Mindset: Grenzen und Chancen einer Arbeitsform

Das Konzept Mindset/Glaubenssätze hat sich im Kontext von Coaching bewährt. Es unterstützt wirkungsvoll kognitive Flexibilität und ermöglicht es Coachees mit einer breiteren Handlungspalette den Herausforderungen der Lebens- und Arbeitswelt zu begegnen. Es ist gut zu sehen, dass sich viele Schulen der Mindsetarbeit von einem normativen Konzept verabschieden, wie sie unter den Begriffen Growthmindset oder Agilemindset gerne an Unternehmen verkauft wurden und ja noch werden. Unter Begriffen wie mindset plasticity oder -flexibility wird deutlich, dass es eher um die Fähigkeit geht, situativ zu handeln und nicht, wie es die Transaktionsanalyse formulieren würde aus der Gebundenheit an alte Skripte zu handeln. Es geht um Freiheitsgrade und wie seit den Anfängen der Psychoanalyse um das Credo: Bewusstheit öffnet den Raum von Möglichkeiten. Möglichkeiten auch anders reagieren und agieren zu können.

Trotz dieser dynamischen Entwicklungen in der Mindsetszene gibt es einige blinde Flecken – nicht überall, aber doch dominant findet man sie in den jeweiligen Verkaufsfoldern. Ich habe bereits in früheren Artikeln (@myndleap @rüdigermüngersdorff @synnecta) auf die Quellen von Mindset hingewiesen und dabei die viel breitere Basis dieses Ansatzes skizziert. Hier möchte ich im Folgenden auf zwei der nicht ausgeschöpften Aspekte von Mindset hinweisen.

Ich treffe immer wieder auf die Formulierung »emotional charged belief sets«. In der Fixierung auf kognitive Strukturen und Inhalte werden Emotionen, wie so oft in der westlichen Kultur, zu sekundären Erscheinungen, die etwas aufladen. In der nun doch schon langen Geschichte der Psychotherapie haben wir zumindest gelernt, dass Emotionen eigene Dynamiken sind und als solche auch wahrgenommen und angesprochen werden müssen. Alle Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie und von Coaching belegen, dass die Beziehung zwischen den Beteiligten der wichtigste Wirkfaktor ist. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass in der Beziehung zwischen Menschen, Emotionen spürbar und wahrnehmbar werden. Hier liegt ein großer Wert der Entdeckung der Übertragungsphänomene, die nicht nur eine Fehlwahrnehmung beschreiben, sondern den Ort bilden, an dem sich Emotionen ereignen, die dann in Kognitionen oder in Reden übersetzt werden können. In der Methodenfixiertheit der meisten Mindsetschulen wird dieser Aspekt der Arbeit dramatisch unterschätzt. In meinem im asiatischen Raum stattfindenden Projekten spreche ich daher nicht nur von Mindset sondern auch von Heartset. Das löst in diesen Kulturen große Zustimmung aus und gibt den Zugang nicht nur kognitive Flexibilität zu erhöhen, sondern auch emotionale. Der Wiederholungszwang, der einer flexiblen, angemessenen Wahrnehmung und Handlung entgegensteht, ist ja nicht vorwiegend an Erkenntnis-, Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen gebunden, sondern vor allem an die emotionale Reaktion auf einen inneren und äußeren Kontext – auf eine Szene. Hier entstehen die Bindungen und Limitierungen, hier erhalten dann Glaubenssätze die Kraft ihrer handlungsleitenden Botschaft und wenn wir nicht in der Lage sind die szenischen Gefühle von Furcht, Scham und Schuld emotional anzusprechen (Qualitäten der Übertragung und Gegenübertragung) bleibt die Mindsetarbeit Flickschusterei.

Konfrontiert mit der kognitiven Fixiertheit und Methodengläubigkeit vieler Mindsetschulen fällt mir immer wieder die Frage ein: Wer hat dir eigentlich erzählt, dass du im Kopf denkst und nicht vielmehr in deinem ganzen Leib? Ohne Wahrnehmung der Leiblichkeit gibt es keine Wahrnehmung der Emotionalität und ohne die Erfahrung des Heartsets bleibt die Mindsetarbeit oberflächlich.

Ein anderes auffälliges Manko der Diskussion über Mindset ist ihre Blindheit gegenüber den wesentlichen Bedingungen einer wirksamen Organisationsentwicklung. Während wir in der Kulturwissenschaft einen cultural turn oder sociological turn beobachten, verstärkt sich in der weichen Beratungsszene der psychologische Ansatz. Der Satz: Ich lebe mein Leben ist genauso wahr wie der Satz: Mein Kontext lebt mich. So wie bei den gängigen Resilienzkonzepten die Veränderungslast auf das Individuum verlagert wird, so geschieht das auch in der Organisationsentwicklung. Der dahinterstehende Glaube, wenn alle Mitarbeitenden wahlweise ein growth-mindset, agile-mindset oder xxx-mindset haben, dann sind wir erfolgreich, dann ändert sich unsere Kultur und unterstützt unsere Unternehmensziele. Alle Praxis zeigt, dass dies eine Illusion ist. Alle Unternehmen haben eine spezifische Kultur, man kann dies auch ein kollektives Mind- und Heartset nennen. Sie reproduzieren diese Kultur selbst dann, wenn man Mitarbeitende austauscht. (Es ist ja eine der ernüchternden Erfahrungen, dass eine Führungskraft in einem Training anders ist, als dieselbe Führungskraft in ihrem unternehmerischen Kontext.) Während es in der individuellen Mindsetarbeit klar zu sein scheint, dass die Glaubenssätze im Gehirn lokalisiert sind – wobei ich sagen würde im Leib) so stellt sich in der Organisationsentwicklung die alte Kulturfrage, wo und wie ist die Beständigkeit von Kulturmustern in Unternehmen verortet? Auf diese Frage hin hat die Kulturwissenschaft eine Reihe von Ansätzen formuliert, die es in die Organisationsentwicklung zu integrieren gilt. Sie sind meistens relational und lassen sich mit dem klassischen Ursache- wirkungsdenken kaum erfassen. Es geht darum; dass Bedingungsgefüge, in dem Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln geschieht wahrnehmbar zu machen. Denn auch hier ist der erste Schritt wie in der individuellen Arbeit: Bewusstheit. Mit diesen Gedanken kehrt das Mindsetkonzept zu seiner Quelle in der Mentalitätsforschung sozialer Schichten zurück und versteht, wie Mindsetarbeit kollektives Verhalten in seiner Gebundenheit zu verstehen hilft und zugleich die Chance zu Emergenz öffnet. Mit einer Formulierung Musils könnte man sagen, Arbeit am kollektiven Mindset stellt dem Wirklichkeitssinn den Möglichkeitssinn an die Seite.

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Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
© Artwork: Mitra Art, Mitra Woodall

Einige Gedanken zum Modebegriff »Mindset«

Was wir von der Welt um uns und der Welt in uns erkennen und wissen, ist nicht voraussetzungsfrei. Der Zweifel an der Abbildungstheorie der Erkenntnis hat eine lange Tradition. In der Erkenntnistheorie ist es spätestens seit Kant geteiltes Wissen, dass Erkenntnis an Voraussetzungen gebunden ist. Voraussetzungen, die der Erkenntnis vorausliegen, seien es die Anschauungsformen von Raum und Zeit für die Wahrnehmung oder e.g. die Kausalität für die Erkenntnis. Wir gestalten Erkenntnis der Realität, wir bilden sie nicht ab. Die Hermeneutik, die Sprachphilosophie haben diesen Gestaltungsaspekt der Wahrnehmung und Erkenntnis weiter differenziert. Was in der Erkenntnistheorie grundsätzlich analysiert wurde, findet sich in der Psychologie wieder – die Bedeutung unserer individuellen kognitiven und emotionalen Entwicklung für die aktuelle Wahrnehmung und Erkenntnis der inneren und äußeren Realität wird analysiert und in der Idee des Wiederholungsmotivs spezifiziert. Dem entsprechen die Arbeiten der Kulturanthropologie und Soziologie, die unter anderem mit dem Konzept der Mentalität zunächst der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Handelns vorausliegende schichtspezifische Muster identifizieren, was später auf die Konstruktion nationaler Wahrnehmungs- und Denkmuster ausgedehnt wird. In unserer Zeit setzte sich der radikale Konstruktivismus mit den Voraussetzungen des Zugangs zur Realität auseinander. Er hatte wesentlichen Einfluss auf das, was heute als »systemisch« bezeichnet wird, eine der modernen Grundlagen der Organisationsentwicklung.

Mit dem Einzug des systemischen Ansatzes wurde zum Beispiel deutlich, dass das Strukturierungskonzept der Ursache-Wirkungskette begrenzten Erkenntniswert hat, wenn es um das Verständnis individueller und kollektiver Wahrnehmungen, Denkweisen, emotionaler Zustände und dann folgend Entscheidungs- und Handlungsweisen geht. Die Mächtigkeit des Ursache-Wirkungsmotivs, das bei allen Dingen, die vom Menschen bewusst gemacht und hergestellt wurden, perfekt funktioniert, wird, wenn es um das Handeln von Individuen und Kollektiven geht, um das Konzept des Bedingtseins ergänzt. Dieses Konzept lässt die Eindeutigkeit des Ursache-Wirkungsprinzips vermissen; es gibt nicht die eine Bedingung, die uns ein Verhalten verstehen lässt. Auch dieses Konzept hat eine lange Tradition, es ist bereits im Buddhismus formuliert, was teilweise zu verstehen hilft, weshalb ein iterativer Arbeitsstil im asiatischen Raum so viel leichter verwirklicht wird.

Was in der Organisationsentwicklung lange unter dem Begriff Kultur abgehandelt wurde, findet sich jetzt gerne unter dem Begriffsfeld Mindset wieder. Beide Begriffe haben den Vorteil, dass sie sehr unspezifisch sind und so für sehr diverse Ansätze Verwendung finden. Auch wenn die Konzeptbildungen der Organisationsentwicklung immer auch unter dem Aspekt des Marketings betrachtet werden müssen, so gibt es dennoch einen Erkenntnisertrag aus den Kultur- und Mindsetanalysen der letzten Zeit. Wir konstruieren unsere Realität sowohl individuell als auch kollektiv aus dem Horizont unserer individuellen und kollektiven Gewordenheit – in den Konzepten des radikalen Konstruktivismus, nicht nur, aber auch als funktionale Anpassung. Und so finden unsere Entscheidungen und Handlungen sowohl individuell als auch kollektiv auf der Grundlage dieser, der gegenwärtigen Realität vorausliegenden Bedingungen statt.

Die neuere Mindsetarbeit hat den Vorteil, dass sie sich vor allem auf Methoden konzentriert, die durchaus in einem engeren Rahmen einen bewussten Zugang zu einigen dieser Voraussetzungen ermöglicht. Ein praktikabler Weg, um einigermaßen schnell erste Ergebnisse für das eigene Handeln zu generieren. Dabei wird der Aspekt des individuellen Mindsets überbetont – dem modernen Credo gehorchend: Ich bin der Herr meiner Wahrnehmung, Erkenntnis und meines Handelns. So nützlich dieser Glaube auch für die Aufrechterhaltung des in seinem Handeln autonomen Subjekts ist, so sehr verkürzt es auch die kollektive Bedingtheit unserer Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Emotionen und schließlich unserer Entscheidungen und Handlungen. Ohne eine deutliche Betonung und daraus folgend eine methodische Erweiterung der Bedeutung des kollektiven Mindsets für die Organisationsentwicklung bleibt die Wirkung der Mindsetarbeit begrenzt.

Mit #Myndleap haben #sisko #oudheusden #muengersdorff einen Schwerpunkt auf die Veränderung ermöglichende methodische Arbeit an kollektiven Mentalitäten, Mindsets gesetzt. Nur so lässt sich ein nachhaltiger Gewinn für Organisationen gestalten.

Dabei gilt als Leitmotiv, was schon Ernst von Glasersfeld 1987 formuliert hat: Grundlegend ist da die These, dass wir die Welt, die wir erleben, unwillkürlich aufbauen, weil wir nicht darauf achten – und dann freilich nicht wissen -, wie wir es tun. Diese Unwissenheit ist alles andere als notwendig. Der radikale Konstruktivismus behauptet, ähnlich wie Kant in seiner Kritik, dass wir die Operationen, mit denen wir unsere Erlebniswelt zusammenstellen, weitgehend erschließen können, und dass uns dann die Bewusstheit des Operierens, (…) helfen kann, es anders und vielleicht besser zu machen (Ernst von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig 1987).

Das »vielleicht« in Glasersfelds hoffnunggebenden Satz macht dabei deutlich, wie simplifizierend das Gerede von einem Growth Mindset ist. Und was gibt Hoffnung? Wir können individuell und kollektiv Bewusstheit über unsere weitgehend unbewussten Bedingungen des Wahrnehmens, des Erkennens, des Fühlens, des Entscheidens und Handelns gewinnen und uns so die Freiheit geben, es auch anders zu machen.

Rüdiger Müngersdorff
Foto: Danny Lines by unsplash.com

Stadt, Unternehmen, Menschen

Wir (@Synnecta) haben die Stadt oft als Metapher für die Beschreibung von Unternehmen genutzt, z.B. im Konzept der Durchwegung. Oft haben wir dabei auf den informellen Untergrund von Stadt und Unternehmen verwiesen. Wir haben auf Jane Jacobs‘ wichtigen Satz über Städte hingewiesen, den wir in Konzepte der breiten Beteiligung in Unternehmen übersetzt haben.

»Cities have the capacity of providing something for everybody, only because and only when, they are created by everybody.«

Es ist diese offiziell kaum wahrgenommene informelle Schicht, die viel der Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit auch der Unternehmen bestimmt. Während viel über Strategien, Human Ressource Programme und Top-Down-Change-Projekte gesprochen wird, bleibt die informelle Schicht, die wesentlich die Lebendigkeit, Kreativität und Agilität bestimmt, ohne Worte. Es ist für uns ein wichtiger Teil der Arbeit – nur so kann sich Kultur verändern und entwickeln.

Ein Zitat aus @zeitonline über einen Artikel von Hanno Rauterberg erinnert uns wieder daran: Es reiche nicht, die Stadt weiter als Objekt zu behandeln, ausrechenbar und dem Willen der Planer unterworfen, schreibt Hanno Rauterberg. »Eine Stadt wird erst lebendig, wenn das Unbewusste, die Projektionen und Fantasien der Einzelnen ihren Raum haben.«

Rüdiger Müngersdorff
Foto: Joe Ciciarelli by unsplash.com

Umwegige Aspekte der Prozessberatung

Gespräche mit Führungskräften enden oft mit der Aufforderung, manchmal der Bitte: Zeig uns den kürzesten Weg, die schnelle Problemlösung, die gerade Linie von A nach B – glatt, kurz, eindeutig. Dieser Wunsch passt in die Welt der klassischen Beratung, er ist für eine »Prozessberatung« oder salopper gesagt die weiche Beratung, die über Kultur, Mindset, Beziehung, Einstellungen und Verhalten spricht und arbeitet, unerfüllbar. Kurven, Umwege, Holzwege sind hier angemessenere Bilder über den zu gehenden Weg.

Kommen wir zurück zum kürzesten Weg, der geraden Strecke. Was wenn genau dieser Weg nichts anderes ist als ein »mehr desselben« – nun am Anfang mit noch mehr Enthusiasmus, mehr Kraftaufwand und dann doch oft im Gehen schwindender Begeisterung. Man endet eben zu oft im Selben, und die Probleme, Barrieren tauchen wieder auf. Nun hilft dasselbe ja oft, wenn denn die Welt dieselbe bliebe. Was aber hilft, wenn die Welt (der Markt, die Technologien, die Bedürfnisse, die Politik usw.) sich unvorhersehbar verändern, also ein dynamisch kontingentes System sind? Für das, was auf uns zukommt, haben wir oft noch keine Begriffe, es ist noch undefiniert.

Vieles unserer konkreten Arbeit in Workshops besteht in der Kreation eines atmosphärischen Wechsels, der Ermöglichung von Zögern, von Langsamkeit – der Erlaubnis und der Möglichkeit zur Offenheit, Umweglichkeit und Nachdenklichkeit. Unser Beitrag ist nicht Problemlösung, sondern die Ermöglichung von anderen, öffnenden Perspektiven, Spielräumen. Das geht nur mit der Haltung einer Zielverzögerung, einem Wechsel des Horizonts, in dem die Kommunikation stattfindet. Es bedeutet, dass Erzählung wichtiger ist als Begrifflichkeit, dass wir uns im noch nicht festgelegten miteinander bewegen, denn nur so erreichen wir den Grund von Kreativität. Wir gehen gemeinsam durch Unsicherheit, in der dann auch anderes sichtbar wird – andere Zugänge zum Thema, andere Möglichkeiten der Problemlösung, das Entdecken von Wegen, die im Dickicht unserer Begriffe verborgen waren.

Es liegen so viel an Möglichkeiten, Perspektiven und Lösungen in den Individuen verborgen – soziale Faktoren, wie die Tendenz zur Gruppenanpassung, und kulturelle Faktoren wie die bevorzugten Mindsets (Mentalitäten) von Organisationen versperren uns den Weg zu diesem Potential. Die erste Aufgabe einer Prozessberatung und einer ästhetisch orientierten Organisationsentwicklung besteht in der Gestaltung von Offenheit, die nur im Prozess von Zielverzögerung und dem öffnenden Angebot von differenten Horizonten möglich ist. Einer Welt, die sich in einem offenen Horizont bewegt, können wir selbst nur mit offenen Formen der Wirklichkeitsrepräsentation begegnen, erst hierdurch öffnen sich alternative Zugänge zu den gestellten Aufgaben. In der verzögerten, nachdenklichen Kommunikation wird tentatives Handeln möglich, welches schließlich in stringentes Handeln zu münden vermag.

Rüdiger Müngersdorff
Foto: Kees Streefkerk by unsplash.com

Respect for the stranger is respect for your own learning self

Mit Besorgnis sehen wir die aufkommenden Meinungen, den Tratsch, der sich gegen die »Fremden« richtet. Es formuliert sich ein Nationalismus, der sich vor allem aus Schuldzuweisungen, Verdächtigungen und Hass gegenüber anderen definiert. Gerade sind es Chinesen, die diese negative Selbstdefinition zu spüren bekommen. In Italien sind es, hoffentlich vorübergehend, die Deutschen. In beiden Fällen können die sich Abgrenzenden auf einer historischen Vorbelastung aufbauen. Die Haltungen, die sich in den sozialen Medien viral verbreiten, bleiben auch für den »Restart« nicht folgenlos. Wir beschädigen gerade eine gewachsene Vertrauensbasis und den Respekt vor dem Anderssein der Anderen.

Es steht zu befürchten, dass diese Haltungen stärker werden je länger die verschiedenen Gemeinschaften die Einschränkungen und Verluste der gegenwärtigen Pandemie spüren. Und damit gefährden wir einen wichtigen, in der Regel übersehenen positiven Effekt der Globalisierung.

Mit den offenen Märkten, der engen Kooperation zwischen unterschiedlichen Kulturen und Denktraditionen, haben alle Seiten die Chance erhalten, sich im Anderen zu spiegeln. Dieser Prozess diente nicht nur dem besseren Verständnis der anderen Kultur, sondern in großem Maße dem erweiterten Verständnis des Eigenen und war und ist so ein Sprungbrett für die eigene Entwicklung – im Jargon der Organisationsentwickler- zur gelingenden Transformation. Wir lernten unser jeweiliges intuitives Welt- und Selbstverständnis als nicht bewussten Hintergrund unserer Handlungen verstehen und konnten mit diesem Verständnis anders auf unseren Weltausschnitt schauen, was wiederum verändertes Handeln ermöglichte.

Es ist eine der Grundlagen unserer Innovationsfähigkeit, die es so, ohne die Herausforderungen des Fremden, nicht geben würde. Es sind reflexive Prozesse, die es uns ermöglichen sowohl unser Selbst- als auch unser Weltverständnis zu erweitern. Konkret: Diversität, mit dem Recht der Diversen zu sprechen und gehört zu werden, ist ein Beschleuniger der reflexiven Selbst- und Weltvergewisserung und so die Basis von Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit.

In einem »Restart« werden wir auch auf diesen Aspekt achten müssen und miteinander an dem gegenseitigen Vertrauen in den jeweils anderen arbeiten müssen und dürfen.

Rüdiger Müngersdorff