Sowohl agil als auch lean – beidhändig agieren ohne janusköpfig zu werden!

Bewährtes wirksam und Neues möglich machen.
(Langjähriger Claim der SYNNECTA)

Organisationale Ambidexterität. Mit diesem etwas sperrigen Wort haben in den 1970er Jahren Robert Duncan, in den 1990er Jahren James March und vor kurzem einige weitere Autoren eine zentrale Zukunftskompetenz von Organisationen bezeichnet. Das Wort Ambidexterität stammt von lateinisch ambo (beide) und dexter (rechte Hand) und bezeichnet die Fähigkeit, mit beiden Händen gleich gut hantieren zu können. In den Unternehmenskontext übertragen sind ambidexterische Organisationen gleichzeitig effizient und flexibel bzw. anpassungsfähig. Sie können sowohl das Bestehende maximal ausnutzen (exploitation) als auch Neues erkunden (exploration).

Bisher habe ich mich in meinen Blog-Beiträgen vor allem auf den Pol der Anpassungsfähigkeit und das Explorationspotenzial von Unternehmen in einer von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) gezeichneten Situation konzentriert, auf der Suche nach adäquaten Verhaltensweisen eines VUCA-Handlings, zum Beispiel in den Bereichen Strategie, Organisation, Zusammenarbeit oder Führung. Ich bin auch weiterhin überzeugt, dass Unternehmen in Zukunft immer stärker mit VUCA konfrontiert sein werden und damit die exploration immer wichtiger werden wird. Gleichzeitig meine ich damit jedoch nicht, dass die exploitation aus den Augen zu verlieren sei. Unternehmen werden weiterhin auch zu guten Teilen in von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) geprägten Umfeldern agieren. Und in der SSEE-Situation ist es sinnvoll, in anderer Art und Weise zu agieren, als in der VUCA-Situation.

Um den richten Ansatz wählen zu können, ist es zunächst wichtig zu wissen, in welcher Situation man sich denn überhaupt befindet. Die nach Ralph Stacey benannte Stacey-Matrix kann hier hilfreich sein: Stacey korreliert die Ausprägung der Einigkeit über den Weg (agreement) und den Grad der Sicherheit des Weges (certainty). Sind sich etwa alle Beteiligtenim Unternehmen einig, welcher Weg gegangen werden soll, und ist auch klar, wie man diesen Weg zu gehen hat, so befindet sich die Organisation in einer einfachen Situation, in der es Sinn macht, auf erprobte Standards zurückzugreifen, diese einem engen Monitoring zu unterwerfen und kontinuierlich zu verbessern.

Anders verhält sich die Situation, wenn Uneinigkeit über den Weg herrscht – etwa aufgrund einer hohen Diversität unter den Stakeholdern. Wenn dann zusätzlich noch der Weg zur Erreichung der Ziele zunehmend unsicher wird – etwa wenn nicht genügend Informationen vorliegen oder zielführende Technologien erst entwickelt werden müssen – so gerät die Organisation immer mehr in eine komplexe Situation (steigen Uneinigkeit und Unsicherheit beide ins Maximale, so wird das Umfeld sogar chaotisch). In der komplexen Situation helfen Standards nur wenig. Hier ist es sinnvoller, durch offene Formen der Zusammenarbeit Wege »auszuhandeln« sowie Kreativität und Innovation zu fördern.

Ähnlich unterscheidet der Waliser Dave Snowden in seinem Cynefin Framework vier unterschiedliche »Lebensbereiche« von Organisationen: einfache und komplizierte Bereiche sind übersichtlich genug, um hier aus best bzw. good practices klar abzuleiten, was zu tun ist. Hingegen steigt die Unklarheit in komplexen und noch mehr in chaotischen Bereichen so stark an, dass hier nur noch emergent bzw. novel practices helfen. Der Unterschied zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Bereichen liegt in folgendem Vorgehen: In einfachen und komplizierten Bereichen nehme ich wahr, was passiert, kategorisiere bzw. analysiere dann die wahrgenommene Wirklichkeit und gestalte an den Ergebnissen orientiert meine Reaktion. In komplexen und chaotischen Bereichen hingegen beginne ich mit dem Testen bzw. Agieren. Erst danach nehme ich wahr, was passiert ist und gestalte dann daran orientiert meinen nächsten Schritt der Reaktion.

Sowohl die Stacey-Matrix als auch der Cynefin Framework können in Unternehmen sehr hilfreich sein, um die aktuelle Situation etwa einer Projektlandschaft zu identifizieren. In Workshops habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, mit den Teilnehmenden die einzelnen (Teil-)Projekte an Pinnwänden der Stacey-Matrix oder den vier Cynefin-Feldern zuzuordnen. Danach kann meist besser entschieden werden, welches Vorgehen sich für das jeweilige (Teil-)Projekt am besten eignet.

Denn in einfachen und komplizierten Bereichen bietet es sich an, in exploitation Effizienzen durch Standardisierung zu heben, da die notwenige Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit (SSEE) gegeben ist. Hier machen Effizienzprogramme, etwa aus dem Lean-Umfeld, Sinn. In komplexen Bereichen hingegen, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) geprägt sind, eignet sich am besten die exploration agiler Arbeitsweisen.

Ich möchte hier nicht ins Detail der Lean- bzw. agilen Ansätze gehen, sie jedoch kurz in Abgrenzung zueinander skizzieren. Aus der Automobilindustrie stammend und auf Serienfertigung und Massenproduktion fokussiert, versucht der Lean-Ansatz ein schlankes Unternehmen zu schaffen, das durch optimierte Prozesse und kontinuierliche Verbesserung so kostengünstig wie möglich und in bester Qualität mit schnellster Durchlaufzeit produziert. Zur Hebung von Effizienzen werden dabei kontinuierlich sogenannte Verschwendungen identifiziert und ausgemerzt. Eine wichtige Rolle spielt die Standardisierung, durch welche Veränderungen reduziert werden sollen und volle Prozesssicherheit generiert werden soll. Gleichzeitig herrscht im Unternehmen idealiter volle Transparenz über alle Kennzahlen.

Im Gegensatz dazu stammen agile Ansätze vor allem aus dem IT-Umfeld zur Generierung von Einzelprodukten (die anschließend »geklont« werden können). In iterativer Vorgehensweise entsteht unter starker Einbindung des Kunden das Produkt als kontinuierliches Inkrement Schritt für Schritt, von der ersten, rudimentär funktionierenden Rohversion bis hin zur finalen Fassung. Dabei erhält das agile Vorgehen volle Flexibilität, vor allem, um in Reaktion auf geänderte Rahmenbedingungen Veränderungen am Produkt schnell und kostengünstig umsetzen zu können. In kurzen Zyklen wird nach Arbeitsphasen (oft Sprints genannt) regelmäßig offenes Feedback eingeholt, um nicht zu lange in eine falsche Richtung zu laufen, sondern sich frühzeitig anpassen zu können.

Meiner Erfahrung nach kämpfen agile Ansätze in Unternehmen oft (unbegründet) gegen eine Fama des Chaos und der Anarchie – sie werden jedoch meist nicht als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegensatz dazu fürchtet bei Ankündigung eines neuen Lean-Projekts oft jeder zweite Mitarbeiter um seinen Arbeitsplatz oder geht zumindest davon aus, dass nun »härtere Zeiten« anbrechen. Die Schaffung von Transparenz wird nicht selten als Zunahme an totalitärer Kontrolle erlebt. Dies ist insofern nicht unbegründet, als in Europa viele Lean-Projekte tatsächlich nicht dem Mindset der ursprünglichen, aus Asien stammenden Lean-Philosophie verpflichtet zu sein scheinen: Oft handelt es sich bei Lean-Programmen in europäischen Unternehmen tatsächlich um squeezeouts, nach denen der Gürtel enger geschnallt werden muss. Und nicht selten werden diese mit Hilfe von mit Stoppuhr bewaffneten Beratern von außen initiiert und dann unter starker Nutzung von hierarchischer Autorität von oben nach unten in die Organisation »geprügelt«.

Derart implementierte Lean-Programme geraten dann in einen signifikanten Widerstreit zu agilen Ansätzen: Agiles Arbeiten auf Druck von oben ist nicht möglich. Zu sehr ist Selbstorganisation im Team und Pirate Leadership zentrale Grundbedingung für agiles Arbeiten: Denn nur so kann (dem Ashbyschen Gesetz folgend) die externe Komplexität des Umfelds organisationsintern hinreichend abgebildet werden, um die Steuerungshoheit zu behaupten.

Ich komme zurück auf die eingangs vorgestellte organisationale Ambidexterität: Simultan lean und agil agieren zu können erlaubt einem Unternehmen tatsächlich die Beidhändigkeit von exploitation und exploration. In der heutigen, eben kurz angerissenen Anwendung von Lean-Ansätzen liegt jedoch in vielen Unternehmen eine massive Barriere für die Realisierung von Ambidexterität: Anstatt die Vorteile der Beidhändigkeit zu realisieren, etablieren Unternehmen vielfach ungewollt eine Janusköpfigkeit und sprechen mit gespaltener Zunge. Wenn von Mitarbeitern auf der einen Seite verlangt wird, sich selbst zu organisieren, hierarchiefrei zu kommunizieren und kreativ zu denken (um exploration und Agilität zu realisieren), gleichzeitig jedoch mit harter Hand Effizienzprogramme in die Organisation gedrückt werden (und exploitation nur im wahrlich negativen Wortsinn betrieben wird), so treten in der gleichen Organisation zwei fundamental gegensätzlich gelagerte Führungsdiskurse in Konkurrenz. Dieser Widerstreit kann dann nicht zu Ambidexterität führen, sondern generiert einem organisationskulturellen double bind, der die Mitarbeiter verunsichert und die Organisation lähmt.

Der Janusköpfigkeit kann jedoch vorgebeugt werden, wenn sich Unternehmen bei der Durchführung von Lean-Projekten auf die Denkhaltung fokussieren, die der asiatischen Lean-Philosophie ursprünglich zugrunde liegt. In ihr findet im schlanken Unternehmen ein tatsächliches Empowerment der Mitarbeiter statt. Diesen wird in großem Umfang Eigenverantwortung zur Hebung der Effizienzpotenziale übertragen. Ihre Teamarbeit steht stark im Vordergrund und Führungskräfte verstehen sich als Unterstützer und Dienstleister der Mitarbeiter. Die geschaffene Transparenzkultur wird dann nicht als Bedrohung erlebt (da sie kein Kontrollinstrument autoritärer Führung ist), sondern dient gepaart mit offenem Feedback in einer gesunden Fehlerkultur tatsächlich der ständigen Verbesserung. All dies ist dann kompatibel mit agilen Ansätzen.

Mit dieser Geisteshaltung zeigen Lean- und agile Ansätze in einem Unternehmen beide das gleiche, wertschätzende und kalkulierbare Gesicht der Führung. Sie sprechen nur mit einer Zunge eine eindeutige Sprache der verlässlichen Organisationskultur. Innerhalb dieser können Mitarbeiter dann mit beiden Händen kraftvoll zupackend sowohl die SSEE-Welt effizient bewirtschaften, als auch die VUCA-Welt erfolgreich erschließen.

Johannes Ries

Neue Führung für eine neue Welt – Ein Diagnoseinstrument zum Thema VUCA

Follow-ups

Planungsunsicherheit, Forderung nach schnellerer Anpassung, hohe interne Flexibilität, abrupte Strategieanpassungen prägen die heutige und kommende Führungssituation. VUCA ist das Kunstwort, mit dem diese Situation beschrieben wird. Ist Ihre Organisation darauf vorbereitet?

Wir experimentieren seit letztem Jahr mit Diagnosetools zur Standortbestimmung: Wie sehr sind Organisationen eigentlich auf diese Situation vorbereitet. Ein Bericht aus der Entwicklung der Instrumente zum geleiteten Zukunftsscheck für Unternehmen.

Rüdiger Müngersdorff

Ein Diagnoseinstrument zum Thema VUCA

Befinden wir uns in unserem Unternehmen wirklich im VUCA-Zustand? Ist die Situation meines Unternehmens tatsächlich so volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig?

Wie wird dies von den Mitarbeitern und Führungskräften in meinem Unternehmen wahrgenommen? Und gibt es dabei Unterschiede je nach Betrachtungsgegenstand – die Organisation als Ganzes, das eigene Team, der einzelne Mensch? Was wird dabei als besonders herausfordernd beschrieben und wo haben sich bereits erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt?

Wir haben in mehreren Blogbeiträgen das VUCA-Phänomen greifbar gemacht und mögliche Lösungsstrategien aufgezeigt. Bevor nun ein Unternehmen oder eine Organisationseinheit Maßnahmen ergreift, um in der postulierten VUCA-Welt besser zurecht zu kommen, macht es Sinn die eingangs formulierten Fragen zu klären und erst dann über mögliche Konsequenzen und Interventionen nachzudenken.

Eingeleitete Reflektion zum Status der eigenen Organisation ist hier sehr hilfreich. Aus diesem Grund haben wir im Vorfeld unserer letzten SophiaWerkstatt im ersten Schritt einen Fragebogen entworfen. Dieses Tool hilft herauszufinden, wie die Situation von Menschen im Unternehmen aktuell erlebt wird. Es geht also weniger um die Messung und Bewertung von objektiven VUCA-Indikatoren, als vielmehr um subjektive und individuelle Wahrnehmungen.

VUCA wird häufig als Beschreibung der äußeren Welt bzw. des organisationalen Kontextes eines Unternehmens herangezogen, so etwa wenn die zunehmende Volatilität der Märkte Planung erschwert, da sich notwendige Annahmen und Vorhersagen als nicht besonders valide erweisen. Derartige externe Faktoren gibt es viele, jedoch spielen häufig auch interne, in dem Sinne »hausgemachte« Ursachen eine nicht unwichtige Rolle. Bestimmte Strukturen, Prozesse, kulturelle Muster und Verhaltensweisen können ebenso dazu führen oder verstärkend dazu beitragen, dass Mitarbeiter und Führungskräfte ihr Umfeld als wenig stabil, sicher, einfach und klar erleben. Dies kann zu vielfältigen dysfunktionalen Verhaltensweisen führen und die Reaktionsfähigkeit des Unternehmens auf die beschriebenen Unsicherheiten der Außenwelt einschränken. Hierauf liegt der besondere Fokus des Fragebogens.

In Zusammenarbeit mit der University of Manchester verfeinern wir gemeinsam mit Carolin Hauner im Rahmen ihrer Masterarbeit das VUCA-Diagnoseinstrument und spezifizieren auch den Fragenbogen weiter. Auch in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirtschaft soll abgesichert werden, dass am Ende ein hilfreiches Instrument zu Verfügung steht. Falls Sie Interesse haben, sich an diesem Prozess im Sinne der Co-Creation zu beteiligen, besprechen wir gerne Details und ein mögliches Vorgehen mit Ihnen.

Falls Sie gerne den VUCA-Fragebogen bei Ihnen einsetzen möchten, um ein erstes Bild zu erhalten, wie die VUCA-Situation bei Ihnen im Unternehmen erlebt wird, melden Sie sich gerne unter diagnostics@synnecta.com.

Thomas Meilinger
SYNNECTA Diagnostics

Neue Führung für eine neue Welt – Demokratisierung der Unternehmen – erste realistische Schritte

Im Jahr 2010 schrieb Georg Diezin der SZ Nr. 275:

»Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Jahrzehnt, das sich immerhin in Konturen abzeichnet. Ein neuer grüner Hedonismus, eine neue Technikeuophorie, eine Krise, die alte Hierarchien über den Haufen wirft und neue Konstellationen ermöglicht und Platz macht für neue Ideen.«

Und nun sind die Medien, die sozialen wie die offiziellen, voll von Vorschlägen, wie mit demokratischen Formen und Methoden die Krise der Hierarchie bewältigt werden kann. Ob dies mit den Systemzwecken von Unternehmen und ihrer Einbettung in den globalen Finanzmarkt in Übereinstimmung zu bringen ist, wird wenig gefragt. In den Vorschlägen zu einer Demokratisierung schwingt eine andere Hoffnung mit: die Hoffnung vieler, engagiert und selbstbestimmt arbeiten zu können.

Wenn diese Diskussionen in Unternehmen aufgenommen werden, dann aus zwei Fragestellungen: Was muss ich erstens tun, um einen Ort zu schaffen, der MitarbeiterInnen engagiert arbeiten lässt, und wie kann ich zweitens einen Kontext kreieren, in dem sie mir ihr Potenzial tatsächlich zur Verfügung stellen. Antworten auf beide Fragen führen zu einer anderen Realität von Führungsarbeit – im Kern wird gefragt: Wie kann ich Mitarbeitern Gehör verschaffen und wie können sie in einem Zusammenhang arbeiten, den sie als bedeutsam empfinden. Wäre beides verwirklicht, könnten mehr MitarbeiterInnen sich als selbstwirksam erleben – die psychologische Basis für motivierte, selbstbewusste Menschen.

Die derzeitige Dringlichkeit wird deutlich, wenn man sich mit den nahen und mittelfernen Zukunftsszenarien auseinandersetzt, die in Bezug auf eine unternehmensinterne Wahrnehmung mit dem Kürzel VUCA beschrieben wird (Jörg Müngersdorff: Neue Führung für eine neue Welt; Johannes Ries: VUCA).

Jörg Müngersdorff hat die mögliche Dramatik der Entwicklung in den unterschiedlichsten Themenfelder klar benannt und die entscheidende Frage gestellt: Sind Unternehmen darauf vorbereitet? Blickt man auf die regelmäßigen Messungen zur Motivation von Mitarbeitern in größeren und großen Unternehmen (70% bis 80% je nach Studie werden als unmotiviert beschrieben), muss die Antwort wohl nein heißen. Es sei denn, man glaubt, mit 30% Potenzial der Mitarbeiterschaft ließen sich die kommenden Herausforderungen bewältigen.

Aber ist Demokratisierung die Antwort? Allein ein Blick auf das Thema »Wir wählen unsere Führung« lässt die Befürchtung eines ständigen Wahlkampfes aufkommen. Dennoch: Die Demokratisierung findet längst statt. Plebiszitäre Formen wie die Mitarbeiterbefragungen, das 360° Feedback und Managementdialoge sind Schritte auf dem Weg zu einem demokratischer verfassten Unternehmen.

Wenn wir über die nächsten Schritte nachdenken, dann stehen zwei Themenfelder im Vordergrund, bevor man sich an das Experiment des »Wählens« von Führungskräften, strategischen Themen, Gehältern, etc. wagen kann.

Zunächst geht es um ein Aufbrechen hierarchischer Grenzen. Wir bilden Schichten in Unternehmen, die einen auf diese Schicht eingeengten Diskurs führen, der sich zu oft in gleichen Mustern wiederholt. Wir erleben derzeit, dass die unteren Schichten gegen diese Abgrenzung protestieren. Und es geht dabei nicht vor allem um Statusfragen oder das, was gemeinhin unter Neidfaktor subsumiert wird, es geht um die Wahrnehmung, dass die Führung zu weit weg ist von der Realität, dass ihr Bodenkontakt fehlt. Das gilt intern aber auch in Bezug auf die Entwicklung der Märkte. Das Aufbrechen dieser Abgrenzung lässt sich schnell und ohne Eingriffe in die Struktur realisieren. Man könnte es als ein wirklich Werden der verbreiteten Kamingespräche verstehen.

Die Führungstagungen, Managementmeetings, Strategiekreise und ähnliche Treffen werden anders besetzt. Die Hälfte der Teilnehmer werden von Mitarbeitern hineingesandt. Dabei ist es wichtig, dass lokale oder funktionale Einheiten, die kleiner als einhundert Mitarbeiter sind, Kollegen in diese Kreise wählen. Das wird immer nur ausgewählte, im Zeitverlauf wechselnde, Gruppen betreffen, aber es wird die Gespräche, die Auseinandersetzungen und die Themen in den klassischen Treffen nachhaltig verändern. Die hierarchischen Grenzen werden fließender, bottom-up Wissen dringt in die Meinungsbildung und Beteiligung (die Bedingung für Engagement und Motivation) wird ermöglicht. Dies sind sanfte Methoden der Demokratisierung, die zugleich die vertikale Kommunikation der Unternehmensführung nachhaltig verbessern. Wer dabei war, wird anders darüber sprechen.

Das zweite Themenfeld betrifft eine der Grundlagen demokratischer Orientierung, der Aufbau einer kritischen internen Medienlandschaft. Unternehmen müssen den Weg aus einer gelenkten, an Imagebroschüren orientierten internen Presse aufgeben. Die kritische Gegenöffentlichkeit ist eine der Bedingungen für funktionierende Beteiligung und für die Verantwortlichen eine wichtige Informationsquelle über das, was gedacht, wahrgenommen und gefühlt wird. Die eingeführten internen sozialen Plattformen sind hier ein Eingangstor für das Üben und Probieren im Umgang mit einer kritischen Gegenöffentlichkeit.

Es ist sichtbar, das klassische Procedere, eine Führungskraft aus der Hierarchie zu bestimmen, hat nicht mehr die volle Legitimierungskraft, die dem Verfahren früher zukam. Heute gibt es einen zweiten Bestimmungsprozes: Meine Mitarbeiter müssen mich nach der Besetzung aktiv wählen. Das macht uns dialogpflichtig. Und verlangt die so oft angesprochenen sozialen Kompetenzen. In einem Unternehmen, dem es gelungen ist vertikale Beteiligungsmodelle einzuführen, und das mit den Mitarbeitern tatsächlich im Gespräch ist, ist es erheblich einfacher, soziale Kompetenz zu erwerben. In solchen Unternehmen arbeiten die Menschen gemeinsam an einem Zweck, wissen um die Bedeutung dessen, was sie tun und können erleben, dass ihr Beitrag wertvoll ist.

Und zur Erinnerung: Warum das alles? Weil wir mehr als 20% oder 30% engagierte MitarbeiterInnen benötigen, wenn wir den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wollen.

Rüdiger Müngersdorff

AIKIDO Leadership

Vor einiger Zeit habe ich in diesem Blog unter dem Stichwort VUCA-AIKIDO sechs Grundhaltungen für eine neue Souveränität im Unternehmen vorgestellt. Diese haben ein AIKIDO Mindset skizziert, mit welchem Mitarbeitende im Unternehmen der VUCA-Situation gestärkt begegnen und in der VUCA-Situation selbst handlungsfähig bleiben können.

Die vorgestellten Grundhaltungen sind auf positives Echo gestoßen. Diskussionen mit KundInnen, ProjektpartnerInnen und KollegInnen, nicht zuletzt sehr intensiv auf der letzten Sophia motivieren dazu, die Grundhaltungen weiter zu denken. Für den Unternehmenskontext ist vor allem interessant, wie Führungskräfte dieses AIKIDO Mindset in ihrer Führungsarbeit wirksam machen können. Wie kann ich die mir anvertrauten MitarbeiterInnen durch eine negativ erlebte VUCA-Situation führen? Und wie kann ich gleichzeitig mein Team befähigen, das positive Potential von VUCA zu nutzen?

In den folgenden für die Führungsposition zugespitzten Prinzipien mögen erste Antworten liegen:

AIKIDO Leadership

AGILISIEREN Ich fördere Selbstverantwortung und Intrapreneurship. Ich verschaffe meinem Team Freiraum und unterstütze seine Selbststeuerung. Ich sorge für Selbstreflexion.

INTUITION NUTZEN Ich habe einen authentischen Führungsstil. Ich bin mit meinen MitarbeiterInnen im Dialog über ihre Gefühlslage. Ich gehe konstruktiv mit Fehlern um und verantworte sie. Ich investiere in Spiel und Experiment.

KLARHEIT SCHAFFEN Ich erzähle eine gute Führungsgeschichte. Ich stifte Sinn und gebe durch Werte Handlungsorientierung. Ich kuratiere die mir wichtigen Themen.

INTERAKTION FÖRDERN Ich schenke meinen MitarbeiterInnen Vertrauen. Ich gebe und bitte um offenes Feedback. Ich vergemeinschafte meine MitarbeiterInnen. Ich führe im Schulterschluss mit KollegInnen und fördere Co-Creation.

DIVERSITÄT AUFBAUEN Ich suche »unpassende« MitarbeiterInnen und investiere in den Unterschied. Ich rege meine MitarbeiterInnen zum konstruktiven Widerspruch an. Ich pflege und fördere das Denken und Handeln in Optionen.

ORGANISMEN PFLEGEN Ich stimuliere kontinuierlich Veränderung und agiere prozessorientiert. Ich erzeuge Emergenz durch intensive Vernetzung. Ich sorge für Balance und Rhythmus.

Johannes Ries

»Vertrauen ist für mich eine Grundhaltung« – Musikalische Anregungen zur Improvisationskultur

Life is a lot like Jazz … it’s best when you improvise. (George Gershwin)

Im Zuge der zunehmenden VUCA-ness der Wirtschaftswelt glaube ich, dass in der Improvisationsfähigkeit von Individuen, Teams und Organisationen eine zunehmend wichtiger werdende Kompetenz liegt: Wenn ich aufgrund von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nicht mehr sicher sein kann, dass mein Plan von heute morgen noch Gültigkeit haben wird, so wird ein spontanes Handeln aus dem Moment heraus wichtig. Wenn ich zusätzlich immer schneller agieren muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben, jedoch auf keinerlei Planungsgrundlage zurückgreifen kann, so kann ich nur noch über Trial and Error Ergebnissicherheit aufbauen. Wenn sich die Vorzeichen jederzeit ändern können und ich in immer kürzeren Zyklen zur Anpassung und Neuausrichtung gezwungen werde, so wird Improvisation auch aus finanziellen Gesichtspunkten interessant: Eine perfekte Struktur aufzubauen kostet viel Zeit und Kapazitäten. Brauche ich jedoch in jedem Fall eine perfekte Struktur? Vor allem, wenn die Fälle immer weniger Standard und immer mehr »customized« werden? Salopp formuliert: Perfekt orchestrierte Unternehmen werden zunehmend Jazzbandqualitäten beweisen müssen, um sich in der VUCA-Welt erfolgreich zu behaupten.

Während der letzten SophiaWerkstatt starteten wir im Rahmen dieser Hypothese folgendes Experiment: Wir luden die beiden Musiker Ulla Oster (Kontrabass) und Vincent »Themba« Goritzki (Gitarre) ein, gemeinsam einen Abend lang zu improvisieren. Jedoch baten wir sie, vorher nicht miteinander in Kontakt zu treten. Wir wollten die musikalische Möglichkeit der Improvisation aus der spontanen Begegnung heraus ausloten und anschließend in einen Dialog über Grundprinzipien der Improvisation gehen.

Ich selbst erwartete den Veranstaltungteil mit einiger Aufregung: Es gab natürlich keinerlei Gewissheit, dass die Melodien und Rhythmen, die die beiden Musiker im Zusammenspiel ihren Instrumenten entlocken, bei den Teilnehmenden auf wohlwollendes Gehör stoßen würden. Meine Aufregung steigerte sich noch, als die beiden zu spielen begannen: amorph und chaotisch, ohne zu erkennende Gleichklänge, mehr Geräusch als das, was man landläufig unter Musik versteht. Doch dann etablierten sich langsam, im gegenseitigen Abtasten und aufeinander Reagieren die ersten Strukturen. Harmonien wurden aufgenommen, Melodielinien aufgegriffen und weitergesponnen, ein Rhythmus eroberte das Chaos – es klang! Die ersten Zehenspitzen wippten mit. Es klang immer mehr… Nach einer Dreiviertelstunde einigten sich die beiden Musizierenden im Blickkontakt, dass ihre Improvisation nun beendet sei, verbeugten sich zuerst kurz voreinander und anschließend vor dem Publikum. Sie ernteten begeisterten Applaus der anwesenden Führungskräfte und Unternehmensvertreter.

Im anschließenden Interview klopften wir zunächst die Grundlagen des gemeinsamen Spiels ab und öffneten anschließend die Diskussion mit den Zuhörern. Ich möchte aus diesem Dialog einige Gesprächspassagen aus dem Gedächtnis rekonstruieren, die mich besonders berührt haben, da sie aus meiner Perspektive paradigmatisch illustrierten, worin die Grundlage für ein erfolgreiches gemeinsames Improvisieren liegt. Sie zeigen außerdem, wie unterschiedlich die Denkweisen zwischen uns Zuhörern und den Musikern waren.

Zuhörer: So nach einer Dreiviertelstunde gemeinsam Spielen: Wie findest Du ihn? Wo ist er gut, wo nicht so…
Musikerin: Das ist viel zu früh, um das zu beantworten, ich kenne ihn noch viel zu wenig…

Zuhörer: Während des Stücks ist mir aufgefallen, dass ihr Euch immer wieder in der Führung abgewechselt habt: Mal hat der eine geführt und der andere ist gefolgt, dann anders herum. Wie ging das?
Musiker: Für mich war das keine Frage von Führen und Folgen. Wir haben da eher einen Dialog auf Augenhöhe geführt…

Zuhörer: An einer Stelle ist er lauter geworden und Du bist dann in den Widerstand, hast Dich gewehrt, bist in Konflikt gegangen…
Musikerin: Da hatten wir aber keinen Konflikt, es ging da nicht um Macht. Ich bin einfach nur der Energie gefolgt.
Musiker: Das ist eher wie bei einer Unterhaltung, die – zum Beispiel aus Begeisterung – angeregter, lauter wird. Und man wird dann auch lauter, ohne es selbst so richtig zu merken…

Zuhörer: Ihr kanntet Euch ja gar nicht. Wie hast Du Vertrauen zu ihr aufgebaut?
Musiker: Das war von Anfang an da. Vertrauen ist für mich eine Grundhaltung.

Vier Gedankenanstöße der Musiker also für eine neue Improvisationskultur in Unternehmen:

  • Den anderen respektvoll und zurückhaltend erst einmal so sein lassen, wie er ist, ohne ihn schnell einzuordnen und seine Leistung zu bewerten;
  • einen gleichberechtigten Dialog führen statt Führung und Gefolgschaft auszuhandeln;
  • Energien verstärken und gemeinsam nutzen statt um Macht zu ringen und sich zu bekämpfen;
  • Vertrauen schenken statt es sich verdienen zu müssen…

Ich könnte mir vorstellen, dass mit der musikalisch inspirierten Haltung nicht nur ein Improvisieren im Unternehmen möglich wird, sondern Zusammenarbeit generell noch besser gelingen könnte. Eine schöne Einladung der Musiker zum Experimentieren, Improvisieren im eigenen Handlungsfeld und Unternehmensbereich…

Johannes Ries