Vielfältig vernetzt im Unternehmen der Zukunft: SYNNECTA und HR-Vertreter gehen in die zweite Tischrunde

Immer noch den überwältigenden Zuspruch der Teilnehmer aus der ersten SYNNECTA-Tischrunde und den reichhaltigen Erkenntnisgewinn präsent im Bewusstsein, geht es in strammen Schritten auf die nächste Auflage am 01. Oktober 2015 zu. Auch dieses Mal werden Schlüsselfiguren aus dem HR-Bereich gemeinsam mit SYNNECTA-Beratern an spannenden und hochaktuellen Business-Themen der Zukunft arbeiten.

»Unternehmen 2.0 führen – Transformation zu mehr Offenheit« lautet der Titel des reichhaltigen Programms. Um das vernetzte Unternehmen wird es gehen: darum, wie technischer und kultureller Wandel hin zu Digitalisierung und Schnelligkeit ein Unternehmen kulturell reichhaltiger, kreativer, offener, agiler und kooperativer machen kann, ungenutztes Wissen nutzbar macht, Führungskräfte, Teams und Mitarbeiter befähigt und sie ihr Potenzial ausschöpfen lässt.

Was genau verbirgt sich hinter Vernetzung, beziehungsweise dem vernetzten Unternehmen? Warum nun auch noch »vielfältig vernetzt«? Aus unserer Sicht ist das vernetzte Unternehmen nicht eindimensional zu betrachten, sondern auf verschiedenen Ebenen. Dies mag zunächst noch komplexer und bedrohlicher klingen, als es die Ebene der neuen Technologie für manchen ohnehin schon tut. Richtig ist aber, dass die digitale Vernetzung insbesondere in ihrer Mehrdimensionalität den Fokus immer stärker auf den Menschen und seine Fähigkeiten lenkt und somit einen Gewinn für die gesamte Organisation bringt – sofern sie in die richtigen Bahnen gelenkt wird.

Um einen Blick auf die drei Ebenen der vernetzten Arbeitswelt zu werfen, beginnen wir zunächst bei der Technologie. Insbesondere geht es hier natürlich um die Web 2.0-Technologien wie soziale Medien. Diese werden verstärkt für die direkte Kommunikation zwischen Unternehmen und Kunden genutzt. So entsteht Nähe – der Kunde gibt direkter und schneller Feedback, was ein viel schnelleres Reagieren und kreativere Lösungen erfordert.

Web 2.0 kann auf diese Weise die Innovationskraft einer Organisation enorm fördern. Unternehmensintern gelingt durch digitale Medien ein weitaus effektiverer Wissensaustausch. Oftmals liegt bei den Menschen im Unternehmen eine Menge informelles Wissen, aber auch explizites Wissen, zu dem kein Zugang ist. Dieses zu nutzen, öffnet Möglichkeiten, das Potenzial einer Organisation wirklich auch auszuschöpfen.

Vernetzung allein auf die Einführung von Web 2.0-Technologien zu beschränken, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Vernetztes Unternehmen ist Ausdruck einer ganz neuen Art, Unternehmen zu denken und zu leben. Die Vernetzung von Menschen und Gruppen, selbst organisiert und autonom handelnd, in der die Bindung vor allem über gemeinsam geteilte Visionen und Werte sowie über eine gemeinsame Plattform läuft – dass daraus ein gut funktionierendes und bereicherndes System entstehen könnte, hätte vor 30 Jahren vermutlich niemand geglaubt.

Wir sehen Unternehmen als lebende, soziale Systeme. Die Aufmerksamkeit muss folglich auf den Menschen und ihrem Potenzial liegen, auf ihrer Kreativität und Innovationskraft und auf der Synergie, die sich aus der Vernetzung ergibt – im Gegensatz zu funktionalen Strukturen und bürokratischen Abläufen. Ein Unternehmen kann hierdurch an Schnelligkeit gewinnen und prompter Neues generieren und umsetzen.

Was für einer Kultur bedarf es, die das möglich macht? Welche Veränderungen in Richtung Vernetzung sind nötig? Hier setzen wir die dritte Ebene des vernetzten Unternehmens an. Um sich von Hierarchie und Prozessen hin zu Autonomie und Kreativität zu bewegen, bedarf es im Unternehmen einer neuen Führungskultur. Ganz konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass Teams weniger Kontrolle unterliegen, dafür Kommunikation und Zusammenarbeit und schlussendlich Agilität gefördert werden. Gelingen kann das u.a. mit alternativen Zielvereinbarungskonzepten, in denen nicht das Individuum eine persönliche Zielvereinbarung hat, sondern stattdessen das gesamte Team.

Weitere Möglichkeiten und Techniken, wie man im Unternehmen 2.0 Vernetzung nutzen und fördern kann, möchten wir am 1. Oktober vorstellen und gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeiten. Als SYNNECTA fragen wir dabei vor allem aus der Sicht von Menschen, Gruppen, Organisationen. Welche Auswirkungen – neben den bereits genannten – hat die Vernetzung in und für Unternehmen? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um diese erfolgreich zu nutzen und zu bewältigen?

Zusätzliche Information und viele inspirierende Eindrücke wird uns dabei die besondere Location des raum13 geben, inmitten von Kunst, Medien und dokumentierter Zeitgeschichte. Wir freuen uns und sind gespannt auf einen arbeits- und erkenntnisreichen Tag.

Andreas Lindner

Neue Führung – Neue Organisationen

Erfolgskriterien für die Transformation (1.Teil)

Jeder weiß, dass die Reaktions- und Anpassungsfähigkeit an die sich schnell und grundlegend verändernden Bedingungen über die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen entscheidet.

Viele wissen, wie Unternehmen modernisiert, transformiert oder »neu erfunden« werden können; wie eine bedeutungs- und sinnvolle Vision entwickelt, Selbstverantwortung initiiert und eine Kultur etabliert werden kann, die von Vertrauen geprägt ist, die Voraussetzung für Kreativität, Innovation, Schnelligkeit und Agilität ist.

Wenige erkennen ihr Unternehmen als Potential, als einen lebendigen Organismus, der mit Seele und eigener Intention einen Auftrag in der Welt entfalten will.

Und einige Unternehmen haben tatsächlich Organisationen für eine zukunftsfähige Moderne geschaffen, die den Anforderungen der Menschen und unseres gemeinsamen Lebensraumes der Erde gerecht werden.

Den Unternehmen der zukunftsfähigen Moderne werden in unterschiedlichen Mischungen und Ausprägungen, Attribute wie ein ganzheitlicher Nutzen für alle Anspruchsgruppen des Unternehmens, bedeutungsvoller, emotional bindender Unternehmenszweck, Nachhaltigkeit, Kreativität, Innovation, Selbstverantwortung und sich selbst führende Teams, Ganzheitlichkeit, moderne Raum- und flexible Zeitkonzepte, vernetztes Arbeiten und direkte Kommunikation, die grandios von digitaler Technologie unterstützt und geprägt wird, Lean, Schnelligkeit und Agilität zugeschrieben.

Und wenn wir nach Namen suchen, so dominieren unterschiedliche Gruppen von Unternehmen die aktuelle Diskussion über Neue Führung – Neue Organisationen. Einerseits sind es immer wieder die Kultkonzerne, wie Apple, Google, Amazon, Facebook, die alle in der Liste der begehrtesten Unternehmen (Hay Group/Fortune) ganz oben stehen, andererseits die nachhaltig erfolgreichen Klassiker, wie Gore, Semco, Morning Star, dm-drogeriemarkt, und die in der neueren Literatur gefeierten »TealOrganizations«, wie z.B. FAVI und Buurtzorg und zuletzt Initiativen, wie Team WIKISPEED, ein Autobauer, der als ein Projekt nur mit Freiwilligen gestartet, das Potential hat, die gesamte Autoindustrie zu revolutionieren.

Kreative und initiative Persönlichkeiten gestalten neue Organisationen rund um einen technologischen Paradigmenwechsel

Ein Unternehmen wie Facebook, das erst seit 2004 aktiv ist, entwickelt seine Kultur ohne Bindungen an eine lange Unternehmensgeschichte und entwickelt sie mit gleichgesinnten Digital Natives, um seine Mission zu realisieren, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mitzuteilen, die Welt offener zu machen und zu verbinden.

Persönlichkeiten, wie Steve Jobs, Larry Page, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg für die amerikanischen Kultkonzerne und Wilbert Lee »Bill« und Genevieve Gore, Ricardo Semler, Chris J. Rufer, Götz W. Werner für die Klassiker, oder Jean Francois Zobrist, Jos de Blok und Joe Justice sind untrennbar mit der Individualität und Sendung ihrer Organisation, ihres Unternehmens verbunden.

Es ist einsichtig, dass Gründer ihrem Unternehmen Seele geben. So prägen z.B. die Haltungen und Grundüberzeugungen von Bill und Genevieve Gore noch heute die Kultur des Unternehmens. Sie gründeten ihr Unternehmen 1958 und operierten anfangs aus dem Keller ihres Privathauses. Mittlerweile sind es 10.000 Associates weltweit, die in einer flachen Organisationsstruktur ohne Weisungshierarchie technologisch innovativ und erfolgreich in multidisziplinären Teams zusammenarbeiten. Sie tun dies in überschaubaren Unternehmenseinheiten (Business Units), um die direkte Kommunikation zu gewährleisten. »No ranks, not titles« lebt, wenn auch real heute auf den Visitenkarten Titel wie »Global Leader« für die jeweilige Division und andere erscheinen. Die starke hierarchiereduzierte Kultur, die 1:1 Kommunikation auf Augenhöhe von Gore trägt wesentlich zum nachhaltigen Erfolg des Unternehmens bei, kann aber auch einschränken, wenn Gore sich in Länder ausdehnt, wie z.B. China, die kulturell eine stärkere Orientierung an Hierarchien pflegen.

Mit Joe Justice tritt 2008 der Gründer einer neuen Generation ins Licht, als er mit Team WIKISPEED eine Organisation gründet, die aus einem Blog rund um eine technologisch spannende Herausforderung entstanden ist und völlige Freiwilligkeit als Gründungselement berücksichtigt.

In 2008 nahm er am »Progressive Automotive XPrice« teil und errang in diesem globalen Wettbewerb mit den Giganten der Automobilindustrie einen geteilten 10. Platz. Das Preisgeld dieser vom U.S. amerikanischen Energieministerium unterstützten Initiative betrug 10 Millionen USD. Die Herausforderung war, ein Auto zu bauen, das mit einer Gallone (ca. 3,8 l) Benzin 100 Meilen (160.9 km) unter realen Verkehrsbedingungen fahren kann.

Er startet alleine, berichtet in einem Blog von seinen Fortschritten und Hindernissen und findet darüber 44 Freiwillige in vier Ländern, die zusammen mit ihm innerhalb von drei Monaten einen Prototyp für den Wettbewerb realisieren. Team WIKISPEED hat einen »sensationellen« Entwicklungszyklus von 7 Tagen erreicht, für den die traditionelle Autoindustrie Jahre benötigt. Joe nennt drei Enabler für diese unglaubliche Schnelligkeit: Agile, Lean und Scrum.

Die Entwicklung findet modular in verteilten Teams statt. Jede Arbeit wird paarweise durchgeführt, um das Wissen unmittelbar zu teilen und zeitaufwändige Schulungen zu vermeiden. Alle verwendeten Programme und Werkzeuge, die es vor 10 Jahren noch nicht einmal gab, sind »open source«.

Es wird so wenig Material verwendet wie möglich, Verschwendung wird vermieden. Über die Visualisierung der Prozesse, werden Ineffizienzen unmittelbar aufgedeckt und beseitigt. Über die Anwendung des in der Softwareentwicklung bewährten Projektframework Scrum bei der Entwicklung eines Automobilprototyp konnte eine unglaubliche Schnelligkeit erreicht werden.

Mittlerweile besteht Team WIKISPEED aus 1.000 Mitgliedern in 20 Ländern, baut und verkauft Autos. Jeder stellt seine Arbeit und sein Wissen unentgeltlich zur Verfügung; ein erwirtschafteter Gewinn wird an die Gemeinschaft verteilt.

Joe Justice hat mit seiner Leidenschaft und dem Glauben, dass es möglich wäre, Mobilität wesentlich umweltfreundlicher zu erreichen, Gleichgesinnte angezogen. Die Verwirklichung einer Zusammenarbeit, die auf »Sharing« beruht, die digitalen Möglichkeiten, die die verteilten Teams permanent verbinden und den Austausch sicherstellen, und die Übertragung von Arbeitsweisen und Tools aus der Softwareentwicklung auf eine traditionelle Schwerindustrie sind Elemente dieses rasanten Erfolgs. Allerdings legt ein öffentlicher Ruf nach Unterstützung nahe, dass Team WIKISPEED aktuell an eine Grenze gestoßen ist und neue Impulse aus der Community nötig sein werden, um die Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Umweltbewusstsein, Leidenschaft, Freiwilligkeit, Teilen von Wissen sind auffällige Charakteristiken einer neuen Gründergeneration. Konsequente Anwendung von frei verfügbaren Tools und agiles Arbeiten mit Lean-konzepten und dem SCRUM Projektframework sind die auffälligen Elemente der entsprechenden modernen Organisation. Joe Justice strebt danach, mit diesem erfolgreichen Modell auch große gesellschaftliche Probleme zu lösen, wie die Bekämpfung epidemischer Krankheiten.

Wie können nun aber traditionelle, hierarchische Unternehmen modernisiert werden, die nicht vom Gründer und Unternehmer in die Neue Zeit gesetzt wurden, sondern eine lange Geschichte haben, zu einer anderen Zeit in ganze andere Verhältnisse hineingegründet worden sind.

FAVI, ein erfolgreicher Auftragsfertiger und Automobilzulieferer, wurde 1957 gegründet. 1980 wird Jean-Francois Zobrist zum »directeur général« bestellt und diese Verantwortung für 29 Jahre tragen. Die erfolgreiche Transformation von FAVI hin zu Selbstverantwortung, Ownership und Ganzheitlichkeit, beschreibt Frederic Laloux in seinem inspirierenden Buch: Reeinventing Organizations, A Guide to creating Organizations inspired by the next stage of human consciousness, Brüssel 2014.

Zobrist fand ein Unternehmen mit fünf Hierarchieebenen und vielen Prozessen und Funktionen, Mechanismen vor, die ausschließlich mit der Kontrolle von Mitarbeitern beschäftigt waren. Einige Monate versucht Zobrist sein Führungskader für Veränderungen zu sensibilisieren und erfährt starken Widerstand. Neun Monate nach Übernahme der Geschäftsführung, in denen er jeden Tag in der Fertigung war, mit jedem sprach, viele Fragen stellte, aber auch selbst »freien Herzens« Rede und Antwort stand, vergeblich versucht hatte, seine Führungskräfte mit auf die Modernisierungsreise zu nehmen, tritt er vor die versammelte Belegschaft. Er teilt seine Empfindung mit, dass er die Art und Weise, wie die Menschen in der Fabrik geführt und kontrolliert werden, als unwürdig wahrnimmt und überzeugt sei, dass sie einen anderen Umgang, dass sie Vertrauen verdient hätten. Er verkündet konkrete Änderungen, wie die Abschaffung der Zeiterfassung, Veränderung des Lohnsystems hin zu Festgehältern, Öffnung des Lagers im Vertrauen, dass jeder das entnehmen wird, was er für seine Arbeit braucht, und die Abschaffung der gesonderten Kantine für Führungskräfte.

Er bekennt, selbst nicht zu wissen, wie genau die operative Arbeit in der Zukunft zu gestalten sein wird und lädt jeden ein, daran mitzuwirken: »I suggest that together we learn by doing, with good intentions, common sense, and in good faith.« (Zobrist, La belle histoire de FAVI, S.38, zitiert nach Laloux Frederic, Reeinventing organizations, S.273)

Der Widerstand der Führungskräfte ist heftig. Zobrist macht eindeutig klar, dass es keine Rücknahme der Entscheidungen geben wird, sondern konfrontiert sie mit dem nächsten Transformationsschritt, der Einführung sich selbst führender Teams. Da dies bedeutete, dass es keine Führungspositionen mehr geben wird, gab er den Führungskräften »Sicherheit in der Unsicherheit«: Niemand werde entlassen! Es werde keine Gehaltskürzungen geben!

Jeder war aufgefordert, herumzuschauen und sinnvolle Rollen zu finden oder zu kreieren. Zobrist machte nach der verbindlichen Abschaffung von Führungsrollen und Einführung von Selbstverantwortung keine weiteren Vorgaben, sondern lud die Mitarbeiter ein, sinnvolle Lösungen, eine sinnvolle Struktur ohne Hierarchie und praktikable Arbeitsweisen zu entwickeln.

Zobrist hatte sich als Person in den ersten Monaten viel Vertrauen erworben und alle Maßnahmen, die er einleitete, bildeten diesen Wert in der gesamten Organisation ab. So hat in diesem Falle eine glaubwürdige, initiative Persönlichkeit eine bestehende Organisation erfolgreich transformiert, ein Unternehmen neu beseelt. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass es sich bei FAVI um ein Unternehmen mit 400 Mitarbeitern an einem einzigen Standort handelt.

Die Beispiele lassen drei erste Erfolgskriterien für die Transformation, für die radikale Erneuerung eines Unternehmens, erkennen.

  1. Der Erfolg hängt sehr wesentlich von der Persönlichkeit, der Intentionalität und den Werten des Unternehmers oder/und CEO’s ab, selbstverständlich auch, wie er dies in sein konkretes Change Leadership übersetzt.
  2. Das zweite Erfolgskriterium für die erfolgreiche Transformation sind eindeutige, konsistente und »dauerhaft« verlässliche Macht- und Entscheidungsstrukturen.
  3. Aktiv eine nicht hierarchisch gedachte Führungskoalition für die Veränderung zu mobilisieren, ist das dritte Erfolgskriterium, das an den Beispielen sichtbar wird. Eine Führungskoalition also, die nicht auf die »oberen« Führungskräfte zielt, sondern auf die Menschen auf allen Ebenen, aus allen Bereichen. Menschen, die die Dringlichkeit zur Veränderung sehen, die Seele ihres Unternehmens verstehen und Andere damit in Resonanz bringen können.

Es ist eine spannende Frage, ob die traditionellen Großunternehmen diese Bedingungen erfüllen können.

Und es bleibt eine aktuelle Frage: Wie können diese Erfolgskriterien für die radikale Modernisierung auch für traditionelle und hierarchische Konzerne mit komplexen Strukturen, geteilten und zeitlich begrenzten Machtfunktionen und einer langen Geschichte aufgegriffen und realisiert werden?

Jörg Müngersdorff

Pirate Leadership: Pathos für die Selbstorganisation in Unternehmen

Um 1800 steht das britische Kriegssegelschiff HMS Surprise kurz vor dem Feindkontakt. Die Mannschaft ist unter Deck versammelt, um sich vorzubereiten. Die Luke öffnet sich und der Kapitän steigt nach unten, um seine Mannschaft auf die Seeschlacht mit dem französischen Schiff Acheron einzuschwören:

»Alle herhören! Disziplin zählt ebenso viel wie euer Mut. Die Acheron zu knacken wird hart: doppelt so viele Kanonen und doppelt so viele Männer. Und sie werden ihr Leben teuer verkaufen. Toppsgasten (Mast-Matrosen): ihr führt die Schoten tölpelhaft und ungewöhnlich. Bis das Signal für Euch ertönt, alles loszuwerfen. Damit werden wir die Fahrt aus dem Schiff nehmen. Kanoniere: ihr rennt im Eiltempo Eure Stücke (Kanonen) aus. Da die Hinterräder ab sind, könnt ihr höher zielen. Aber ohne den Rückstoß können wir nicht nachladen, das heißt für die Stückführer, die Backbordbatterie kann bloß einen Schuss abfeuern, einen einzigen! Ihr zielt auf den Großmast (der Acheron). Es kommt also auf Eure Genauigkeit an. Hauptmann Howard wird mit Soldaten von den Marsen aus mit Drehbassen- und Musketenfeuer ihr Luvdeck leerfegen. Er sorgt für das Kräftegleichgewicht, bevor wir entern. Jeder stehe seinen Mann, ob an Leine oder Kanone. Der Befehl ist kurz und flink die Hand!«

Szenenwechsel: Gleiche Epoche, gleiche Situation (nur ein paar mehr Schiffe): Eine international bunt gemischte Gruppe von Schiffen steht einer feindlichen, geschlossenen Armada gegenüber. Wie eben zuvor bereitet der Kapitän der Black Pearl die Mannschaft auf die Seeschlacht vor und ruft, die Reling erklimmend:

»Wofür ist es denn wert zu sterben? Ihr werdet mir jetzt zuhören. Hört zu! Die Bruderschaft hat sich versammelt und wartet auf uns, darauf, dass die Black Pearl sie anführt. Und was werden sie sehen? Verängstigte Kielratten an Bord eines maroden Schiffs? Nein! Nein, sie werden freie Männer sehen und Freiheit. Und der Feind wird das Feuer unserer Kanonen sehen. Er wird das Rasseln unserer Schwerter hören. Und er wird wissen, wozu wir fähig sind. Mit aller Kraft, die wir aufbringen, und im Schweiße unseres Angesichts und mit Mut in unseren Herzen. Gentlemen … hisst die Flaggen!«

»Hisst die Flaggen!«, ruft zuerst einer aus der Mannschaft, dann zwei, dann alle an Bord des Schiffes. Der Ruf breitet sich auch auf die anderen, chinesischen, indischen, französischen, afrikanischen Schiffe aus und die Fahnen werden an die Mastspitzen gezogen …

Wo im ersten Fall der Union Jack am Mast weht, werden im zweiten Beispiel die Totenkopffahnen gehisst. Die beiden Beispiele sind nicht historisch, sondern fiktiv. Sie stammen aus Blockbuster-Filmen: Der erste Kapitän ist Jack Aubrey aus dem Film Master and Commander. Der zweite ist Elisabeth, eine couragierte Frau, die im Showdown die Piraten der Karibik anführt. Auch wenn die Ansprachen historisch nie so gehalten wurden, so fassen sie doch paradigmatisch zwei gegensätzlich gelagerte Führungsphilosophien und Organisationsmodelle zusammen: Navy Command vs. Pirate Leadership.

Der Soldatenkapitän hat bereits für sich entschieden, wie der anstehende Kampf zu gewinnen ist. Als genialer Feldherr hat er einen geistreichen und bis ins letzte Detail entwickelten Plan entworfen. Seine nach Funktionen stratifizierte und hoch spezialisierte Mannschaft erhält in Fachsprache genaueste Anweisungen, was von wem wann wie zu tun ist. Der Kapitän kann davon ausgehen, dass keiner seine Order in Frage stellt und alle seinen Plan nach bestem Können umsetzen werden. Als Chef ist er der fachkompetenteste Problemlöser, alleiniger Entscheider, klarer Befehlsgeber …

Was macht im Gegensatz dazu Elisabeth? Nichts als an die Freiheit ihrer Männer zu appellieren und jeden zu vollem Einsatz aufzufordern. Sie überlässt die Entscheidung, wie der Kampf zu gewinnen ist, jedem einzelnen Mannschaftsmitglied. Sie vertraut darauf, dass in der kommenden herausfordernden Kampfsituation jeder in eigener Abstimmung mit dem anderen genau das tut, was er selbst für das Richtige hält, dass die kollektive Intelligenz des Schwarms dem militärisch kommandierten Feind überlegen ist. Elisabeths Wirksamkeit als Pirate Leader wird erst etabliert, als die ersten Follower ihr durch Zustimmung ihre Gefolgschaft zusagen. Dann jedoch breitet sich ihr Aufruf wie ein Lauffeuer aus und springt auf andere Einheiten über …

Eine auf Akzeptanz stoßende Parallele zwischen Militär und Unternehmen zu ziehen, dürfte nicht schwer sein. Zu viele in der Wirtschaft gebräuchliche Vokabeln deuten bereits auf die Vorbildfunktion des Militärs hin (man denke etwa an die Herkunft der Worte Chief Officer, Strategie, Taktik …). Schwieriger dürfte es sein, die historischen Piraten als Vorbild für erfolgreiche Führung zu positionieren. Sie werden gemeinhin als chaotisch zusammengewürfelte, unkontrollierte und unkontrollierbare Horden wahrgenommen, die gegen alle Regeln verstoßend und Gesetze brechend die Meere unsicher machten und mit Grausamkeit und Kompromisslosigkeit Handelsschiffe kaperten.

Ich möchte hier nicht die Illegalität des seeräuberischen Unterfangens legitimieren und relativieren. Ich glaube jedoch, dass Piraten bereits vor Jahrhunderten mit der oben geschilderten Führungsphilosophie ein historisches Vorbild für erfolgreiche Selbstorganisation darstellten. Der Ökonom Peter Leeson, der sich detailliert mit der ökonomischen und sozialen Organisation an Bord der Seeräuber auseinandergesetzt hat, kommt im Journal of Political Economy zu dem Schluss, dass Piraten »one-of-the-most-sophisticated-and-successful-criminal-organisation-of-history« ausgebildet hatten.

Denn Piraten agierten mitnichten in chaotischen Haufen. Sie hatten sehr wohl eine funktionierende Organisation. Diese basierte auf einigen wenigen fundamentalen Grundregeln und einem großen Anteil an Selbstorganisation. Die »Feinde der Menschheit«, wie sie von offiziellen Autoritäten betitelt wurden, waren Thomas Häusler zufolge in Wirklichkeit »wahre Freunde der Demokratie«. Wahrscheinlich wurden sie auch deshalb im Zeitalter des Absolutismus so bedingungslos verfolgt. Die Piratenbesatzung wählte ihren Kapitän – und zwar auf Zeit. Der Anführer war jederzeit absetzbar, wenn er sich etwa als autokratisch oder feige erwies. Absolute Befehlsgewalt gestand man ihm nur bei Angriffen zu. Neben dem Kapitän gab es meist noch das Führungsamt des Quartiermeisters, ansonsten meist keinerlei weitere hierarchische Stratifizierung.

Einige wenige Grundverbote sorgten für Ordnung: hart bestraft wurden etwa Gewalt gegen Mannschaftsmitglieder, Diebstahl innerhalb der Crew, Feigheit im Gefecht oder Glückspiel um Geld. Die Piratencodizes, auf die jedes Mitglied schwören musste, garantierten oft die gute Behandlung von Gefangenen oder den respektvollen Umgang mit Frauen. Sie regelten die Beuteverteilung und garantierten eine Sozialversicherung: In der flachen seeräuberischen Lohnskala erhielt der Kapitän maximal das Zweifache, der Quartiermeister maximal das Anderthalbfache des Beuteanteils jedes Mannschaftsmitglieds (man vergleiche dies mit den heutigen CEO-Gehältern, die mitunter mehr als 300 mal so hoch sind wie der Angestelltenlohn!). Wer im Kampf verletzt oder gar verstümmelt wurde, erhielt eine großzügige Entschädigung und war damit gut abgesichert. Während die Mannschaften auf den Handelsschiffen zur gleichen Zeit kurz gehalten, hart gedrillt und geschunden wurden, etablierten die Seeräuber so ein »demokratisches Gegenmodell zu den autokratischen Handelsmarinen« (so Häusler). Nicht umsonst liefen viele Marineseemänner zu den Piraten über – auch auf die Gefahr hin, als Geächtete vom Staat verfolgt zu werden.

Noch einmal: Mir geht es hier nicht darum, in Unternehmen zu Gesetzesbruch und Complianceverstoß aufzurufen! Ich möchte jedoch dazu ermuntern, aus den historischen Fakten der Piratenzeit für heute zu lernen. Denn aus meiner Perspektive werden heute – überspitzt formuliert – viele Unternehmen und Abteilungen noch immer wie Marineschiffe geführt und versenken damit jede Menge Potenzial, das über ein Pirate Leadership gehoben werden könnte (vor allem dann, wenn man sich im unsicheren Fahrwasser der VUCA-Welt befindet).

Es gibt mittlerweile die ersten Unternehmen, die sich mutig auf ein Pirate Leadership der demokratisierten Struktur, der konsequenten Selbstorganisation und der Förderung von Entscheidungsfreiheit auf allen Ebenen einlassen. Brian M. Carney und Isaac Getz nennen diese in ihrem 2009 erschienen Buch Freedom, Inc. sinniger- und provokanterweise »befreite Unternehmen«. Absolut eindrucksvoll dokumentiert Frederic Laloux in seinem erst vor kurzem veröffentlichten, bahnbrechenden Buch Reinventing Organizations (2014) auf 360 inspirierenden Seiten das realisierbare Potenzial der Selbstorganisation. Der ehemalige McKinsey Associate Partner analysiert detailliert 12 Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen, Ländern und Kontexten (mit bis zu 40.000 Mitarbeitern!) und dokumentiert, wie durch die Abschaffung von übermäßiger Hierarchie und Umstellung auf Selbstorganisation unglaubliche Effekte erzielt werden können.

Ein Beispiel: In der niederländischen Healthcare-Organisation Buurtzorg konnte im Altenpflegebereich durch die Umstellung auf selbstorganisierte Nursing-Teams der Pflegeaufwand pro Klient um 40% (!) reduziert werden. Würde ganz Holland dieses Modell übernehmen, schätzt Ernst & Young, so könnten pro Jahr zwei Milliarden Euro eingespart werden.

Das Argument, dass dies jenseits des NGO-Sektors nicht möglich sei, entkräftet der französische Automobilzulieferer FAVI: Während alle Mitbewerber ihre Produktion mittlerweile aufgrund des Arbeitskostenniveaus nach China verlagert haben, hält sich FAVI als einziger in Europa verbliebener Getriebegabel-Hersteller – mit einem Marktanteil von 50 Prozent. FAVIs Produktqualität wird als »legendär«, die Lieferpünktlichkeit als »mythisch« beschrieben (in den letzten 25 Jahren wurde nicht eine einzige Bestellung zu spät geliefert). FAVI erzielt im aggressiven Wettbewerb mit chinesischen Mitanbietern jährlich hohe Profitmargen, zahlt deutlich überdurchschnittliche Löhne und leidet unter keinerlei Mitarbeiter-Turnover. Diese und andere Erfolge führt Laloux auf die radikale Realisierung von Selbstorganisation im Unternehmen zurück. Bis hinunter ans Fließband steuern, managen und organisieren sich die FAVI-Mitarbeiter selbst in kleinen Teams (sog. Minifactories), ohne deklarierte Führungskraft.

Im Netz kursiert seit kurzem der Film Augenhöhe, der weitere Organisationen porträtiert, die auf Selbstbestimmung und wirkliche Partizipation Wert legen und damit erfolgreich sind. Der Sender arte zeigte im Februar und März mehrfach die wunderbare Dokumentation Mein wunderbarer Arbeitsplatz. Wie die eingangs evozierte Piratenanführerin Elisabeth appellieren die gefilmten Unternehmensführer an »freie Männer (… und Frauen) und Freiheit« im Unternehmen.

Die in den angesprochenen Filmen und Büchern porträtierten und im Geiste eines Pirate Leadership geführten Unternehmen zeigen, dass sich der Fokus auf Selbstorganisation und Entscheidungsfreiheit in barer Münze auszahlt. Darüber hinaus jedoch berichten die in den Porträts zur Wort kommenden Menschen mehrheitlich, dass sie nie mehr in anderer Art und Weise arbeiten möchten. Hier liegt wohl ein weiterer Schlüssel zu dem Potenzial, das Rüdiger Müngersdorff in seinem letzten Blogbeitrag angesprochen hat: Wenn laut Umfragen nur 20% der Mitarbeiterschaft wirklich motiviert sind – welches immense Entwicklungsfeld haben dann Unternehmen bei der Gewinnung der restlichen 80%?

Um es pathetisch zu wenden: Wer im Unternehmen einmal die Freiheit des Piratenlebens gekostet hat, der möchte nicht mehr zurück auf ein Marineschiff. Das macht sicher so mancher Führungskraft Angst. Genau hier liegt jedoch – so bin ich fest überzeugt – die große Chance für Unternehmen. Nicht umsonst wird wohl auch dem von vielen so verehrten und extrem erfolgreichen Steve Jobs das Wort in den Mund gelegt: »It’s more fun to be a pirate than to join the navy!«

Johannes Ries

HR als Co-Creator einer neuen Führung

15 HR-Entscheider aus unterschiedlichen Unternehmen setzten sich in abwechslungsreichen Methoden mit dem Input und den Thesen der SYNNECTA zu »Neue Führung – auf dem Weg in eine zukunftsfähige Arbeitswelt« – HR als Co-Creator einer neuen Führung – auseinander.

Die dynamischen Veränderungsbewegungen, wie Krise der hierarchischen Organisationen, die deutlich sichtbaren Folgen der Globalisierung, die sich in ganz anderen Dynamiken entwickeln, als es die kolonialen Denkweisen westlicher Unternehmen erwartet hatten, der digitale Umbruch und die Sinnsuche der Menschen, besonders stark ausgedrückt und gelebt von den jüngeren Generationen, wie der Gen Y and X, prägen das Umfeld und verstärken den Veränderungsdruck.

Schnell bildeten sich in den Diskussionen die kulturellen Voraussetzungen für Neue Führung heraus: Offenheit und Vertrauen als Voraussetzung für die neuen Arbeitsweisen, die auf »Sharing« angewiesen sind. Volability und Resilienz als persönliche Voraussetzungen, um die anstehenden Transformationen souverän mitgestalten zu können. Welche neuen Führungskompetenzen werden in Zukunft die bestehenden Kompetenzmodelle ergänzen oder ersetzen müssen. Die Modernisierung der Organisationen über die Ergänzung der Hierarchie durch Netzwerke, die Entwicklung und Pflege der entstehenden hybriden Organisation, das Verstärken eher begleitender Massnahmen, wie Supervision und Coaching, intensive Nutzung aller Formen von Beteiligungsansätzen, z. B. Appreciative Inquiry, FutureSearch, BarCamp, Open Space, die die direktiven TopDown-Interventionen mehr und mehr ablösen, und die Bewahrung des emotionalen Zusammenhalts des Unternehmens trotz agiler Teams und fluiden Arbeitseinheiten wird maßgeblich von HR zu initiieren und zu veranstalten sein.

Obwohl die Teilnehmer (AXA, BASF, Bosch, Generali, Rexroth, Gira, Kuka, Sparkasse u.a.) schnell feststellten, dass sie alle eine unterschiedliche Ausgangslage und Dringlichkeit für ihr Unternehmen sehen, gab es erkennbar eine große Inspiration, den Weg, der nur im Gehen entstehen wird, mutig zu beschreiten!

Jörg Müngersdorff

Neue Führung – auf dem Weg in eine zukunftsfähige Arbeitswelt

Impulsvortrag auf der 1. SYNNECTA HR-Tischrunde am 10. Juni 2015

Aufgaben und Herausforderungen

Wir stehen inmitten von drei sehr dynamischen Veränderungsbewegungen, die unsere klassischen Planungsinstrumente, Führungs- und Organisationsformen herausfordern.

  1. Eine Krise der hierarchischen Organisation, teils emphatisch gefeiert, teils sehr besorgt betrachtet. Derzeit sind die Magazine voll mit Berichten über Unternehmen, die nun demokratisch sind, der Film »Augenhöhe« wird hoch gelobt und es gibt die Hoffnung, dass das Motivationsproblem so endlich gelöst werden kann. Träume? Sicher in den extremen Formen und sicher auch einen Weg aufzeigend, Beteiligung nicht nur als Change Management Trick, sondern als tatsächliche Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen zu realisieren.
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  3. Die nun deutlich sichtbar werdenden Folgen der Globalisierung, die sich in ganz anderen Dynamiken entwickeln, als es die kolonialen Denkweisen westlicher Unternehmen erwartet haben. Verstärkt von den Möglichkeiten des digitalen, gerade beginnenden Umbruchs. Es ist nicht nur das Hinzutreten neuer Akteure, die Emanzipation der Schwellenländer, das Aufbrechen vielfältiger nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte – der Aufbruch des Monopols von Wissen und Bildung, die sich bildenden Cluster von Können und Wollen an allen Stellen der Welt beschleunigt Entwicklungen, verkürzt alle Zyklen und lässt die Möglichkeit disruptiver Entwicklungen (jederzeit) viel wahrscheinlicher werden. Die digitale Kommunikation in ihrer globalen Reichweite weitgehend losgelöst von der lokalen sozialen Kontrolle beschleunigt dies weiter. Geschäftsmodelle, die ohne große Infrastruktur über »Sharing«- und »Broker«-Modelle traditionelle unternehmerisch verfasste Wettbewerber in ihrer Existenz bedrohen. (Uber,…) Sharingkonzepte entstehen derzeit um fast jedes Produkt.
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  5. Eine deutlich werdende Suche nach sinnvollem Leben der mächtiger werdenden Consumer, die sich zu wirklichen Kunden entwickeln und deren ethische Vorstellungen gegenüber Unternehmen mit den sozialen Medien eine Plattform der Kommunikation gefunden haben. Und die als Akteure (Mitarbeiter passt als Beschreibung nicht mehr so ganz in diese Welt) diese Maßstäbe auch in ihr Unternehmen tragen. (Krise der Hierarchie) Nicholas Negroponte (Direktor des Media Lab des MIT) sah diesen Trend voraus, als er schon 1998 feststellte: »das Digital-Sein ist schon so selbstverständlich wie das Atmen von Luft und Trinken von Wasser«, es seien andere Probleme, um die wir uns kümmern müssten: Die Herausforderungen liegen »in unserem Lebensstil und wie wir gemeinsam unser Leben auf diesem Planeten gestalten.« Rügenwalder, ein traditioneller Hersteller von Fleischwaren, hat sich das Ziel gesetzt einen erheblichen Anteil seines Umsatzes zukünftig mit vegetarischen/veganen Produkten machen zu wollen – sie erleben heute schon eine deutliche Veränderung im Verbraucherverhalten, dem mit Werbung nicht beizukommen ist. Bahlsen sagte ein großangelegtes Veränderungsprojekt mit McKinsey ab, entschuldigte sich bei seinen »Akteuren« und versprach nun einen Weg »mit« und »zusammen« gehen zu wollen. Gegen die Notwendigkeit von Veränderungen hatte sich niemand gewandt, aber gegen die Art und Weise.

Diese Herausforderungen sind nicht isoliert und geschehen auf ihrem jeweils abgeschotteten Feld. Sie dynamisieren sich gegenseitig, verstärken sich gegenseitig. Antworten auf die eine Herausforderung muss auch eine Antwort auf die anderen Herausforderungen geben. Die HR-Community sucht Antworten und wird für die Unternehmen als Mitgestalter eines Systems, das Menschen organisiert, wichtiger denn je.

Einige Bausteine für mögliche Antworten

Die nun sichtbar werdende Dynamik der Globalisierung und der Wirklichkeit digitaler Vernetzung verlangt von Unternehmen eine deutlich höhere Dynamik in der Anpassung an sich beschleunigende und sich nicht widerspruchsfrei verändernde Bedingungen (Politik, Markt, Konkurrenten, Consumer, digitale Communities). Hinzu kommt die Notwendigkeit von steter Innovation – in Produkten, Verfahren, Prozessen, Geschäftsmodellen…) – und dies unter der Drohung, dass irgendwo auf dieser Welt bereits eine Lösung existiert, die das eigene Produkt oder Geschäftsmodell in Frage stellt. Es ist deutlich, dass die derzeit vorherrschende Art der Organisation Hierarchie/Bürokratie diese Anpassungsflexibilität einerseits und anderseits die Lebendigkeit, Vernetzung und Freiheit, die Innovation braucht, nicht leisten kann – zugleich aber in geregelten, standardisierten Herstellungs- und Dienstleistungsprozessen auf genau diese alte Organisationsform nicht verzichten kann.

Die derzeitige Antwort ist der Versuch, eine duale Organisation aufzubauen, die mancherorts agile Organisation oder Pod-Organisation genannt wird. Es gibt bereits Erfahrungen, vor allem in Entwicklungsbereichen, wo sich Themen und manchmal auch Kundenprojekte gut separieren lassen und ein Arbeiten jenseits der Regelwerke realisieren lässt. An SCRUM-Methoden orientiert gibt es auch schon Denkmuster, auf die sich aufbauen lässt. John Kotter (sein Team an der Sloane School) geht davon aus, dass man mit zehn Prozent der Akteure in einem Unternehmen die Kultur so verändern kann, dass selbstgestaltetes und selbstbestimmtes Arbeiten in auch nicht stabilen Teams möglich ist.

Eine agile Organisationseinheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitlich befristet ist, sich im Idealfall die Teilnehmer selbst finden, sie sich das Thema, die Aufgabe gewählt haben und sie sich die Art und Weise der Bearbeitung selbst wählen. Sie sind so ein Fremdkörper in der Organisation, zu der sie gehören und in die sie zurückkehren. Der Freiheitsgrad ist hoch und es wird auf gängige Motivationsformen: Incentives, Aufstiegsversprechen etc. verzichtet. Gleichwohl findet ein solches freies Team in den rechtlichen Bedingungen des Unternehmens statt – wiederum im Idealfall so wenig Bedingungen wie möglich. Solche Grade von Freiheitlichkeit, Selbstwirksamkeit erfüllen in sehr schöner Weise das, was die Motivationsforschung fordert.

Die Social-Media-Plattformen ermöglichen zudem einen ganz neuen Zugang zu dem im Unternehmen versteckten Wissen und Können. Es entsteht eine neue, zugängliche Infrastruktur, die allerdings auch ein ganz neues Verhalten voraussetzt. Deutliche Reduzierung der egoistischen Selbstmaximierung, geringere Bezogenheit auf klassische Auszahlungen (mehr Gehalt, Karriereaufstieg) und die Bereitschaft zu teilen – Teilen, früh und alles teilen ist eine der Bedingungen für das Funktionieren solcher Arbeitsformen. (Reduzierung von Neid, Eifersucht, Narzissmus etc.) Keine geringe Schwelle, die derzeit mit hoffnungsfrohem Blick auf eine anders orientierte Generation Y ff kleingeredet wird. Und die manchmal als Thema der IT-Spezialisten missverstanden wird. Soziale Plattformen leben vom Verhalten der Menschen, der Akteure, und so ist es ein genuines HR-Thema.

Großkonzerne verfügen über eine reiche Infrastruktur an Wissensträgern und Könnern, die sind allerdings verstreut im Unternehmen und in den Stufen und Abteilungen der Organisation verborgen. Soziale Plattformen bieten jetzt die Chance, diese Infrastruktur zu aktivieren. Es gilt der alte Satz: Wenn wir wüssten, was wir wissen … dann!

Für das Unternehmen sind solche Organisationseinheiten schwer zu kontrollieren und es ist schwer, sie strategisch zu positionieren. Es verlangt ein völlig neues Vertrauen in die Lebendigkeit der eigenen Organisation und die Akteure, das Vertrauen, dass sie die das tun werden, was jetzt nötig und was erfolgreich sein kann. Solche Organisationsformen arbeiten mit Verschwendung und stehen damit in einem anderen Muster als die Teile im Unternehmen, bei denen es gerade um Verschwendungsminimierung geht. Wenn man aber Startup-Qualitäten im eigenen Unternehmen realisieren möchte, dann wird man diesen Weg gehen müssen. Die Realisierung agiler Arbeitsformen wird derzeit noch stark als ein Geschehen innerhalb eines Unternehmens betrachtet, aber es gibt bereits erfolgreiche Modelle, in denen die Unternehmensgrenze überschritten wird und Nicht-Angehörige der Organisation für Ziele, Aufgaben Themen des Unternehmens arbeiten. Heute oft noch, weil sie sich leidenschaftlich für eine Fragestellung interessieren und in den Unternehmen Chancen finden, an ihrem Thema zu arbeiten, sich als wirksam zu fühlen und für eine Zeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter zu gehören.

Die Investition Microsofts in die Encarta Enzyklopädie, in der Heerscharen von Ingenieuren und Wissensträgern beschäftigt wurden, um eine Online-Enzyklopädie zu schaffen wurde in kürzester Zeit vom Modell Wikipedia vernichtet. Es gibt keine Encarta mehr, aber es gibt eine sich weitgehend selbstregulierende Wikipedia.

Welche Probleme wirft eine solche Entwicklung für die HR-Community und die Organisationsentwickler auf?

 

Es wird von großer Bedeutung sein, das eigene Unternehmen emotional zu positionieren und den zugehörigen Menschen und denen, die sich nur zeitweise zugehörig fühlen, einen Sinnkern anzubieten, der ihnen vermittelt, zu wem sie gehören, für was sie stehen und in was sie glauben. Dieser gemeinsame Rückhalt in einer formulierten kulturellen Verankerung, die sich heute in Zeiten der wachsenden Diversität nicht mehr national, ethnisch oder religiöse begründen kann ist die notwendige Basis, um Einheitlichkeit von Verhalten und Agieren gewährleisten zu können. Je mehr Freiheitsgrade gegeben sind, desto stärken muss das überzeugte Wissen sein, ich bin hier an einem guten Ort.

Es wird Unternehmen nicht erspart bleiben, die gesellschaftliche Wertedebatte auch intern zu führen und dabei die besondere Leistung der Inklusion zu erbringen. Und in sich schnell wandelnden Verhältnissen ist dies keine Aufgabe, die man einmal erledigen kann, sie ist eine dauernde Pflicht der Selbstvergewisserung. Den Organisationsentwicklern und HR-Akteuren kommt hier eine große Bedeutung zu, denn sie müssen die Formate liefern, in denen das immer wieder attraktiv geschehen kann. Die Corporate Brand als lebendiger Kristallisierungspunkt für die unterschiedlichen Formen der Unternehmenszugehörigkeit, als Akteur im Unternehmen, als Akteur außerhalb des Unternehmens. Dabei werden wir vermeiden müssen, die eine Geschichte, und nur die eine Geschichte zu erzählen. Öffnend ist die Geschichte, die neue Geschichten enthält und die für neue Geschichten öffnet. Widerspruch als Qualität!

Neue Führung

Wie führt man denn, wenn Selbstorganisation und Selbstbestimmung zu leitenden Prinzipien in der Organisation werden? Hier wird etwas erwartet, was die Schwierigkeiten von mehrlagigen Matrixorganisationen um ein Vielfältiges überschreitet. Unsere Unternehmensverfassungen zielen auf kontrolliertes Zusammenwirken. Managern und »Leadern« wird diese Kontrollfunktion übergeben, sie werden dabei durch ein in den Jahren stetig wachsendes Regelwerk unterstützt. Die Klage lautet überall, die Kontrollmechanismen machen uns unflexibel, innenorientiert und nehmen uns die Verantwortung. Die neuen Organisationsformen machen Kontrolle deutlich schwieriger, die Mechanismen greifen so nicht mehr. Dennoch bleiben Kontrollaufgaben bei der Führung – Zielerreichung, Budgetkontrolle, Compliance etc.

Wir verlangen von der Führung heute ein bipolares Verhalten – einerseits gute Manager und anderseits fähig, eine freie Organisationsform bei deutlich abnehmender Positionsmacht zu »führen«. Ließe sich das erste noch über »Skills« abbilden und die bekannten Kompetenzprofile, wird es für die zweite Aufgabe schon schwieriger: Sie verlangt vor allem Persönlichkeitsbildung und stellt uns so vor die Frage: Haben wir eigentlich die Führungskräfte, die das leisten können? Es geht darum, Menschen Vertrauen zu schenken und es zu erhalten, es geht um Inspiration, um Einladen, Verführen, Menschen gewinnen, um Zusammenfügen, Anregen, herausfordern und in Bezug auf einen selbst geht es darum, ein hohes Maß an Volability zu gewinnen – die Fähigkeit inmitten des steten Wechsels, der Widersprüche immer wieder Orientierung zu finden – auch wenn es manchmal eine 180° Kehrtwende verlangt. Und dann wieder das Schwerste, zu vertrauen, wissend, dass man sich selbst mit dem Vertrauen verletzlich macht.

Für uns und die HR-Community geht es nun darum, Formen zu entwickeln, die es möglichen Führungskräften erlauben, ihre Persönlichkeit zu bilden, die sich mit ihren Glaubenssätzen, Lebenserfahrungen, Verletzungen auseinandersetzen und zu reflektieren vermögen, was sie mit Menschen tun, wenn sie etwas tun. Sicher kommt einem Coaching in den Sinn – wohl anders als das Coaching für Problemfälle oder das Coaching als Karrierebeschleuniger. Um eine Wirkung in die Organisation haben zu können, wohl eher ein Kleingruppencoaching, in dem Vertrauen und Offenheit sehr konkret erfahren wird. Sicher ist, dass die üblichen Führungstrainings inhaltlich auf diese Situation nicht ausgerichtet sind. Und die standardmäßige Typisierung mit dem MBTI ist sicher nicht hinreichend. Campuskonzepte zeigen Wirkung, die Notwendigkeit von Wiederholung, Menschen immer und immer wieder mit den Herausforderungen zu konfrontieren, wird wichtig sein.

Es ist nun zehn Jahre her, dass wir mit der Kunstakademie Schloss Solitude ein Bildungsangebot für besonders talentierte Führungskräfte entwickelt haben. Sie sollten unter den Künstlern der Solitude, dort lebend, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen. In der Zeit wurden sie durch Reflexionen begleitet. Sie gingen, die sehr wenigen, durch eine Krise, denn das verlässliche Rahmenwerk des Unternehmens war weggefallen und es war schwer, jenseits der Planungen, Ziele, Prozesse der eigenen Organisation, Verantwortung zu übernehmen für etwas, das sinnvoll ist, und dazu die eigene Motivation aufzubauen. Solche Formate werden wohl hilfreich sein, wie wohl auch die bewährten Führungsreisen, die wirklichen out of the box social responsibility Projekte.

Mehr noch werden aber endlich die Konzepte und Erfahrungen der Supervision in die Unternehmen Einzug halten. Es ist ein Vorgehen, das für soziale Berufe in herausfordernden zwischenmenschlichen Aufgaben entwickelt wurde. Es erlaubt eine konkrete Reflexion über eine aktuelle Situation, gibt die Chance, den eigenen Status zu bestimmen und deutlicher wahrzunehmen, was in der Führungssituation geschieht und was in meinem Inneren Theater geschieht. Ein Verfahren, das sich sehr bewährt hat und Chancen bietet, Wissen und Können zu entwickeln für Situationen, in denen es den Rat noch nicht gibt, weil sie neu sind. So erfüllt eine Supervisionssituation für Einzelne und für Gruppen die Chance zu einem Lernen zweiter Ordnung – und das werden wir brauchen, denn mit der Hierarchie ist auch der alleswissende Ratgeber in eine Vertrauens- und Glaubenskrise geraten.

Ein neuer Individualisierungsschub

In den so begeisterten Diskussionen über eine Reduzierung von Hierarchie, einer neuen Legitimierung von Führung durch demokratische Modelle, der endlich möglichen Lösung für das Motivationsproblem, wird die Schattenseite gerne vergessen. Hierarchie und Bürokratie waren immer auch schützend – nehmen wir den Schutz weg, fällt alle Verantwortung auf das Individuum und wir verlagern die Last vom System auf die Akteure – ein weiterer Individualisierungsschub. Der ist unvermeidlich, wollen wir unsere Organisationen flexibler, anpassungsfähiger, überraschender machen.

Zugleich wissen wir, wie hoch die Belastung für Einzelne schon heute ist. Wir bauen Organisationen um, von einem Bild der Burg mit festen Grenzen, klar gegliederten Räumen, einer ausgeprägten Binnenorganisation, beschriebenen Positionen hin zu einem flexiblen nomadisierenden Verbund. Was brauchen Menschen, wenn der Rahmen immer weniger orientiert, leitet und schützt (solange man die Regeln einhält). Stützende Konzepte für den einzelnen Akteur sind gefragt, und es ist nicht beliebiger Zufall, dass alles, was mit Meditation, östlicher Achtsamkeitslehre, buddhistisch orientierten Sinnsprüchen verbunden ist, breiten Raum in den sozialen Medien einnimmt. Sie konzentrieren sich auf Selbstfürsorge und auf Methoden, inmitten von Belastungen stabil und resilient zu sein.

Es wird Zeit, sich den bisher zu oft als esoterisch ausgeschlossenen Arbeitsformen zu öffnen. Dazu gehört die Meditation oder westliche Kontemplation, wie Verfahren des MBSR. Um dies in Organisationen hoffähig zu machen, wird eine Einsicht wichtig sein: sich selbst als verletzlich und unsicher zu akzeptieren und das Bild des »Führers« als einer stets wissenden und stets selbstgewissen Institution zu verabschieden.

Rüdiger Müngersdorff