Verantwortung?

Es hat sich noch nicht sehr geändert. Wir Europäer entsenden Mitarbeiter z.B. nach Asien, um zu lehren und laden Mitarbeiter anderer Länder zu uns ein, um zu lernen. Einmal ganz davon abgesehen, dass diese spätkolonialen Spuren mancherlei Beziehungsprobleme verursachen, stellt sich mir die Frage, ob wir Europäer uns hier nicht eine zukunftswichtige Lernchance verbauen.

Eine Geschichte. Ich traf eine Führungskraft aus Indien, die für zwei Jahre nach Deutschland eingeladen worden ist. Ein energischer junger Mann, der viel bewegen will und der für sein Land und seine Landesgesellschaft lernen will. Er ist voller Bewunderung für die Ordnung, die er in Deutschland vorgefunden hat, er erlebt das Land als aufgeräumt, alles ist für ihn an seinem Platz, alles ist geregelt. Ihm macht nur Kummer, dass er nicht sehen kann, wo er etwas beitragen kann. Für ihn hat fast alles schon die Infrastruktur entschieden, die Abläufe sind da und er sieht seine Rolle nur im Ausführen. Er kann sich nicht als Manager erleben, weil in seiner Wahrnehmung alles schon »gemanaged« ist. Er bewundert es und zugleich spürt er ein Unbehagen, denn er erlebt auch die Erstarrung, die Initiativlosigkeit, die Unentschiedenheit dieser Dominanz der Infrastruktur.

Ich blicke während des Gespräches hinaus auf die Straßen, den geregelten Verkehr und vergleiche es mit meinen eigenen Erfahrungen in Indien. Es ist sehr anders. Mein indischer Gesprächspartner erzählt dann von einer Erfahrung, die er kürzlich gemacht hatte – in seinen Augen immer noch Fragezeichen. Er musste hier eine Fahrprüfung ablegen. Auf einer Vorfahrtsstraße bremste er vor der Einmündung einer Seitenstraße immer ab, versicherte sich, dass die anderen Verkehrsteilnehmer auch stehen blieben. Dasselbe tat er an Ampeln, die für ihn grün waren. Der Fahrprüfer kritisierte das, forderte ihn auf, zügig weiterzufahren. Er war verwirrt und versuchte zu verstehen, wie es sein kann, dass man sich darauf verlässt, dass ein anderer die Regeln einhält? Für ihn ist es notwendig, mit der Unberechenbarkeit des Anderen umzugehen und selbst für Sicherheit zu sorgen. Sich auf Regeln zu verlassen, hält er für unsicher, für gefährlich. Er selbst sieht sich in der Verantwortung.

Nun können wir uns in unserem geregelten Land meistens darauf verlassen, dass Andere die gleichen Regeln befolgen wie wir selbst und so macht es Sinn, in diesem Vertrauen zügig durchzufahren. Aber in Indien? Das wäre eine schlechte Idee. Hier sollte man im Rahmen des gleichen Regelwerkes dennoch auf ein der eigenen aktuellen Entscheidung gehorchendes Verhalten setzen. Also lieber mal abbremsen. Denn das Verhalten des Anderen ist spontan, folgt eigenen Regeln und muss in Bezug auf das eigene Verhalten »gemanaged« werden. Nicht die Infrastruktur bestimmt, sondern die eigene, vorausschauende Entscheidung.

Übersetzt heißt das dann wohl, den selbstverantworteten, die anderen Mitspieler einbeziehenden Umgang mit komplexen, ambivalenten und offenen Situationen befolgen. Das wäre wohl etwas, was wir lernen könnten, wenn wir z.B. nach Indien eingeladen würden. Denn was immer global agierende Unternehmen derzeit erfahren, es ist Beschleunigung, Unsicherheit, Vulnerabilität, Komplexität und Ambiguität. Und in diesen Situationen hat sich Bürokratie, die mit Regeln dieser agilen, oft chaotisch anmutenden Situation Herr werden will, als machtlos erwiesen. Sie ist zu viel zu langsam und unflexibel.

So wäre es wohl für unsere eigene Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit klug, auszuziehen, um zu lernen.

Rüdiger Müngersdorff

Unternehmensleitbilder in Zeiten hybrider Gesellschaften

Ein Leitbild gehört spätestens seit der Jahrtausendwende in jedes richtige Unternehmen. Wer keines hat, sollte nicht lange fackeln und sich eines zulegen! Warum?

Um in Zeiten der Globalisierung, des Wertverfalls, des Verschwimmens altbekannter Grenzen und Verlusts persönlicher Sicherheiten, des postuliert nachhaltigen Wirtschaftens, steigender Komplexität und Größe von Unternehmen, Post- und Post-Post-Merger Kulturen und damit verbundener Steuerungsschwierigkeiten, kontinuierlicher Veränderung etc., etc., etc. – neue Leitplanken für die Orientierung zu bieten. Diese sollen dann handlungsleitend und motivierend für die Organisation als Ganzes und die einzelnen Mitarbeiter wirken. Eine (zu) anspruchsvolle Aufgabe für ein Leitbild?! Oder geht es bei einem Leitbild doch eher nur darum, ein gutes Image nach innen und außen zu vermitteln? Dies würde seinen Ansprüchen nicht gerecht werden, wenig bis keine Wirkung entfalten und somit ein Leitbild von vorneherein obsolet machen. Was dann?

Grundsätzlich ist die Etablierung von Leitbildern in Unternehmen in hohem Maße an die Mechanismen der Entwicklung von Nationen und der damit verbundenen (National-)Kultur und (National-)Gesellschaft angelehnt. Diese wiederum werden festgemacht an so unterschiedlichen Dingen wie einheitliche Sprache, Bildung, Feiertage, Hauptstadt, Nationalmannschaft, Erzählungen und Mythen etc., um Gemeinsamkeit und Gemeinschaft zu erzeugen.

Die Umsetzung des Konzepts »Nation«, insbesondere durch die politische und intellektuelle Führung eines Landes, hat für lange Zeit große Erfolge verbuchen können, vor allem wenn man auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung vieler Nationalstaaten zurückblickt. Dass damit auch der Weg für einen radikalen Nationalismus mit all seinen negativen Auswüchsen geebnet wurde, muss an dieser Stelle nicht extra betont werden.

Heute ist vielmehr die interessante Frage, inwieweit das Konstrukt eines homogenen Nationalstaats aufgrund der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen noch zeitgemäß ist und seine integrative/inkludierende und Orientierung stiftende Funktion erfüllen kann. Nicht zuletzt wird dies immer wieder kontrovers am Beispiel einer vermeintlich »deutschen Leitkultur« diskutiert.

Eine Theorie, die verstärkt die Heterogenität moderner Migrationsgesellschaften berücksichtigt, firmiert unter dem Schlagwort »Hybride Gesellschaft«. Für Homi Bhabha, einem wichtigen Vertreter dieser Denkrichtung, bedeutet Hybridisierung nicht einfach ein Vermischen, sondern die strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind. Es geht in diesem Konzept also nicht mehr darum, eine gemeinsame Sprache, Bildung etc. – letztlich eine gemeinsame nationale Kultur – zu formen. Vielmehr muss der (Frei-)Raum für ein heterogenes Mit- und Nebeneinander geschaffen werden, das vielfach sowieso schon weit mehr der Realität entspricht, als eine homogen gelebte nationale Kultur.

Übersetzt man diese gesellschaftliche Beschreibung wiederum auf Unternehmen, die ja ebenso wie Nationalstaaten, gerade aufgrund von zunehmender Internationalisierung sowie Fusionen und/oder Zukäufen von anderen Firmen, im verstärkten Maße mit Heterogenität umgehen müssen, so ist fraglich, inwieweit dafür ein klassisches Unternehmensleitbild noch tragfähig sein kann bzw. was an dessen Stelle als soziales Führungs- bzw. Steuerungselement treten kann.

Diversity Management greift diese Thematik auf, wird jedoch häufig als ein Aspekt oder nur parallel zur Etablierung einer möglichst homogenen Unternehmenskultur verfolgt und dabei zu oft auf einzelne Aspekte wie Gender, Alter oder Behinderung reduziert. Radikaler wäre ein Konzept im Sinne »Hybrides Unternehmen«, bei dem gar nicht mehr versucht wird, so etwas wie Homogenität als Ziel zu verfolgen, sondern die real gegebene Vielfalt akzeptiert und die darin liegenden Chancen und Potenziale der Menschen stärker genutzt werden. Google mag da vielleicht manchem als ein Beispiel gelten.

In der Beratungs- und Begleitungsarbeit der SYNNECTA bewegen wir uns mit unseren Community-Konzepten und Durchwegungsansätzen bereits seit längerem in diese Richtung. Einen echten »Gegenentwurf« zum Unternehmensleitbild durchdenken und diskutieren wir derzeit noch im Kollegenkreis. Auf diesen weiteren Entwicklungsprozess und Austausch mit Kollegen und unseren Kunden freue ich mich!

Thomas Meilinger