Dimensionen der Agilität

»Agilität« avanciert im Moment zu einem der wichtigsten Begriffe, mit dem man beweisen kann, dass man »auf der Höhe der Zeit« ist. Mitunter provoziert man mit diesem Wort jedoch auch schon negative Abwehrreaktionen. Jenseits von Effekthascherei und Bullshit Bingo stecken hinter dem Begriff jedoch wertvolle Gedanken und Konzepte, die Teams, Organisationen und Führungskräfte in der VUCA-Situation handlungsfähig machen.

In der Diskussion merkt man oft, dass ein sehr schwammiges Verständnis von Agilität vorherrscht. Dies mag daran liegen, dass der Begriff in unterschiedlichen Kontexten durchaus unterschiedliche Nuancen trägt. Um ein wenig Klarheit in die Diskussion um und mit diesem Begriff zu bringen, möchte ich diese unterschiedlichen Dimensionen von Agilität kurz skizzieren. Am Ende des jeweiligen Absatzes verweise ich auf frühere Texte, die das jeweilige angerissene Thema weiter erhellen.

»Agil«

Schlägt man das Wort »agil« nach, so stößt man auf Synonyme wie »betriebsam´, »beweglich«, »energiegeladen«, »flink«, »geschickt«, »gewandt«, »lebhaft«, »rege«, »unruhig«, »wendig«. Dieses sehr aktive Assoziationsfeld hängt mit der Etymologie des Begriffs zusammen, denn das lateinische agilis stammt von agere für »tun«, »machen« oder »handeln«. Der derzeitige Bedeutungshorizont rührt vor allem aus der Softwarebranche, in der Programmierungs- und Projektmethoden durch alternative Ansätze »agilisiert« wurden.

Agile Mindset

2001 unterschrieben 17 Personen aus dem Programmiererumfeld das Manifest für Agile Softwareentwicklung, welches den Fokus auf vier Punkte legt: Individuen und Interaktionen werden als wichtiger erachtet als Prozesse und Werkzeuge, genauso wie ein funktionierendes Produkt größeren Stellenwert besitzt als eine umfassende Dokumentation. Mehr als jede Vertragsverhandlung wird die Zusammenarbeit mit dem Kunden favorisiert und das Reagieren auf Veränderung hat Vorrang vor dem Befolgen eines Plans. Abgeleitet aus diesem Manifest wurden 12 Prinzipien: Kundenzufriedenheit, Offenheit für Veränderung, iteratives Entwickeln, intensive Zusammenarbeit, Fokus auf ein motivierendes Umfeld, Face-to-face-Kommunikation, funktionierende Produkte als Fortschrittsmaß, gleichmäßiges Tempo, technische Exzellenz und gutes Design, Einfachheit, Selbstorganisation und Selbstreflexion. Diese Auflistung fasst gut das Mindset zusammen, welches für das Funktionieren aller agilen Praktiken und Konfigurationen notwendig ist.

Siehe ebenfalls die Blogbeiträge VUCA-Aikido, Improvisieren, Agil und lean

Agile Praktiken und Methoden

Agile Praktiken und Methoden versuchen mit ihrem jeweiligen spezifischen Ansatz, die oben genannten Prinzipien zu realisieren. In der Softwarebranche finden sich hierzu Ansätze wie zum Beispiel Adaptive Software Development, Crystal, oder Extreme Programming. Über die Softwareentwicklung hinaus wirkt mittlerweile Scrum. Wie die anderen agilen Methoden versucht deren bekanntester Vertreter Scrum die Aufwandskurve so gering wie möglich zu halten, indem ein Entwicklungsrahmen definiert wird, innerhalb dessen ein Entwicklerteam selbstorganisiert, auf empirischer Grundlage und iterativ an sogenannten Inkrementen des Produkts arbeitet. Ziel hierbei ist es, in kurzen Intervallen (sog. Sprints, max. 30 Tage) jeweils eine (Teil-)Funktion des Produkts fertigzustellen – inklusive Planung, Entwicklung, Realisierung und Test. Gemeinsam mit dem Product Owner (der die Verantwortung für das Produkt trägt) und dem Scrum Master (der dafür sorgt, dass die wenigen Scrum-Regeln eingehalten werden) reflektiert das Entwicklerteam (das selbstorganisiert die Produktfunktionialitäten liefert) regelmäßig Produkt, Prozess und Zusammenarbeit, um effizienter zu werden und voneinander zu lernen.

Agile Team

Unter einem agilen Team wird meist eine kleine Gruppe von Mitarbeitern verstanden, die ein klares gemeinsames Ziel hat, das sie ohne einen Vorgesetzten selbstorganisiert zu erreichen sucht. Dies heißt nicht, dass ein agiles Team führungslos ist. Je nach Art der Aufgabe und Situation etabliert sich im Team bzw. aus der Gruppe heraus informelle Führung: Ein Mitglied übernimmt zeitweise z.B. die thematische Führung, gibt diese jedoch wieder ab bzw. an jemand anderes weiter, wenn sich die Situation entsprechend ändert. Ein agiles Team kann, muss aber nicht unbedingt agile Praktiken und Methoden benutzen. Optimalerweise reflektiert sich jedoch ein agiles Team regelmäßig selbst und lässt sich gegebenenfalls supervidieren. Transparenz und eine offene Feedbackkultur ist grundlegende Voraussetzung, um als agiles Team arbeiten zu können. Die Zusammensetzung des Teams legt auf größtmögliche Diversität wert. Agile Teams sind idealiter interdisziplinär und crossfunktional zusammengesetzt. Unterschiedliche T-Profile der Mitglieder ergänzen sich; d.h. alle Teammitglieder teilen den gleichen Generalismus (horizontaler T-Strich), verfügen jedoch über unterschiedliche Expertisen (vertikaler T-Strich). Damit sind agile Teams bestens für komplexe Situation und unvorhergesehene Situationen vorbereitet.

Siehe ebenfalls die Blogbeiträge Multitude, Pirate Leadership

Agile Organisation

Eine agile Organisation ist bestrebt, so nah wie möglich am Kunden die Werte und Prinzipien des Agilen Manifests zu realisieren. Ohne dass es hier eine klare Definition gibt, werden die meisten agilen Organisationen als dezentralisierte Organismen beschrieben, die »die Macht« vom Zentrum in die Peripherie verschieben. Kleine, selbstverantwortliche und autonome Einheiten »docken« nah am Kunden »an«, um schnell dessen Wünsche zu erkennen und zu erfüllen. Diese »Zellen« sind voneinander unabhängig, womit der gesamte Organismus nicht in Gefahr gerät, wenn es einer Einheit schlecht geht. Gleichzeitig können sich die kleinen Organisationsteile jedoch in Kooperation mit anderen zusammenschließen, wenn dies für alle Vorteile bringt. Mit dieser Struktur ist die gesamte Organisation schnell auf- und abbaufähig, sie kann schnell »nach oben« oder »unten« skaliert werden. Im Zentrum der Organisation ist eine Serviceplattform bestrebt, Synergien der Organisationsteile zu bündeln und für die Peripherie dienstbar zu machen. Gleichzeitig werden alle Organisationseinheiten in ein dichtes Netzwerk miteinander eingesponnen, um voneinander zu lernen.

Siehe ebenfalls den Blogbeitrag Organismus

Agile Strategy

Jenseits von exakter Planung definiert eine agile Strategie eine fuzzy vision (Bouée), die breit genug ist, um unterschiedliche Wege zu ihr zuzulassen. Der Weg dorthin wird vor allem effektuierend angegangen. Man orientiert sich an den Mitteln, die bereits vorhanden sind und identifiziert das Potenzial aller möglichen Zieloptionen. Die finanzielle Planung fokussiert sich nicht auf den Return on Invest, sondern auf den maximal leistbaren Verlust, um Risiken zu minimieren. Die Implementierung der Strategie wird iterativ Schritt für Schritt mit effizienten Taktiken gegangen unter Nutzung (und nicht unter Ausschaltung) von Umständen und Zufällen. Feste Grundlage einer solchen effektuierenden Strategie ist der Aufbau vertrauensvoller Partnerschaften, welche Co-Creation nutzen und Risikominimierung erlauben.

Siehe ebenfalls die Blogbeiträge Chinesische Strategie, Erzählen, Effektuieren

Agilität Führen

Um Agilität in alle ihren Dimensionen realisieren zu können, bedarf es einer alternativen Form der Führung. Die Führungskraft stellt sich nicht mehr über das Team und an die Spitze der Organisation, sie führt nun von der Seite bzw. aus der Mitte heraus. Eine Agilität fördernde Führungskraft vertraut auf und ermächtigt das Potenzial intrinsischer Motivation im Mitarbeiter und der Fähigkeiten von Individuen und Gruppen, sich selbst zu organisieren (Theory Y). Sie kuratiert Themen, steht als Coach dem Team zur Verfügung und gibt und nimmt detailliertes und intensives Feedback. Solche Führungskräfte verstehen sich als Gärtner der Organisation: Sie hegen und pflegen eine Kultur des Vertrauens und der Wertschätzung, in welcher sich das gesamte Potenzial der Mitarbeiterschaft voll entfalten kann…

Siehe ebenfalls die Blogbeiträge: In-Waste-Ment, Kuratieren, Irreparabel, Pirate Leadership

Agile Transformation und Agile Culture Coaching

Unternehmen und Organisationen, die Agilität aufbauen möchten, stehen meist vor einem massiven Kulturwandel. Agile Transformation bedeutet dann, in vielen Dimensionen der Agilität gleichzeitig Veränderung zu generieren: Menschen in ein neues Mindset und agile Praktiken in die Anwendung zu bringen, Teams neu aufzubauen und Organisation anders zu konfigurieren, strategische Planung und Führungsmodelle neu aufzusetzen. Solche Veränderungen lassen sich professionell gestalten durch die Begleitung von Experten, die über ein substanzielles Wissen zum Thema Agilität verfügen und prozesserfahren mit Menschen, Organisationen und Kulturen umgehen können.

Um die agile Transformation aus Unternehmen heraus zu unterstützen, bietet SYNNECTA ab April 2016 mit der Ausbildung zum Agile Culture Coach eine Qualifizierung in agiler Prozessbegleitung (inkl. Vorbereitung zur Scrum Master Zertifizierung) an. Mehr Informationen zur Ausbildung Agile Culture Coach finden Sie auch hier.

Johannes Ries

Sowohl agil als auch lean – beidhändig agieren ohne janusköpfig zu werden!

Bewährtes wirksam und Neues möglich machen.
(Langjähriger Claim der SYNNECTA)

Organisationale Ambidexterität. Mit diesem etwas sperrigen Wort haben in den 1970er Jahren Robert Duncan, in den 1990er Jahren James March und vor kurzem einige weitere Autoren eine zentrale Zukunftskompetenz von Organisationen bezeichnet. Das Wort Ambidexterität stammt von lateinisch ambo (beide) und dexter (rechte Hand) und bezeichnet die Fähigkeit, mit beiden Händen gleich gut hantieren zu können. In den Unternehmenskontext übertragen sind ambidexterische Organisationen gleichzeitig effizient und flexibel bzw. anpassungsfähig. Sie können sowohl das Bestehende maximal ausnutzen (exploitation) als auch Neues erkunden (exploration).

Bisher habe ich mich in meinen Blog-Beiträgen vor allem auf den Pol der Anpassungsfähigkeit und das Explorationspotenzial von Unternehmen in einer von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) gezeichneten Situation konzentriert, auf der Suche nach adäquaten Verhaltensweisen eines VUCA-Handlings, zum Beispiel in den Bereichen Strategie, Organisation, Zusammenarbeit oder Führung. Ich bin auch weiterhin überzeugt, dass Unternehmen in Zukunft immer stärker mit VUCA konfrontiert sein werden und damit die exploration immer wichtiger werden wird. Gleichzeitig meine ich damit jedoch nicht, dass die exploitation aus den Augen zu verlieren sei. Unternehmen werden weiterhin auch zu guten Teilen in von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) geprägten Umfeldern agieren. Und in der SSEE-Situation ist es sinnvoll, in anderer Art und Weise zu agieren, als in der VUCA-Situation.

Um den richten Ansatz wählen zu können, ist es zunächst wichtig zu wissen, in welcher Situation man sich denn überhaupt befindet. Die nach Ralph Stacey benannte Stacey-Matrix kann hier hilfreich sein: Stacey korreliert die Ausprägung der Einigkeit über den Weg (agreement) und den Grad der Sicherheit des Weges (certainty). Sind sich etwa alle Beteiligtenim Unternehmen einig, welcher Weg gegangen werden soll, und ist auch klar, wie man diesen Weg zu gehen hat, so befindet sich die Organisation in einer einfachen Situation, in der es Sinn macht, auf erprobte Standards zurückzugreifen, diese einem engen Monitoring zu unterwerfen und kontinuierlich zu verbessern.

Anders verhält sich die Situation, wenn Uneinigkeit über den Weg herrscht – etwa aufgrund einer hohen Diversität unter den Stakeholdern. Wenn dann zusätzlich noch der Weg zur Erreichung der Ziele zunehmend unsicher wird – etwa wenn nicht genügend Informationen vorliegen oder zielführende Technologien erst entwickelt werden müssen – so gerät die Organisation immer mehr in eine komplexe Situation (steigen Uneinigkeit und Unsicherheit beide ins Maximale, so wird das Umfeld sogar chaotisch). In der komplexen Situation helfen Standards nur wenig. Hier ist es sinnvoller, durch offene Formen der Zusammenarbeit Wege »auszuhandeln« sowie Kreativität und Innovation zu fördern.

Ähnlich unterscheidet der Waliser Dave Snowden in seinem Cynefin Framework vier unterschiedliche »Lebensbereiche« von Organisationen: einfache und komplizierte Bereiche sind übersichtlich genug, um hier aus best bzw. good practices klar abzuleiten, was zu tun ist. Hingegen steigt die Unklarheit in komplexen und noch mehr in chaotischen Bereichen so stark an, dass hier nur noch emergent bzw. novel practices helfen. Der Unterschied zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Bereichen liegt in folgendem Vorgehen: In einfachen und komplizierten Bereichen nehme ich wahr, was passiert, kategorisiere bzw. analysiere dann die wahrgenommene Wirklichkeit und gestalte an den Ergebnissen orientiert meine Reaktion. In komplexen und chaotischen Bereichen hingegen beginne ich mit dem Testen bzw. Agieren. Erst danach nehme ich wahr, was passiert ist und gestalte dann daran orientiert meinen nächsten Schritt der Reaktion.

Sowohl die Stacey-Matrix als auch der Cynefin Framework können in Unternehmen sehr hilfreich sein, um die aktuelle Situation etwa einer Projektlandschaft zu identifizieren. In Workshops habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, mit den Teilnehmenden die einzelnen (Teil-)Projekte an Pinnwänden der Stacey-Matrix oder den vier Cynefin-Feldern zuzuordnen. Danach kann meist besser entschieden werden, welches Vorgehen sich für das jeweilige (Teil-)Projekt am besten eignet.

Denn in einfachen und komplizierten Bereichen bietet es sich an, in exploitation Effizienzen durch Standardisierung zu heben, da die notwenige Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) gegeben ist. Hier machen Effizienzprogramme, etwa aus dem Lean-Umfeld, Sinn. In komplexen Bereichen hingegen, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) geprägt sind, eignet sich am besten die exploration agiler Arbeitsweisen.

Ich möchte hier nicht ins Detail der Lean- bzw. agilen Ansätze gehen, sie jedoch kurz in Abgrenzung zueinander skizzieren. Aus der Automobilindustrie stammend und auf Serienfertigung und Massenproduktion fokussiert, versucht der Lean-Ansatz ein schlankes Unternehmen zu schaffen, das durch optimierte Prozesse und kontinuierliche Verbesserung so kostengünstig wie möglich und in bester Qualität mit schnellster Durchlaufzeit produziert. Zur Hebung von Effizienzen werden dabei kontinuierlich sogenannte Verschwendungen identifiziert und ausgemerzt. Eine wichtige Rolle spielt die Standardisierung, durch welche Veränderungen reduziert werden sollen und volle Prozesssicherheit generiert werden soll. Gleichzeitig herrscht im Unternehmen idealiter volle Transparenz über alle Kennzahlen.

Im Gegensatz dazu stammen agile Ansätze vor allem aus dem IT-Umfeld zur Generierung von Einzelprodukten (die anschließend »geklont« werden können). In iterativer Vorgehensweise entsteht unter starker Einbindung des Kunden das Produkt als kontinuierliches Inkrement Schritt für Schritt, von der ersten, rudimentär funktionierenden Rohversion bis hin zur finalen Fassung. Dabei erhält das agile Vorgehen volle Flexibilität, vor allem, um in Reaktion auf geänderte Rahmenbedingungen Veränderungen am Produkt schnell und kostengünstig umsetzen zu können. In kurzen Zyklen wird nach Arbeitsphasen (oft Sprints genannt) regelmäßig offenes Feedback eingeholt, um nicht zu lange in eine falsche Richtung zu laufen, sondern sich frühzeitig anpassen zu können.

Meiner Erfahrung nach kämpfen agile Ansätze in Unternehmen oft (unbegründet) gegen eine Fama des Chaos und der Anarchie – sie werden jedoch meist nicht als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegensatz dazu fürchtet bei Ankündigung eines neuen Lean-Projekts oft jeder zweite Mitarbeiter um seinen Arbeitsplatz oder geht zumindest davon aus, dass nun »härtere Zeiten« anbrechen. Die Schaffung von Transparenz wird nicht selten als Zunahme an totalitärer Kontrolle erlebt. Dies ist insofern nicht unbegründet, als in Europa viele Lean-Projekte tatsächlich nicht dem Mindset der ursprünglichen, aus Asien stammenden Lean-Philosophie verpflichtet zu sein scheinen: Oft handelt es sich bei Lean-Programmen in europäischen Unternehmen tatsächlich um squeezeouts, nach denen der Gürtel enger geschnallt werden muss. Und nicht selten werden diese mit Hilfe von mit Stoppuhr bewaffneten Beratern von außen initiiert und dann unter starker Nutzung von hierarchischer Autorität von oben nach unten in die Organisation »geprügelt«.

Derart implementierte Lean-Programme geraten dann in einen signifikanten Widerstreit zu agilen Ansätzen: Agiles Arbeiten auf Druck von oben ist nicht möglich. Zu sehr ist Selbstorganisation im Team und Pirate Leadership zentrale Grundbedingung für agiles Arbeiten: Denn nur so kann (dem Ashbyschen Gesetz folgend) die externe Komplexität des Umfelds organisationsintern hinreichend abgebildet werden, um die Steuerungshoheit zu behaupten.

Ich komme zurück auf die eingangs vorgestellte organisationale Ambidexterität: Simultan lean und agil agieren zu können erlaubt einem Unternehmen tatsächlich die Beidhändigkeit von exploitation und exploration. In der heutigen, eben kurz angerissenen Anwendung von Lean-Ansätzen liegt jedoch in vielen Unternehmen eine massive Barriere für die Realisierung von Ambidexterität: Anstatt die Vorteile der Beidhändigkeit zu realisieren, etablieren Unternehmen vielfach ungewollt eine Janusköpfigkeit und sprechen mit gespaltener Zunge. Wenn von Mitarbeitern auf der einen Seite verlangt wird, sich selbst zu organisieren, hierarchiefrei zu kommunizieren und kreativ zu denken (um exploration und Agilität zu realisieren), gleichzeitig jedoch mit harter Hand Effizienzprogramme in die Organisation gedrückt werden (und exploitation nur im wahrlich negativen Wortsinn betrieben wird), so treten in der gleichen Organisation zwei fundamental gegensätzlich gelagerte Führungsdiskurse in Konkurrenz. Dieser Widerstreit kann dann nicht zu Ambidexterität führen, sondern generiert einem organisationskulturellen double bind, der die Mitarbeiter verunsichert und die Organisation lähmt.

Der Janusköpfigkeit kann jedoch vorgebeugt werden, wenn sich Unternehmen bei der Durchführung von Lean-Projekten auf die Denkhaltung fokussieren, die der asiatischen Lean-Philosophie ursprünglich zugrunde liegt. In ihr findet im schlanken Unternehmen ein tatsächliches Empowerment der Mitarbeiter statt. Diesen wird in großem Umfang Eigenverantwortung zur Hebung der Effizienzpotenziale übertragen. Ihre Teamarbeit steht stark im Vordergrund und Führungskräfte verstehen sich als Unterstützer und Dienstleister der Mitarbeiter. Die geschaffene Transparenzkultur wird dann nicht als Bedrohung erlebt (da sie kein Kontrollinstrument autoritärer Führung ist), sondern dient gepaart mit offenem Feedback in einer gesunden Fehlerkultur tatsächlich der ständigen Verbesserung. All dies ist dann kompatibel mit agilen Ansätzen.

Mit dieser Geisteshaltung zeigen Lean- und agile Ansätze in einem Unternehmen beide das gleiche, wertschätzende und kalkulierbare Gesicht der Führung. Sie sprechen nur mit einer Zunge eine eindeutige Sprache der verlässlichen Organisationskultur. Innerhalb dieser können Mitarbeiter dann mit beiden Händen kraftvoll zupackend sowohl die SSEE-Welt effizient bewirtschaften, als auch die VUCA-Welt erfolgreich erschließen.

Johannes Ries