersetzen lassen. Jedoch geht es in der Wirtschaft nicht nur um Produkte, sondern auch um Menschen, die die Güter produzieren. Und für den Menschen im Unternehmen erscheint mir die Irreparablität in zwei Bezügen relevant: Erstens in Bezug auf das Thema Burnout und zweitens beim Aufbau einer positiven Fehlerkultur.

Zum ersten Punkt: Bereits in den 1990ern hat der französische Philosoph Gilles Deleuze (von dem in diesem Blog ebenfalls bereits im Zusammenhang mit dem Rhizom die Rede war) die heutige Verfasstheit unserer Gesellschaft erhellend skizziert. Er hat sie Kontrollgesellschaft genannt, die seinen Beobachtungen zufolge die Disziplinargesellschaft ablöst. Die Disziplinargesellschaft des 18., 19. und 20. Jahrhunderts diszipliniert ihre Bürger in sogenannten »Einschließungsmilieus«, die über je eigene Regeln und Gesetzmäßigkeiten klar definieren, was jemand darf und vor allem nicht darf. Die Kontrollgesellschaft hingegen gestaltet sich als entgrenzte Gesellschaft, in dem jedem unter dem Paradigma der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit potentiell alles erlaubt ist – es erfolgt jedoch mit »ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« eine Steuerung des Individuums. So wird diesem subtil suggeriert, kontinuierlich etwas aus sich machen zu müssen.

Während der Mensch in der Disziplinargesellschaft beim Wechsel in eine neue Rolle »jedesmal wieder bei Null anfangen muß« und daher »nie auf(hört) anzufangen«, wird der Mensch in der Kontrollgesellschaft »nie mit etwas fertig«, so Deleuze. Es gibt immer noch weitere Performanceaspekte, in denen man sich optimieren kann, und andere Weiterbildungsmöglichkeiten, die man noch nicht genutzt hat … Das eigene Potenzial nicht voll auszuschöpfen gilt in der Kontrollgesellschaft als Todsünde, Applewatch und Self-Tracking-Armbänder sind ihre neuen Statussymbole. Byung Chul Han (in diesem Blog ebenfalls bereits als Verfechter des Erzählens vorgestellt) hat im Anschluss an Deleuze dieses kontrollgesellschaftliche Übermaß an Positivität bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher (negativer) Grenzen als Urgrund für das Phänomen des Burnout identifiziert. Es ist nicht der Druck von oben, der überfordert, sondern der selbst gemachte Druck von innen.

In meinem Vorschlag, den neuen Herausforderungen der VUCA-Welt durch ein VUCA-AIKIDO zu begegnen, habe ich unter der Grundhaltung Klarheit die aus meiner Perspektive wichtige Kompetenz »Ich kenne (meine) Grenzen« formuliert. Wenn die VUCA-Welt eine Kontrollgesellschaft im Deleuzeschen Sinne produziert, in deren Grenzenlosigkeit ich mich durch einen übersteigerten Selbstoptimierungswahn selbst in den Burnout treibe, so ist die Selbstbegrenzung essentiell notwendig. Sich in diesem Zusammenhang einzugestehen und zu erlauben, suboptimal zu sein, zieht diese Grenze. Sich selbst Refugien der Irreparabilität zu erlauben, erlaubt einen souveränen Umgang mit den subtilen Forderungen der Kontrollgesellschaft: Ich selbst entscheide, wo ich die mir zur Verfügung stehende Zeit und die vorhandenen Ressourcen investiere, um besser zu werden. Ich selbst entscheide jedoch ebenfalls, wo ich so suboptimal bleibe, wie ich bin. Es geht dabei nicht darum, weniger Leistung zu fordern. Es geht darum, in selbst gewählten Bereichen fokussiert sein Bestes zu geben ohne überall perfekt sein zu müssen.

Zum zweiten Punkt: Produzierende Unternehmen fokussieren (in Verknüpfung mit den Dimensionen Zeit und Kosten) stets auf Qualität. Fehlerhafte Produkte werden aussortiert und nicht in den Verkauf gebracht. Je sicherheitsrelevanter das Produkt, desto stärker natürlich der Fokus auf Qualität. Sehr oft schlägt sich jedoch der Umgang mit dem Produkt in der Unternehmenskultur auch auf den Umgang mit dem Menschen nieder. Dann gilt: je sicherheitsrelevanter das Produkt, desto wichtiger sind in der Unternehmenskultur oft Abstimmungsbedürfnis, Pochen auf Prozesstreue, Statusorientierung etc. Der Fokus auf ein perfektes Produkt produziert in Unternehmen oft perfektionistische Menschen.

Hinzu kommt, dass auch unser kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Verhaltensfehler in einen existenziellen Zusammenhang stellt. Der große Soziologe Max Weber hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dargestellt, wie eng Christentum und unsere heutige Wirtschaftsweise verknüpft sind. Auch die praktizierte Fehlerkultur in Unternehmen kann man im diesem Licht interpretieren: Im Christentum wird aus Verhaltensfehlern schnell ein menschlicher Makel, der als Sünde den Eintritt ins christliche Paradies in Frage stellt. Analog stellt in Unternehmen ein Fehler schnell die Daseinsberechtigung des Mitarbeiters im Unternehmen in Frage. Wichtiger als die Fehlerbehebung ist in Betrieben oft die Suche nach dem »Schuldigen«. Als Gegenprogramm zu dieser Kultur mag Giorgio Agambens Plädoyer für die Irreparabilität stehen: »Ohne Zuflucht und dennoch gerettet – gerettet in sein irreparables Sein.« Wahres Sein ist wie es ist – in der Realität bestehend, fehlerhaft und makelvoll.

Natürlich ist dies auch kein Aufruf zur Nachlässigkeit oder zur gewollten Sabotage. Es geht mir vielmehr um Folgendes: In der VUCA-Welt entgleiten Stabilität und Sicherheit und es ist damit völlig logisch, dass die Fehleranfälligkeit ansteigt. Damit steigt der Druck auf das perfektionistisch tickende Individuum in einer auf kontinuierliche Optimierung fokussierten Unternehmenskultur enorm. Gleichzeitig ist das Experimentieren in der VUCA-Situation jedoch die einzige Möglichkeit herauszufinden, was funktioniert oder eben nicht funktioniert. Und Experimente scheitern mitunter. In der VUCA-Situation handle ich sinnvollerweise zuerst, um anschließend schnell zu bewerten, ob mein Handeln hilfreich war oder eben nicht (vgl. Dave Snowdens bereits in diesem Blog proträtierten Cynefin-Ansatz für komplexe und chaotische Bereiche). Ein Fehler ist aus meiner Perspektive in der VUCA-Situation vor allem eins: Wertvoller Träger von Information! Er hilft mir, mein Verhalten adäquat anzupassen, und jenseits der Perfektion besser zu werden. Ich sehe aus diesem Grund in meinem Vorschlag zum VUCA-AIKIDO die Offenheit für Experimente und die Wertschätzung von Fehlern als Lernchancen als wichtige Bestandteile der Grundhaltung Intuition an.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es mir nicht darum geht, die sogenannte Minderperformance zu loben und weniger Leistung im Unternehmen zu fordern. Es geht mir vielmehr darum, Unternehmen beim Aufbau einer Unternehmenskultur zu unterstützen, die es Mitarbeitern erlaubt in realistischer Weise ihr Bestes zu geben, ohne perfekt sein zu müssen. Ich bin fest überzeugt, dass dies die gesündere und damit auch nachhaltig erfolgreichere Art und Weise des Wirtschaftens ist.

Für diesen Aufbau einer leistungsstarken, jedoch die Irreparabilität des Einzelnen anerkennenden Unternehmenskultur halte ich das Stroke-Modell der Transaktionsanalyse für sehr hilfreich. Deren Gründervater Eric Berne hat bereits in den 1950ern beschrieben, wie ein vertrauensvolles und leistungsförderndes Umfeld erzeugt werden kann. Interaktion mit anderen und die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen ist ein Grundbedürfnis eines jedes Menschen. Tatsächlich zeigen Studien und Berichte seit Jahrhunderten, dass der Mensch buchstäblich stirbt, wenn ihm die Befriedigung dieser beiden Grundbedürfnisse vorenthalten wird. Berne definiert nun eine »Einheit an Aufmerksamkeit« als Stroke. Wenn wir uns begegnen, tauschen wir mit jedem »Hallo« oder jedem Kopfnicken Strokes aus. Und wenn wir stehen bleiben und in eine Unterhaltung einsteigen, so geht dieser Austausch munter weiter …

Der englische Terminus stroke hat für unseren Kontext eine wichtige Doppeldeutung: To stroke somebody meint, jemanden streicheln, bezeichnet also eine positiv wahrgenommene Handlung. To give somebody a stroke kann jedoch auch heißen, jemanden zu schlagen – was gemeinhin negativ wahrgenommen wird. Korrespondierend kann man mit anderen positive und negative Strokes austauschen. Alle Botschaften und Handlungen, die ein »Ich mag Dich« signalisieren, senden positive Strokes. Umgekehrt senden alle Botschaften und Handlungen, die ein »Ich mag Dich nicht« signalisieren, negative Strokes. Eine weitere, sehr wichtige Unterscheidung im Stroke-Modell ist der Unterschied zwischen bedingten und unbedingten Strokes. Bedingte Strokes fokussieren sich auf das Tun, auf das Verhalten, auf die Performance des anderen. Sie geben uns immer auch eine »Weil-Information«: Ich mag Dein Verhalten (nicht), weil Du dieses oder jenes (nicht) tust. Unbedingte Strokes dagegen fokussieren sich auf das reine Sein. Sie beziehen sich auf die Person an sich, auf deren Essenz und Existenz und sind damit wesentlich »stärker« als bedingte Strokes. Unbedingte Strokes wie »Ich arbeite sehr gerne mit Ihnen zusammen!« bzw. »Was für ein Idiot sind Sie denn?« (beide ohne jedes »Weil«) wirken wesentlich stärker als bedingte Strokes wie »Gute Arbeit!« oder »Hier haben Sie einen Fehler gemacht!«.

In Korrelation gebracht gibt es nun vier Arten von Strokes, die Menschen im Unternehmen miteinander austauschen:

  1. Unbedingte positive Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, dass ich ihn grundsätzlich als Menschen schätze und seine generelle Mitarbeit im Unternehmen nicht in Frage stelle.
  2. Bedingte positive Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, was ich an seinem Verhalten gut finde, was er beibehalten soll.
  3. Bedingte negative Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, was ich an seinem Verhalten nicht gut finde, was er besser machen könnte.
  4. Unbedingte negative Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, dass ich ihn grundsätzlich als Mensch ablehne und seine generelle Mitarbeit im Unternehmen in Frage stelle.

Aus der Aufzählung ist vielleicht schon ersichtlich, welches Stroke-Verhalten eine vertrauensvolle und gleichzeitig performance-orientierte Unternehmenskultur etablieren kann: Unbedingte positive Strokes bauen grundsätzliches Vertrauen in sich selbst und in andere auf. Sie bilden die wichtigste Grundlage für eine wertschätzende Unternehmenskultur (werden jedoch aus meiner Erfahrung im Unternehmen am meisten vernachlässigt). Wenn ich dem anderen im Unternehmen das Gefühl vermittle, dass er als Mensch zählt und sein Arbeitsplatz sicher ist, steigere ich damit grundlegend seine Leistungsmotivation. Auf dieser Basis kann durch bedingte positive Strokes Selbstvertrauen etabliert werden: Ich mache dem anderen durch Rückmeldung bewusst, wo seine Stärken liegen und was er weiterhin tun soll. Bedingte negative Strokes fördern im Gegenzug Selbstkritik und bilden die Grundlage von lernender Entwicklung: Ich melde dem anderen zurück, wo er Verbesserungspotenziale hat und was ich mir anders wünsche – er kann auf dieser Basis sein Verhalten verändern. (Den Austausch von bedingten Strokes kennen viele Mitarbeitende im Unternehmen als Feedback. Insofern ist es hier hilfreich, die bekannten Feedbackregeln anzuwenden: Ich-Botschaften, konkrete Beispiele, Fokus auf beobachtetes Verhalten …) Unbedingte negative Strokes sollten in jedem Fall vermieden werden. Sie führen beim anderen zu nichts als zur Zerstörung von Vertrauen in sich selbst und andere, zu Frustration und Demotivation.

Betonen möchte ich in diesem Zusammenhang vor allem: Wenn ich jemanden kritisiere, so sollte ich kontinuierlich sicherstellen, dass der andere meine Kritik als Kritik an seinem Verhalten und nicht an seiner Person auffasst. Zu schnell »hört« der andere bedingt negativ gemeinte Strokes als unbedingt negative. Am nachhaltigsten kann ich dies jedoch verhindern, indem ich genügend unbedingte positive Strokes sende. Die Erfahrung scheint folgende Faustregel zu bestätigen: Je mehr unbedingt positive Strokes ich austeile, desto »heftiger« kann ich Performance einfordern, ohne meine Mitarbeiter zu demotivieren und ihr Vertrauen zu verlieren.

Führungskräfte und Mitarbeiter berichten oft, dass in Unternehmen die unbedingten positiven Strokes zu kurz kommen. Wahrscheinlich ist dies dem Umstand geschuldet, dass diese sich übereine positive »Verschwendung« im Sinne eines bereits skizzierten In-Waste-Ment generieren lassen: Ich schenke dem anderen Aufmerksamkeit ohne Hintergedanken zu haben, reserviere Zeit für Gespräche über nicht-geschäftliche Themen, investiere in Gemeinschaft stiftende »sinn-lose« Aktivitäten, … Mit diesem In-Waste-Ment produziere ich nachhaltig ein Gefühl der Wertschätzung und grundsätzliches Vertrauen. Um auf den Beginn diese Beitrags zurückzukehren: In der Sphäre der unbedingten positiven Strokes liegt auch die Anerkennung des anderen als irreparables Wesen. Noch einmal Giorgio Agamben: »Etwas einzig in seinem So-Sein wahrzunehmen: als irreparabel, doch gleichwohl nicht notwendig; so wie es ist, doch deshalb nicht als zufällig – das ist Liebe.« Übersetzt in den Unternehmenskontext: »So (imperfekt und fehlerhaft) wie Du als Mensch bist, schätze ich Dich. Lass uns gemeinsam sehen, wie Du im Unternehmen Dein Bestes geben kannst …«

Das Stroke-Modell eignet sich nicht nur als Richtschnur für das Verhalten gegenüber dem anderen. Es kann ebenso helfen, sich selbst immer wieder ins rechte Licht zu setzen. Sich selbst genügend unbedingte positive Strokes zu geben, stärkt die eigene Souveränität im (Berufs- und Privat-)Leben.

Sich selbst und den anderen als nicht perfekt zu akzeptieren und dann das Beste draus zu machen … Dies alles mag nach Hippie-Romantik klingen. Meine Erfahrung ist jedoch: In Workshops gewinne ich meist die größte Aufmerksamkeit von Führungskräften und Mitarbeitern mit der Vorstellung des Stroke-Modells. Dies zeigt mir, wie relevant dieses Thema in Unternehmen ist. Ich bin tief überzeugt, dass in der VUCA-Welt diejenigen Unternehmen am erfolgreichsten sein werden, die die Irreparabilität ihrer Mitarbeiter fundamental anerkennen und darauf vertrauen, dass alle ihr Bestes geben.

Johannes Ries

Aus dem prekären Moment heraus in die ungewisse Zukunft: Erfolgreiches Effektuieren in der VUCA-Situation

Die Unterschiede zwischen einem indischen Slum oder einer brasilianischen Favela und dem Frankfurter Bankenviertel, zwischen einer diskriminierten Roma-Gruppe und einer Konzern-Abteilung, zwischen einer HartzIV-Familie und der Vorstandsetage eines DAX-Konzerns liegen auf der Hand: Armut vs. Reichtum, Machtlosigkeit vs. Macht, Unterprivilegiertheit vs. Privileg… Keine Business School und kein MBA-Studiengang werden wohl auch nur einen Gedanken daran verschwenden, wie es Menschen im Prekariat geht und wie sie mit ihrer prekären Situation umgehen. Dabei glaube ich, dass man von diesen Menschen und den Kulturen, die sie unter widrigsten Umständen etablieren, viel für die Wirtschaftswelt lernen kann. Denn Slumbewohner, Arme, Minderheiten, Außenseiter und andere Randgruppen, die tagtäglich ihr schieres Überleben meistern müssen, sind Fachleute für prekäre Situationen – und damit VUCA-Experten.

Die VUCA-Situation wird in Unternehmen meist als Ausnahmezustand wahrgenommen, dem man mit den herkömmlichen Steuerungs- und Führungsinstrumenten nicht mehr Herr werden kann. Obwohl ihr physisches Überleben gesichert ist, nehmen Menschen im Unternehmen die Situation der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität als prekär wahr, da unser Wohlbefinden in hohem Maß an Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit gekoppelt ist.

Ich habe in einem früheren Blog-Beitrag schon einmal auf die Kulturphilosophin und Künstlerin Yana Milev hingewiesen, die an Strategien eines Emergency Designs arbeitet, um dem Ausnahmezustand Herr zu werden. Auch die Philosophin Isabell Lorey setzt sich auf ganz neue Art mit dem prekär sein als Chance auseinander. Aus einer Vielzahl von Fallstudien kennen jedoch die Sozialwissenschaften, allen voran die Ethnologie, souveräne Experten im realen Umgang mit Prekarität: Es sind die Randständigen, Marginalisierten, Herumziehenden, Ausgestoßenen und andere Gruppen – diejenigen, die stets damit rechnen müssen, dass morgen alles vorbei oder zumindest radikal anders ist.

Ich selbst durfte als Ethnologe in mehreren längeren Feldforschungsaufenthalten bei Roma/Zigeunern in Rumänien die Überlebensstrategien kennen lernen, wie man souverän mit dem permanenten Ausnahmezustand umgeht (siehe Welten Wanderer, 2007). Was ich hierbei mit am interessantesten fand, war ein komplett anderer Umgang mit der Zeit: Auch die Roma/Zigeuner-Gruppen, die ich kennen lernen durfte, lebten als marginal people who live for the moment. So untertiteln Micheal Stewart, Sophie Day und Evthymios Papataxiarichs ihren wunderbaren Sammelband Lilies of the Field (1998), der wertfrei und auf Augenhöhe die kulturellen Überlebensstrategien von ungarischen Roma, Unberührbaren in Indien, Londoner Prostituierten und anderen Gruppen in prekären Verhältnissen porträtiert. Diese leben den Ethnologen zufolge »wie die Lilien auf dem Feld« (vgl. das Bibelwort Mt 6:28), die sich keine Sorgen um das Morgen machen, sondern im (Gottes-)Vertrauen darauf, dass der nächste Tag seine Chancen zum Überleben bringen wird, souverän im Hier und Jetzt agieren.

Bereits 1966 stellte Oscar Lewis in seinen erhellenden Studien zur Kultur der Armut fest, dass sich Menschen in einer dauerhaft prekären Situation vor allem auf die Gegenwart fokussieren, ja das Planen der Zukunft über das unmittelbare Morgen hinaus sogar »verlernen«. Als ich in meinen eigenen Feldforschungen in Lehmhütten und Baracken ohne Wasser- und Stromanschluss saß und mich die Bewohner der sogenannten »Ziganien« an ihrem Leben teilhaben ließen, wurde mir klar, welcher Selbstschutz in dieser Gegenwartsfixierung liegt: Wer in tiefster Armut verhaftet ist, kann nur verrückt oder depressiv werden, wenn er an das Morgen denkt …

Nichtsdestotrotz heißt diese Gegenwartsfixierung nicht, dass marginalisierte Gruppen sich als Opfer der Zukunft willenlos ausliefern. Sie gehen nur »ungeplant« Schritt für Schritt in das Morgen – und das kann für sie große Vorteile haben. Der Erfindungsreichtum, mit dem Marginalisierte durch Bricollage, Findigkeit und Improvisation Lösungen für Probleme finden, ist bemerkenswert. Gleichzeitig fokussieren sie sich auf Kairosmomente – auf schnell entstehende und sich ergebende Chancen, die sich nutzen lassen, wenn man sie denn schnell ergreift und flexibel auf sie reagiert. Durch den Aufbau von intensiven Vertrauensbeziehungen bilden Marginalisierte engmaschige Netzwerke und Patronagesysteme, die sie im Krisenfall absichern. Auch wenn diese Gruppen mit diesem Vorgehen oft nicht ihrer Armut und ihrem Prekarität entfliehen können, so verfügen sie damit doch über erfolgreiche Coping Strategies im Angesicht des Ausnahmezustands.

Aus dem Moment heraus zu agieren wird in unserer zukunftsfixierten Gesellschaft als Mangel an Planungskompetenz wahrgenommen. Die Experten der Prekarität zeigen uns damit jedoch einen interessanten neuen Weg des VUCA-Handlings. Um in der VUCA-Situation erfolgreich zu handeln, sind in der Wirtschaftswelt die gleichen Coping Strategies hilfreich, mit denen marginalisierte und prekarisierte Gruppen im Armutskontext ihr Überleben sichern. Diese Hypothese wird von den Forschungsergebnissen von Prof. Saras Saraswathy aus den USA gestützt. Fernab von Armutsmilieus analysierte sie das Verhalten erfolgreicher Unternehmer. Interessanterweise identifizierte sie ganz ähnliche Punkte als Erfolgsfaktoren für gelungenes Unternehmertum. Genau wie marginalisierte Gruppen im Ausnahmezustand agieren erfolgreiche Entrepreneurs »aus der Gegenwart heraus« ohne zu eng konkretisierte Zielvorstellung in die volatile, unsichere, komplexe und ambiguöse Zukunft »hinein«. Dieses von Saraswathy Effektuieren genannte Handeln steht dabei im starken Widerspruch zu dem linear-kausalen und zielorientierten Denken, das wir gemeinhin als logischen und planerischen Ansatz der Zukunftsbewältigung bevorzugen.

Wie die eben vorgestellten marginalisierten Gruppen fokussieren sich auch die erfolgreichen Entrepreneurs auf vier zentrale Prinzipien des Effektuierens:

1. Mittelorientierung

Im linear-kausalen Denken setzen wir uns ein Ziel, das wir erreichen möchten, und leiten anschließend aus diesem ab, welche Mittel wir zur Zielerreichung benötigen. Im besten Fall verfügen wir über einige dieser Mittel, andere müssen wir jedoch erst generieren, um unser Ziel erreichen zu können: Wir müssen erst Informationen sammeln, Kompetenzen aufbauen, Strukturen schaffen, Kontakte etablieren … Wer im Unternehmen jemals in einen Strategieprozess involviert war, wird bestätigen können, wir stark die unternehmerische Planung diesem Vorgehen folgt.

Dies alles macht großen Sinn, wenn das eine, gesetzte Ziel langfristig stabil bleibt. In der VUCA-Situation ist es jedoch alles andere als sicher, dass das Ziel, das ich mir heute setze, morgen noch Sinn macht. Mein heutiger großer Aufwand, den ich in den zukunftsorientierten Aufbau von Mitteln investiere, kann sich morgen als sinnlos verschwendete Energie erweisen. Ein effektuierendes Vorgehen erweist sich dagegen als VUCA-resilient, da es aus dem bereits vorhandenen Potenzial der Gegenwart heraus Zukunft(soptionen) generiert.

Der Ausgangspunkt einer effektuierenden Planung ist nicht das eine Ziel, das in der Zukunft angesteuert werden soll, sondern die Mittel, die in der Gegenwart bereits vorhanden sind. Alle bereits vorhandenen Mittel zusammengenommen bilden das Potenzial, aus dem heraus mögliche Zieloptionen identifiziert werden können. Eine stärkenorientierte Sammlung des eigenen Potenzials geht von der real existierenden Fülle aus und nicht vom aus der Zukunft her gedachten Mangel. Und aus dieser Fülle heraus kann sofort begonnen werden, zu agieren.

2. Leistbarer Verlust

Das Prinzipt des leistbaren Verlusts betrifft die Finanz- und Investitionsplanung. Im linear-kausalen Denken stellen wir einen (imaginären) Businessplan auf, in welchem wir ein Bild der Ertragssituation der Zukunft errechnen. Wir setzen bestimmte Voraussetzungen, unter denen wir fähig sein werden, mit einem (minimalen) Einsatz (maximalen) Gewinn zu erzielen. Hierzu ist es oft notwendig, am Anfang zu investieren, da erst Mittel generiert werden müssen, um unser Ziel zu erreichen (siehe Punkt 1). Bei einem großen zu erwartenden Gewinn, der jedoch auch eines großen Invests bedarf, macht es Sinn, sich für den Anfang von anderen Geld zu leihen. Ist unser Businessplan gut, so können wir den ROI-Punkt genau berechnen – den Moment in der Zukunft, in dem der (angenommene) Ertrag den (angenommenen) Einsatz ausgleicht und ab dem wir Gewinn machen.

Was jedoch, wenn in der VUCA-Situation die Zukunft immer weniger kalkulierbar wird? Eine finanzielle Planung, die auf der Basis von Zukunftsannahmen große Investitionen für große Gewinne vorsieht, wird immer risikoreicher. Denn bei unsicherer Zukunft ist auch der (angenommene) Ertrag nicht gesichert. Schulden machen zusätzlich unfrei und rauben die Flexibilität, auf neue Situationen schnell zu reagieren.

In einer effekutierenden Finanz- und Investitionsplanung geht man im Gegensatz zum linear-kausalen Denken vom Spatz in der Hand aus und strebt nicht nach den Tauben auf dem Dach. Das heißt, man fokussiert sich in der Planung auf den in der Gegenwart leistbaren Verlust und nicht auf den zu erstrebenden Gewinn der Zukunft. Da VUCA-bewusst mit eingeplant wird, dass das Vorhaben auch scheitern kann, stellt man sich die Frage: Wie viel Geld kann ich mir im Moment erlauben zu verlieren, um ein Vorhaben zu realisieren? Der Invest überschreitet damit niemals die Grenze der Selbstgefährdung. Benötigt man für ein Vorhaben mehr Kapital, als einem selbst zur Verfügung steht, so begibt man sich effektuierend gedacht nicht in eine Schuldnerabhängigkeit. Vielmehr sucht man sich vertrauensvolle Partner (siehe auch Punkt 4), die bereit sind (ebenfalls ohne Selbstgefährdung) mit in den Invest zu gehen, und dafür zu gleichen Anteilen auch am Gewinn beteiligt werden. Auf diese Art und Weise werden im Effektuieren Investitionsrisiken geteilt und in der Kooperation finanzielles Überleben gesichert.

3. Nutzung von Umständen und Zufällen

Aus den gerade geschilderten zwei ersten Prinzipien dürfte sich fast von selbst erklären, wie die beiden Denkweisen mit Umständen und Zufällen umgehen. Da wir im linear-kausale Denken ein festes Ziel setzen und einen genauen Plan des Mittelaufbaus und des finanziellen Invests festlegen, müssen wir auch versuchen, die real auftretenden Umstände zu kontrollieren und Zufälle zu vermeiden. Jeder Zufall kann unser Vorhaben durchkreuzen, da er eine Planabweichung bewirken kann. Wenn sich die realen Umstände der Zukunft anders gestalten, als in unseren Annahmen, so müssen wir unseren Plan der Zielerreichung, im schlimmsten Fall sogar unser Ziel anpassen. In einem früheren Blog-Beitrag habe ich die Grundlagen dieses Denkens ausgehend von dem preußischen Feldherrntheoretiker Clausewitz bereits skizziert.

Es wird jedoch in der VUCA-Situation immer problematischer, die Umstände der Zukunft zu kontrollieren. Aufgrund von steigender Volatilität und Komplexität ist es immer wahrscheinlicher, dass uns Zufälle überraschen und wir morgen vor anderen Realitäten stehen, als heute angenommen. Es ist daher wesentlich hilfreicher, in der VUCA-Situation ein (im positiven Sinne) opportunistisches taktisches Vorgehen zu wählen, wie ich es in dem eben erwähnten Blog-Beitrag mit dem antiken chinesischen Militärstrategen Sun Tzu personifiziert habe.

Dieser beschrieb bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden einen effektuierenden Strategieansatz, in dem der Stratege sich als offen für Zufälle erweist, da er jeweils auf der Höhe der Zeit aus dem realen Moment heraus Entscheidungen für das weitere Vorgehen trifft. Wer ausgehend von den bereits vorhandenen Mitteln nicht auf nur ein Ziel fixiert ist, sondern in einem breiteren Zielkorridor mehrere Optionen ansteuern kann, und wer gleichzeitig ohne Schuldnerbindung und Angst sich zu ruinieren flexibel reagieren kann, der ist auch (weitgehend) unabhängig von den Umständen, in denen er sich in der Zukunft befinden wird. Damit kann dann jeder Zufall als Option begriffen werden. In diesem Zusammenhang stellt eine veränderte Situation keine Krise des Plans dar, sondern immer eine Chance für das weitere Vorgehen (vgl. die doppelte Wortbedeutung im Chinesischen).

4. Vertrauensvolle Partnerschaften

Im linear-kausalen Denken fragen wir: Wen brauche ich, um mein Vorhaben zu realisieren? Wir suchen im anderen das fehlende Puzzleteil zu unserem Vorhaben. Wir wollen hierbei ganz genau definieren können, wozu wir den anderen brauchen. Im Unternehmenskontext wird genau dies in oft endlos geführten Schnittstellendiskussionen getan. Da wir »von oben« zu einem klar definierten Ziel verpflichtet wurden, haben wir »ein Recht darauf«, von anderen, am Prozess beteiligten Parteien unterstützt zu werden. Wenn wir diese Unterstützung nicht erhalten, so fordern wir sie ein – verbunden mit den oft heftigen und lähmenden Streitereien einer Silokultur.

In der VUCA-Situation wird der Umgang mit anderen zu einer der wichtigsten Kompetenzen. Ich habe daher die Interaktivität als eine der sechs Grundhaltungen eines erfolgreichen VUCA-AIKIDO vorgeschlagen. Wenn alle Pläne und Vorhaben zusammenbrechen, so ist es hilfreich, ein breites Netz vertrauensvoller Beziehungen zu haben, das einen im Notfall auffängt und trägt.

Jemand, der effektuiert, versucht nicht Schnittstellen zu definieren, sondern breite Nahtstellen zu schaffen. Er sucht nach Menschen, die er (wert-)schätzt, zu denen er feste Vertrauensbeziehungen aufbauen kann. Saraswathy hat dieses Vorgehen mit dem Bild von einer Flickendecke visualisiert: Man näht eine Decke aus fest verbundenen individuellen Einzelteilen, die gemeinsam tragfähig sind. Die zentrale Frage beim Effektuieren ist: Mit wem verstehe ich mich gut, wem vertraue ich und wer ist bereit mitzumachen? Ein Netz aus vertrauensvollen Partnerschaften ist eines der zentralen Mittel, mit denen aus der Gegenwart heraus in die Zukunft hinein effektuiert werden kann. Es potenziert das eigene Potenzial und sichert gleichzeitig in den Unwägbarkeiten der VUCA-Welt.

Im Moment zu leben ist eine kulturelle Grundstärke von Prekariatsexperten. Es dürfte klar geworden sein, welcher Vorteil im effektuierenden Handeln auch für die Wirtschaftswelt liegt: Wo das linear-kausale Denken immer eine planbare Zukunft und ein stabiles Umfeld benötigt, bietet die VUCA-Situation ein ideales Feld für das Effektuieren. Im effektuierenden Mindset gedacht stellt sich VUCA nicht als Problem, sondern als Chance dar. Ausgehend von dem, was bereits da ist, eröffnen sich ein breites Spektrum der Optionen, Möglichkeiten und Wege. Die Zukunft ist immer offen – es ist und bleibt an uns, wie wir sie aus dem Moment heraus gestalten …

Johannes Ries

Sowohl agil als auch lean – beidhändig agieren ohne janusköpfig zu werden!

Bewährtes wirksam und Neues möglich machen.
(Langjähriger Claim der SYNNECTA)

Organisationale Ambidexterität. Mit diesem etwas sperrigen Wort haben in den 1970er Jahren Robert Duncan, in den 1990er Jahren James March und vor kurzem einige weitere Autoren eine zentrale Zukunftskompetenz von Organisationen bezeichnet. Das Wort Ambidexterität stammt von lateinisch ambo (beide) und dexter (rechte Hand) und bezeichnet die Fähigkeit, mit beiden Händen gleich gut hantieren zu können. In den Unternehmenskontext übertragen sind ambidexterische Organisationen gleichzeitig effizient und flexibel bzw. anpassungsfähig. Sie können sowohl das Bestehende maximal ausnutzen (exploitation) als auch Neues erkunden (exploration).

Bisher habe ich mich in meinen Blog-Beiträgen vor allem auf den Pol der Anpassungsfähigkeit und das Explorationspotenzial von Unternehmen in einer von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) gezeichneten Situation konzentriert, auf der Suche nach adäquaten Verhaltensweisen eines VUCA-Handlings, zum Beispiel in den Bereichen Strategie, Organisation, Zusammenarbeit oder Führung. Ich bin auch weiterhin überzeugt, dass Unternehmen in Zukunft immer stärker mit VUCA konfrontiert sein werden und damit die exploration immer wichtiger werden wird. Gleichzeitig meine ich damit jedoch nicht, dass die exploitation aus den Augen zu verlieren sei. Unternehmen werden weiterhin auch zu guten Teilen in von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) geprägten Umfeldern agieren. Und in der SSEE-Situation ist es sinnvoll, in anderer Art und Weise zu agieren, als in der VUCA-Situation.

Um den richten Ansatz wählen zu können, ist es zunächst wichtig zu wissen, in welcher Situation man sich denn überhaupt befindet. Die nach Ralph Stacey benannte Stacey-Matrix kann hier hilfreich sein: Stacey korreliert die Ausprägung der Einigkeit über den Weg (agreement) und den Grad der Sicherheit des Weges (certainty). Sind sich etwa alle Beteiligtenim Unternehmen einig, welcher Weg gegangen werden soll, und ist auch klar, wie man diesen Weg zu gehen hat, so befindet sich die Organisation in einer einfachen Situation, in der es Sinn macht, auf erprobte Standards zurückzugreifen, diese einem engen Monitoring zu unterwerfen und kontinuierlich zu verbessern.

Anders verhält sich die Situation, wenn Uneinigkeit über den Weg herrscht – etwa aufgrund einer hohen Diversität unter den Stakeholdern. Wenn dann zusätzlich noch der Weg zur Erreichung der Ziele zunehmend unsicher wird – etwa wenn nicht genügend Informationen vorliegen oder zielführende Technologien erst entwickelt werden müssen – so gerät die Organisation immer mehr in eine komplexe Situation (steigen Uneinigkeit und Unsicherheit beide ins Maximale, so wird das Umfeld sogar chaotisch). In der komplexen Situation helfen Standards nur wenig. Hier ist es sinnvoller, durch offene Formen der Zusammenarbeit Wege »auszuhandeln« sowie Kreativität und Innovation zu fördern.

Ähnlich unterscheidet der Waliser Dave Snowden in seinem Cynefin Framework vier unterschiedliche »Lebensbereiche« von Organisationen: einfache und komplizierte Bereiche sind übersichtlich genug, um hier aus best bzw. good practices klar abzuleiten, was zu tun ist. Hingegen steigt die Unklarheit in komplexen und noch mehr in chaotischen Bereichen so stark an, dass hier nur noch emergent bzw. novel practices helfen. Der Unterschied zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Bereichen liegt in folgendem Vorgehen: In einfachen und komplizierten Bereichen nehme ich wahr, was passiert, kategorisiere bzw. analysiere dann die wahrgenommene Wirklichkeit und gestalte an den Ergebnissen orientiert meine Reaktion. In komplexen und chaotischen Bereichen hingegen beginne ich mit dem Testen bzw. Agieren. Erst danach nehme ich wahr, was passiert ist und gestalte dann daran orientiert meinen nächsten Schritt der Reaktion.

Sowohl die Stacey-Matrix als auch der Cynefin Framework können in Unternehmen sehr hilfreich sein, um die aktuelle Situation etwa einer Projektlandschaft zu identifizieren. In Workshops habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, mit den Teilnehmenden die einzelnen (Teil-)Projekte an Pinnwänden der Stacey-Matrix oder den vier Cynefin-Feldern zuzuordnen. Danach kann meist besser entschieden werden, welches Vorgehen sich für das jeweilige (Teil-)Projekt am besten eignet.

Denn in einfachen und komplizierten Bereichen bietet es sich an, in exploitation Effizienzen durch Standardisierung zu heben, da die notwenige Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) gegeben ist. Hier machen Effizienzprogramme, etwa aus dem Lean-Umfeld, Sinn. In komplexen Bereichen hingegen, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) geprägt sind, eignet sich am besten die exploration agiler Arbeitsweisen.

Ich möchte hier nicht ins Detail der Lean- bzw. agilen Ansätze gehen, sie jedoch kurz in Abgrenzung zueinander skizzieren. Aus der Automobilindustrie stammend und auf Serienfertigung und Massenproduktion fokussiert, versucht der Lean-Ansatz ein schlankes Unternehmen zu schaffen, das durch optimierte Prozesse und kontinuierliche Verbesserung so kostengünstig wie möglich und in bester Qualität mit schnellster Durchlaufzeit produziert. Zur Hebung von Effizienzen werden dabei kontinuierlich sogenannte Verschwendungen identifiziert und ausgemerzt. Eine wichtige Rolle spielt die Standardisierung, durch welche Veränderungen reduziert werden sollen und volle Prozesssicherheit generiert werden soll. Gleichzeitig herrscht im Unternehmen idealiter volle Transparenz über alle Kennzahlen.

Im Gegensatz dazu stammen agile Ansätze vor allem aus dem IT-Umfeld zur Generierung von Einzelprodukten (die anschließend »geklont« werden können). In iterativer Vorgehensweise entsteht unter starker Einbindung des Kunden das Produkt als kontinuierliches Inkrement Schritt für Schritt, von der ersten, rudimentär funktionierenden Rohversion bis hin zur finalen Fassung. Dabei erhält das agile Vorgehen volle Flexibilität, vor allem, um in Reaktion auf geänderte Rahmenbedingungen Veränderungen am Produkt schnell und kostengünstig umsetzen zu können. In kurzen Zyklen wird nach Arbeitsphasen (oft Sprints genannt) regelmäßig offenes Feedback eingeholt, um nicht zu lange in eine falsche Richtung zu laufen, sondern sich frühzeitig anpassen zu können.

Meiner Erfahrung nach kämpfen agile Ansätze in Unternehmen oft (unbegründet) gegen eine Fama des Chaos und der Anarchie – sie werden jedoch meist nicht als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegensatz dazu fürchtet bei Ankündigung eines neuen Lean-Projekts oft jeder zweite Mitarbeiter um seinen Arbeitsplatz oder geht zumindest davon aus, dass nun »härtere Zeiten« anbrechen. Die Schaffung von Transparenz wird nicht selten als Zunahme an totalitärer Kontrolle erlebt. Dies ist insofern nicht unbegründet, als in Europa viele Lean-Projekte tatsächlich nicht dem Mindset der ursprünglichen, aus Asien stammenden Lean-Philosophie verpflichtet zu sein scheinen: Oft handelt es sich bei Lean-Programmen in europäischen Unternehmen tatsächlich um squeezeouts, nach denen der Gürtel enger geschnallt werden muss. Und nicht selten werden diese mit Hilfe von mit Stoppuhr bewaffneten Beratern von außen initiiert und dann unter starker Nutzung von hierarchischer Autorität von oben nach unten in die Organisation »geprügelt«.

Derart implementierte Lean-Programme geraten dann in einen signifikanten Widerstreit zu agilen Ansätzen: Agiles Arbeiten auf Druck von oben ist nicht möglich. Zu sehr ist Selbstorganisation im Team und Pirate Leadership zentrale Grundbedingung für agiles Arbeiten: Denn nur so kann (dem Ashbyschen Gesetz folgend) die externe Komplexität des Umfelds organisationsintern hinreichend abgebildet werden, um die Steuerungshoheit zu behaupten.

Ich komme zurück auf die eingangs vorgestellte organisationale Ambidexterität: Simultan lean und agil agieren zu können erlaubt einem Unternehmen tatsächlich die Beidhändigkeit von exploitation und exploration. In der heutigen, eben kurz angerissenen Anwendung von Lean-Ansätzen liegt jedoch in vielen Unternehmen eine massive Barriere für die Realisierung von Ambidexterität: Anstatt die Vorteile der Beidhändigkeit zu realisieren, etablieren Unternehmen vielfach ungewollt eine Janusköpfigkeit und sprechen mit gespaltener Zunge. Wenn von Mitarbeitern auf der einen Seite verlangt wird, sich selbst zu organisieren, hierarchiefrei zu kommunizieren und kreativ zu denken (um exploration und Agilität zu realisieren), gleichzeitig jedoch mit harter Hand Effizienzprogramme in die Organisation gedrückt werden (und exploitation nur im wahrlich negativen Wortsinn betrieben wird), so treten in der gleichen Organisation zwei fundamental gegensätzlich gelagerte Führungsdiskurse in Konkurrenz. Dieser Widerstreit kann dann nicht zu Ambidexterität führen, sondern generiert einem organisationskulturellen double bind, der die Mitarbeiter verunsichert und die Organisation lähmt.

Der Janusköpfigkeit kann jedoch vorgebeugt werden, wenn sich Unternehmen bei der Durchführung von Lean-Projekten auf die Denkhaltung fokussieren, die der asiatischen Lean-Philosophie ursprünglich zugrunde liegt. In ihr findet im schlanken Unternehmen ein tatsächliches Empowerment der Mitarbeiter statt. Diesen wird in großem Umfang Eigenverantwortung zur Hebung der Effizienzpotenziale übertragen. Ihre Teamarbeit steht stark im Vordergrund und Führungskräfte verstehen sich als Unterstützer und Dienstleister der Mitarbeiter. Die geschaffene Transparenzkultur wird dann nicht als Bedrohung erlebt (da sie kein Kontrollinstrument autoritärer Führung ist), sondern dient gepaart mit offenem Feedback in einer gesunden Fehlerkultur tatsächlich der ständigen Verbesserung. All dies ist dann kompatibel mit agilen Ansätzen.

Mit dieser Geisteshaltung zeigen Lean- und agile Ansätze in einem Unternehmen beide das gleiche, wertschätzende und kalkulierbare Gesicht der Führung. Sie sprechen nur mit einer Zunge eine eindeutige Sprache der verlässlichen Organisationskultur. Innerhalb dieser können Mitarbeiter dann mit beiden Händen kraftvoll zupackend sowohl die SSEE-Welt effizient bewirtschaften, als auch die VUCA-Welt erfolgreich erschließen.

Johannes Ries

Neue Führung für eine neue Welt – Ein Diagnoseinstrument zum Thema VUCA

Follow-ups

Planungsunsicherheit, Forderung nach schnellerer Anpassung, hohe interne Flexibilität, abrupte Strategieanpassungen prägen die heutige und kommende Führungssituation. VUCA ist das Kunstwort, mit dem diese Situation beschrieben wird. Ist Ihre Organisation darauf vorbereitet?

Wir experimentieren seit letztem Jahr mit Diagnosetools zur Standortbestimmung: Wie sehr sind Organisationen eigentlich auf diese Situation vorbereitet. Ein Bericht aus der Entwicklung der Instrumente zum geleiteten Zukunftsscheck für Unternehmen.

Rüdiger Müngersdorff

Ein Diagnoseinstrument zum Thema VUCA

Befinden wir uns in unserem Unternehmen wirklich im VUCA-Zustand? Ist die Situation meines Unternehmens tatsächlich so volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig?

Wie wird dies von den Mitarbeitern und Führungskräften in meinem Unternehmen wahrgenommen? Und gibt es dabei Unterschiede je nach Betrachtungsgegenstand – die Organisation als Ganzes, das eigene Team, der einzelne Mensch? Was wird dabei als besonders herausfordernd beschrieben und wo haben sich bereits erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt?

Wir haben in mehreren Blogbeiträgen das VUCA-Phänomen greifbar gemacht und mögliche Lösungsstrategien aufgezeigt. Bevor nun ein Unternehmen oder eine Organisationseinheit Maßnahmen ergreift, um in der postulierten VUCA-Welt besser zurecht zu kommen, macht es Sinn die eingangs formulierten Fragen zu klären und erst dann über mögliche Konsequenzen und Interventionen nachzudenken.

Eingeleitete Reflektion zum Status der eigenen Organisation ist hier sehr hilfreich. Aus diesem Grund haben wir im Vorfeld unserer letzten SophiaWerkstatt im ersten Schritt einen Fragebogen entworfen. Dieses Tool hilft herauszufinden, wie die Situation von Menschen im Unternehmen aktuell erlebt wird. Es geht also weniger um die Messung und Bewertung von objektiven VUCA-Indikatoren, als vielmehr um subjektive und individuelle Wahrnehmungen.

VUCA wird häufig als Beschreibung der äußeren Welt bzw. des organisationalen Kontextes eines Unternehmens herangezogen, so etwa wenn die zunehmende Volatilität der Märkte Planung erschwert, da sich notwendige Annahmen und Vorhersagen als nicht besonders valide erweisen. Derartige externe Faktoren gibt es viele, jedoch spielen häufig auch interne, in dem Sinne »hausgemachte« Ursachen eine nicht unwichtige Rolle. Bestimmte Strukturen, Prozesse, kulturelle Muster und Verhaltensweisen können ebenso dazu führen oder verstärkend dazu beitragen, dass Mitarbeiter und Führungskräfte ihr Umfeld als wenig stabil, sicher, einfach und klar erleben. Dies kann zu vielfältigen dysfunktionalen Verhaltensweisen führen und die Reaktionsfähigkeit des Unternehmens auf die beschriebenen Unsicherheiten der Außenwelt einschränken. Hierauf liegt der besondere Fokus des Fragebogens.

In Zusammenarbeit mit der University of Manchester verfeinern wir gemeinsam mit Carolin Hauner im Rahmen ihrer Masterarbeit das VUCA-Diagnoseinstrument und spezifizieren auch den Fragenbogen weiter. Auch in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirtschaft soll abgesichert werden, dass am Ende ein hilfreiches Instrument zu Verfügung steht. Falls Sie Interesse haben, sich an diesem Prozess im Sinne der Co-Creation zu beteiligen, besprechen wir gerne Details und ein mögliches Vorgehen mit Ihnen.

Falls Sie gerne den VUCA-Fragebogen bei Ihnen einsetzen möchten, um ein erstes Bild zu erhalten, wie die VUCA-Situation bei Ihnen im Unternehmen erlebt wird, melden Sie sich gerne unter diagnostics@synnecta.com.

Thomas Meilinger
SYNNECTA Diagnostics

AIKIDO Leadership

Vor einiger Zeit habe ich in diesem Blog unter dem Stichwort VUCA-AIKIDO sechs Grundhaltungen für eine neue Souveränität im Unternehmen vorgestellt. Diese haben ein AIKIDO Mindset skizziert, mit welchem Mitarbeitende im Unternehmen der VUCA-Situation gestärkt begegnen und in der VUCA-Situation selbst handlungsfähig bleiben können.

Die vorgestellten Grundhaltungen sind auf positives Echo gestoßen. Diskussionen mit KundInnen, ProjektpartnerInnen und KollegInnen, nicht zuletzt sehr intensiv auf der letzten Sophia motivieren dazu, die Grundhaltungen weiter zu denken. Für den Unternehmenskontext ist vor allem interessant, wie Führungskräfte dieses AIKIDO Mindset in ihrer Führungsarbeit wirksam machen können. Wie kann ich die mir anvertrauten MitarbeiterInnen durch eine negativ erlebte VUCA-Situation führen? Und wie kann ich gleichzeitig mein Team befähigen, das positive Potential von VUCA zu nutzen?

In den folgenden für die Führungsposition zugespitzten Prinzipien mögen erste Antworten liegen:

AIKIDO Leadership

AGILISIEREN Ich fördere Selbstverantwortung und Intrapreneurship. Ich verschaffe meinem Team Freiraum und unterstütze seine Selbststeuerung. Ich sorge für Selbstreflexion.

INTUITION NUTZEN Ich habe einen authentischen Führungsstil. Ich bin mit meinen MitarbeiterInnen im Dialog über ihre Gefühlslage. Ich gehe konstruktiv mit Fehlern um und verantworte sie. Ich investiere in Spiel und Experiment.

KLARHEIT SCHAFFEN Ich erzähle eine gute Führungsgeschichte. Ich stifte Sinn und gebe durch Werte Handlungsorientierung. Ich kuratiere die mir wichtigen Themen.

INTERAKTION FÖRDERN Ich schenke meinen MitarbeiterInnen Vertrauen. Ich gebe und bitte um offenes Feedback. Ich vergemeinschafte meine MitarbeiterInnen. Ich führe im Schulterschluss mit KollegInnen und fördere Co-Creation.

DIVERSITÄT AUFBAUEN Ich suche »unpassende« MitarbeiterInnen und investiere in den Unterschied. Ich rege meine MitarbeiterInnen zum konstruktiven Widerspruch an. Ich pflege und fördere das Denken und Handeln in Optionen.

ORGANISMEN PFLEGEN Ich stimuliere kontinuierlich Veränderung und agiere prozessorientiert. Ich erzeuge Emergenz durch intensive Vernetzung. Ich sorge für Balance und Rhythmus.

Johannes Ries

Sinnstiftende Klarheit: Ein Plädoyer für das Erzählen als Führungsinstrument (VUCA-Handling VI)

Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte.
Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange …

(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Mythen haben in unserer aufgeklärten, modernen Welt keinen Platz mehr – sie werden durch Tatsachen verdrängt. Gemeinhin wird der Mythos als »falsches Bewusstsein« und Widersacher des Logos verfemt. Während letzterer sich auf die Realität und ihre rationale Verarbeitung konzentriert, verzerrt der Mythos die Fakten und baut aus ihnen bzw. um sie herum ein Fanatasiegebäude. Das lassen wir in Form von Märchen vielleicht noch in der Welt unserer Kinder gelten. In der Normalität des Alltags jedoch erkennen wir keinen Mehrwert des Mythos.

Konsequenterweise geben auch Unternehmen immer Logik und Kalkulation den Vorzug. Ihre Welt funktioniert auf der Basis von Fakten und Daten, die mit Vernunft und Rechnung schlüssig verarbeitet werden können. Ein »Bauchgefühl«, ein »Wittern« von Gefahr oder ein »Riecher« für eine Gelegenheit überzeugen keinen Vorstand. Wer sich im Unternehmensdiskurs intuitiv äußert, wird erst einmal dazu verdonnert, seinen Instinkt mit einem aufwändigen Business Case und mit validen Zahlen zu belegen. Unternehmen werden aber nicht nur zahlenbasiert gesteuert, sie werden immer datenintensiver: Softwarebasierte Strategiecockpits lassen detaillierte KPI-Checks zu. Die erfolgsabhängige Vergütung wird an logisch abgeleitete Zielkaskaden und Performancebewertungen gehängt, welche die erbrachte Leistung bzw. den Zielerreichungsgrad messen und in Bonus umrechnen. Projekterfolge müssen bereits im Voraus über genaue Zieldefinitionen und Kennzahltabellen belegbar gemachtwerden …

Unternehmen profitieren davon, dass die logische Vermessung unserer Welt auch in den Märkten und Konsumentensegmenten immer mehr Daten generiert. Durch Webtechnologie werden Menschen hinsichtlich ihres Konsumprofils, Such- und Leseinteresses, Gesundheitszustands, Freundeskreises, Reiseverhaltens etc. immer transparenter. In der Korrelation dieser Daten werden Profilgruppen in ihrem Verhalten gleichzeitig auch immer berechenbarer. Konsequent rief 2008 der Chefredakteur des Wired Magazine Chris Anderson das »Ende der Theorie« aus: Heute benötigen wir keine Theorie mehr, da wir mittlerweile über so große Datenmengen verfügen, dass wir Antworten auf Fragestellungen einfach statistisch ausrechnen und Prognosen für die Zukunft computertechnisch simulieren können. Hypothesen werden hinfällig, da Daten sofort abgeglichen werden können. »Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do what they do? The point ist they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves.«

Jedoch: Alle zwei Jahre verdoppelt sich das globale Datenvolumen und wird damit zunehmen zu Big Data, um eine der neuesten Phrasen für die Beschreibung einer zentralen Herausforderung in der Unternehmenswelt zu dreschen. Eine neue Industrie arbeitet mittlerweile daran, Unternehmen Software und Technologien anzubieten, die ihnen in der Auswertung der immer größer werdenden, an Komplexität zunehmenden und sich schnell wandelnden Datensätzen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Logische Algorithmen versuchen die Flut der Daten zu bändigen.

Jedoch bei aller Technologie: Mehr Information heißt nicht automatisch mehr Wissen. Die zunehmende Berechnung der Unternehmenswelt führt bei ihren Bewohnern nicht automatisch zu einem gesteigerten Gefühl der Sicherheit. Sicherheitsgefühl und Wohlergehen lassen sich nicht allein an nackte Zahlen binden. Denn Zahlen können zwar ein »Was?« ausleuchten, nicht jedoch das sinnstiftende »Warum?«, wie die leitende Wissenschaftlerin von Microsoft Research, Dannah Boyd beharrlich konstatiert. »Dataismus ist Nihilismus«, schreibt daher der Philosoph Byung Chul Han. »Sinn beruht dagegen auf der Narration«, auf einer guten Geschichte. »Zählung ist nicht Erzählung. (…) Nicht Zählen, sondern Erzählen führt zur Selbstfindung oder zur Selbsterkenntnis.« In das gleiche Horn stößt der Chaosforscher und Psychologe Andreas Huber: Er konstatiert, dass wir die gesteigerte Komplexität unserer VUCA-Welt nur noch über ein metaphorisches Denken verstehen und beschreibbar machen können. So gesehen kündigt Chris Anderson mit seinem einseitigen Lob der Datenmessung und der Verabschiedung jeder Theorie das sinnvolle (genauer: Sinn-volle) Arbeiten auf.

Die Logik der Fakten und Zahlen stößt genau hier an ihre Grenzen. Sie kann nicht erzählen. Sie kann nicht metaphorisch denken. Sie kann nicht die Sinnfrage stellen. Das alles kann aber der Mythos. Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass Unternehmen in der VUCA-Situation in erhöhtem Maße eine – wie es Hans Blumenberg nennt – »Arbeit am Mythos« benötigen, um mit dem verwirrenden »Absolutismus der Wirklichkeit« fertig zu werden. Dabei geht es mir nicht darum, den Logos durch den Mythos zu ersetzen; ich plädiere lediglich dafür, dass neben allen sinnvoll eingesetzten Daten-, Mess- und Analyseinstrumenten eine narrative Struktur Mitarbeitenden tiefgreifende Orientierung bieten kann – auch bzw. vor allem dann, wenn kein konkretes Ziel in Sicht ist und/oder der genaue Weg im Dunkeln liegt. Ich glaube, dass Führungskräfte mit einem Fokus auf das Erzählen im Unternehmen eine richtungsweisende Klarheit schaffen können, die für Mitarbeitende intuitiv erfassbar ist und ihnen gleichzeitig genügend Freiraum zum Handeln lässt.

In diesem Blog habe ich sechs AIKIDO-Prinzipien formuliert, mit denen Menschen und Unternehmen VUCA wirksamer begegnen können. Der Mythos ist kompatibel mit den ersten drei Grundhaltungen Agilität, Klarheit und Intuition. Als Erzählung, mit der die Welt und das Dasein in sinnvollen Bezug gesetzt werden, spielt der Mythos seit jeher eine kulturstiftende Rolle. Ohne etwas logisch zu belegen, konzentriert er sich auf die Wahrheit hinter den Fakten. Er äußert sich assoziativ in Bildern und Symbolen und spricht als Musik in Worten (Kerenyi) über den Inhalt eine intuitiv erfassbare und empathisch erfahrbare Sprache. Dabei liefert der Mythos einen einfachen Grundtext, der in seiner konkreten Ausformulierung ständig variabel bleibt. »Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird«, schreibt Levi-Strauss, einer der bekanntesten Mythenforscher. Das heißt: jeder Mensch kann grundsätzlich einen Mythos kreieren bzw. ihn auf seine persönliche Art und Weise erzählen. Der Inhalt des Mythos liefert eine sinnhafte und Sinn stiftende Vorlage, die das »Warum?« beantwortet. Er transportiert gleichzeitig ein Wertegerüst, an dem Menschen ihr Handeln ausrichten können. Während Daten einen differenzierten, logischen Realitätssinn erlauben, hilft der Mythos dabei, Inhalte zu filtern, Mitarbeitende zu zentrieren und auf das Wesentliche zu fokussieren. Darin liegt seine grundsätzlich klärende Kraft. Dabei erlaubt der Mythos jedoch stets Freiraum für bewegliches Agieren und geht damit konform mit einem dritten AIKIDO-Prinzip der Agilität. Seine Aussagen bleiben an das konkrete, bildhafte Ereignis der Erzählung gebunden, erfolgen also immer nur exemplarisch und erlauben Interpretation. Ein Mythos stellt niemals eine Prozessbeschreibung oder ein Regelbuch zur Verfügung sondern verbildlicht exemplarisch Prinzipien, die vom Menschen selbst in der konkreten Situation in Verhaltensregeln übersetzt werden müssen.

In der VUCA-Situation können Führungskräfte also durch eine intuitiv wirkende, klärende Erzählung die Kraft des Mythos wirksam machen. Als Minimalstruktur für eine Führungserzählung schlage ich dabei folgende, in der Beratungspraxis bewährte Storyline vor:

  1. Situationsbeschreibung: Was ist unsere aktuelle Herausforderung?
  2. Purpose Statement: Welchen Sinn stiften wir gemeinsam?
  3. Value Statement: Welche Grundwerte dienen unserem Tun als Leitplanken?
  4. Leadership Statement: Wie führe ich Euch auf dem Weg, worauf könnt Ihr bei mir vertrauen?

Man beachte, dass die Führungserzählung von Volatilität und Zukunftsungewissheit nicht »angreifbar« ist. Denn sie fragt nicht konkret: Welches Ziel haben wir? Welche Regeln wenden wir an? Was sind meine Erwartungen? Sie bleibt in ihrer zieltechnischen Zukunftsbeschreibung bewusst fuzzy, ist jedoch aus dem Moment heraus verhaltensorientierend.

Eine gute Führungserzählung findet kurze, pointierte Antworten auf die Fragen und ist im Kern in maximal einer Minute erzählt. Die Kürze der Erzählung hilft der Zuspitzung der Inhalte und schafft Eingängigkeit. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass sich Führungskräfte ihre Führungsgeschichten gegenseitig vortragen und anschließend Feedback geben, um die Wirkung ihrer narrativen Struktur zu testen.

Der Inhalt der Führungserzählung wird idealerweisemit Metaphern angereichert. Eine gute Erzählung öffnet oder schließt mit einer Assoziation, einem Symbol, einem Motto, einem Leitspruch … Die Statements zu Purpose, Value und Leadership können und sollten nicht nur über Worte als Geschichte erzählt, sondern in Bildern illustriert, in Assoziationen emotionalisiert, in Gegenständen symbolisiert, in Erfahrungen empathisch begreifbar gemacht werden.

Mythen werden nie nur einmal vorgetragen. Sie leben davon, dass sie immer wieder erzählt werden – mit gleichem Inhalt jedoch auf immer neue Art und Weise. Erfolgreiche Kommunikation lebt von Redundanz, von Wiederholung, von Doppelung. Erzählen heißt nicht, dass ich eine Powerpointpräsentation halte und die Folien zur Verfügung stelle. Oder dass ich eine Hochglanzbroschüre drucken lasse und sie auslege. Die Erzählung bedarf der Oralität. Um wirksam zu werden, müssen Führungskräfte mit ihrer Erzählung immer wieder spontan in Gespräche einsteigen, Meetings inspirieren, das Kantinengespräch beleben, den Flurfunk positiv besetzen … Der Inhalt bleibt dabei gleich, die Art der konkreten Erzählung wird jedoch je nach Situation spontan angepasst. Überall dort, wo erzählt werden kann, kann der gleiche Erzählkernso auf vielfältige Art wuchern.

Social Media bieten – bei allen Vorbehalten und aller Abneigung, die man gegen sie hegen mag – eine zusätzliche attraktive Kommunikationsplattform für Führungskräfte, um ihre Erzählungen fruchtbar zu platzieren und damit ihre Mitarbeitenden erzählend zu orientieren. Facebook und Co. zeigen, welche Attraktivität das Erzählen gegenüber dem Zählen hat. Statistiken, Balkendiagramme, Zahlenkolonnen sind in diesen sozialen Medien quasi nicht existent. Dafür werden die Posts von Filmschnipseln, Bildern, Sinnsprüchen, Klatschgeschichten, Kurzinformationen dominiert. In sozialen Netzwerken tippen die Nutzer zwar am Computer ihre Botschaften; die Plattformen wirken jedoch nach Gesetzen des gesprochenen Wortes. Im Gegensatz zu hierarchischen, statusorientierten Bürokratien haben orale, community-basierte Netzwerke eine viral wirkenden Kommunikationsstruktur: Durch die strukturierte Gleichheit aller Teilnehmer verbreitet sich hier die Botschaft am schnellsten, die den attraktivsten Inhalt hat.

Genau hier kann sich der narrative Vorteil einer Führungserzählung entfalten: In Social Media kontinuierlich den mit Purpose, Value und Leadership Statment korrespondierenden Filmclip, das adäquate Zitat, das aussagekräftige Bild, das paradimatische Ereignis, den zur Diskussion einladenden Link zu posten, gibt einer Führungskraft die Möglichkeit, immer wieder – aber immer wieder auf neue Art und Weise – einen orientierenden Erzählkern wiederkehren zu lassen. In diesem Sinne werden gute Führungskräfte im Digital Workspace ein neues Kompetenzprofil benötigen: Neben dem logischen Denker wird im inneren Führungsteam auch der wortgewandte Literat, der ästhetische Künstler und der kreative Bastler vertreten sein müssen.

Mit diesen Ausführungen möchte ich nicht für eine verdummende Verblendung oder unethische Manipulation von Mitarbeitenden plädieren! Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Führungskraft in die Pflicht nehmen. Es geht darum, durch erzählende Führung kontinuierlich ein Sinn-, Werte- und Führungsversprechen zu erneuern, an dem sich die Führungskraft in der Praxis messen lässt. Damit kann – so bin ich überzeugt – das Erzählen ein wertvolles Führungsinstrument werden, das Mitarbeitende in Unternehmen mit der intuitiven Klarheit des Mythos besser durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität führen kann.

Johannes Ries