Ein Plädoyer für gruppendynamisches Erfahrungslernen und gegen die Übermethodisierung agilen Vorgehens

In letzter Zeit begegnen uns immer häufiger Mitarbeiter und Führungskräfte, die in einem agilen Umfeld arbeiten und uns fragen, wie geht man mit dominanten informellen Führern um. Informelle Führung ist sowohl in der Soziometrie als auch in der Gruppendynamik ein wesentliches Phänomen, das oftmals zu erheblichen sozialen Spannungen in Gruppen und Teams führt.

Es geht um Gruppen- und Organisationsmitglieder, die keine andere Legitimation haben, als ihre Durchsetzungskraft in Gruppen. Sie dominieren durch ihr Verhalten. Ihre Motivation zur Dominanz hat oft wenig mit einem sachlichen Vorsprung zu tun. Informelle Führung wäre unproblematisch, wenn sie der Sache dienen würde, jedoch geht sie oft mit negativen Nebenwirkungen einher: Motivationsverlust, Frustration und Leistungsminderung bei den anderen Teammitgliedern.

Selbstorganisation ist eine sehr anspruchsvolle Form der Zusammenarbeit – in ihr fällt die regelnde Funktion eines formellen Führers oft weg oder sie wird aus Unsicherheit nicht mehr wahrgenommen. Es entfalten sich gruppendynamische Prozesse mit den bekannten Nebeneffekten – Stressphänomene, Rückzug Einzelner, Rangkämpfe und oft bleibt das Ganze dann in einer dysfunktionalen Normierung der Gruppe stecken. Hier wird dann gerne auf methodische Reinheit verwiesen und die Methoden werden in klassischem Organisationsdenken weiter verfeinert und werden bürokratisiert. Jedoch der Glaube trügt, dass methodische Reinheit dem Phänomen beikommt. Rationale Regeln können ein emotionales Phänomen kaum begreifen und schon gar nicht in sie sinnvoll eingreifen. Emotionalität, wenn sie denn beeinflusst werden soll, braucht Emotionalität.

Es gibt ein gutes Beispiel für die negative Wirkung der Übermethodisierung. Wir haben in den letzten Jahren beobachten können, wie Continious Improvement Ansätze durch eine Übermethodisierung und durch Regulationseifer an Kraft und Wirkung verloren haben. Ihr ursprünglicher Impuls mit wenigen einfachen Methoden, Menschen lustvoll zu einer Beteiligung einzuladen, wurde erstickt. Wer Leidenschaft, Gestaltungswillen und Selbstwirksamkeit in ein methodisches Korsett zu zwingen versucht, erstickt diese emotional so wirksamen und wichtigen Kräfte.

In allen agilen Methoden und Arbeitsformen sind durch den Aspekt der Selbstorganisation und das Zurücknehmen einer formal mächtigen Führungsrolle deutlich gruppendynamische Aspekte zu bemerken – sie haben viel positive Energie, wenn sie die Teilnehmer einbinden, ihnen eine gemeinsame Mitte geben können und das Spiel der Dominanz in der Gruppe reflektiert werden kann. Genau dies aber geschieht häufig nicht und die Gruppendynamik entfaltet ihre negativen Wirkungen. Wenn wir agil erfolgreich arbeiten wollen, dann brauchen wir gemeinsam ein hohes Verständnis für die sozialen Phänomene und eine gemeinsame Sprache, um mit ihnen umgehen zu können.

Die in den Arbeitsbeschreibungen vorgesehenen Begleiter achten auf die Einhaltung der Methoden, können in gruppendynamische Phänomene aber kaum eingreifen – ihnen fehlt Ausbildung und Erfahrung. Agile Coaches können hier helfen, wenn sie über gruppendynamische Erfahrungen verfügen. Das kommt jedoch in den meisten Ausbildungen zu kurz.

Und will man Gruppen helfen einen Weg zu einer gelingenden Selbstorganisation zu finden, dann brauchen die Gruppen begleitende Erfahrung über das, was mit ihnen und anderen in Gruppen geschieht. Wir sind heute oft in Gruppencoachings aktiv, in Gruppen, die agil arbeiten oder doch zumindest agil arbeiten sollen und wollen. In diesen Coachings reichen bereits wenige Erfahrungen, die in der Gruppe reflektiert werden, aus, um aus manchen der negativen Dynamiken aussteigen zu können und so das Potenzial einer Gruppe zu entfalten.

Eine unreflektierte, dominante informelle Führerschaft macht die potenziell so reichen Gruppen ärmer als es der Einzelne sein könnte. Damit verlieren wir Engagement, Wissen und Können. Deshalb hier ein Plädoyer für ein breiteres gruppendynamisches Lernen in Organisationen und eine Warnung vor einer Übermethodisierung von Arbeitsformen, deren Grundlage ein emotionales Engagement bilden.

Rüdiger Müngersdorff

Empathie oder Compassion?

Es gibt einen guten Grund für die Business-Karriere des Begriffs Empathie: Während wir relativ zuversichtlich sind, dass die neuen, flacheren Hierarchien und eher selbstorganisierten Organisationsformen für die einzelnen Individuen Spiel- und Gestaltungsraum bieten, sehen wir zugleich, dass der von ihnen provozierte Individualismus noch kein adäquates Gegengewicht im Sinne einer Gemeinschaftorientierung gefunden hat.

Dieser Mangel wird spürbar in der Häufung konkreter Anfragen an uns, die immer nach größerem Zusammenhalt, Stärkung gegenseitiger Rücksicht, besserem Umgang mit Konflikten fragen. Auch die notwenigen »Retros« der agilen Arbeitsmethodiken werden fast immer im Sinne von Gemeinschaftsbildung angefragt – die sogenannten weichen Faktoren stehen im Vordergrund.

Ob die Treffen, Workshops nun als Retro, als Subversion, als Teambildung oder als Konfliktmoderation angefragt werden, es geht in ihnen um die Qualität der Gemeinschaft, um Zusammenhalt, um gemeinsames Verständnis dessen, was man will und soll. Es geht darum, den anderen mit zu berücksichtigen – in der Gruppe und in übergreifenden Zusammenhängen. Das Konzept Empathie folgt dabei dem Individualisierungstrend – es ist die Forderung an Individuen eine Fähigkeit zu entwickeln, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen und im eigenen Kalkül zu berücksichtigen.

Empathie als Werkzeug des besseren Verständnisses und recht oft als Befähigung zur besseren Manipulation greift für die Organisationsentwicklung zu kurz. Es geht hier um ein notwendiges Gegengewicht zur individuellen Performancesteigerung – es geht um die Bildung einer gemeinsamen Mitte, die Orientierung stiftet und individuelles Handeln an den Nutzen für die Gemeinschaft zurückbindet. Es geht um das Feuer der Mitte – und das braucht mehr als Empathie, es braucht Compassion – die emotionale Bereitschaft für andere zu handeln.

Rüdiger Müngersdorff

Vertikal/Horizontal

In fast allen Change-Projekten oder Organisationsentwicklungsreisen stoßen wir an die Barrieren der vertikalen Organisation – sie begrenzt die Energie der horizontalen Netzwerke, in der fast alles Wissen der Organisation gespeichert ist. Immer wieder scheitern horizontale Ansätze am Primat der Vertikalen, der hierarchischen Verfasstheit der Unternehmen.

Dem Festhalten an diesem Primat der Vertikalen liegt ein tiefer Glauben zu Grunde, nur so ein Unternehmen führen und kontrollieren zu können. So glauben Unternehmen weiterhin an Ausleseprozesse und versuchen eine Führungselite zu bilden – die aber ist immer eine alte Elite, ist immer von gestern. Das war in der Vergangenheit, als die Entwicklung der Märkte, die Entwicklung der technischen Möglichkeiten, die Entwicklung der Bedürfnisse langsam waren, unproblematisch, jetzt aber in der dynamisch beschleunigten Welt, in der das Unerwartete stets schon am Horizont wartet, ist es eine Blockade. Diese Blockade zu überwinden wird eine der Aufgaben der Zukunft sein.

Für die Übergangszeit wird es wohl nötig sein, dem Horizontalen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, den in der Breite der Organisation verborgenen Clustern Stimmen zu geben. Urban gardening war die erste gelebte Metapher für diese Situation: Menschen gestalteten jenseits behördlicher Betreuung den Stadtraum, nahmen ihn in Besitz, Durchwegung ist die aktuelle Metapher, Wege durch die Stadt jenseits der Straßen- und Verkehrsplanung. Hier liegen die Zugänge für das Wissen und Können der Zukunft. Nicht mit dem Umzeichnen der Organigramme wird eine Organisation flacher, sondern durch durchwegtes Gespräch, der Schaffung anderer Begegnungsräume – seien sie analog oder digital.

Rüdiger Müngersdorff

Führungstraining

Führungstraining – einmal nicht in ein Programm gepresst, sondern ein freier Austausch zwischen Menschen in Verantwortung. Sie fragen nach Orientierung jenseits der unternehmenseigenen Leitlinien. Es ist eine Gruppe asiatischer Führungskräfte. Wir lesen Abschnitte aus Max Webers Vortrag von 1919 »Politik als Beruf« und übertragen es auf Führungskräfte – ersetzen das Wort Politiker immer wieder durch das Wort Führungskraft. Wir verstehen unsere Aufgabe mit Webers bekannten Satz: »Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker (und wir setzen Führungskraft ein): Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.«

Es ist eine lange und intensive Diskussion und schließlich enden wir bei einem Satz Webers: »Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker (und wir ersetzen wieder Führungskraft) täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber.« Am Ende frage ich mich, ob denn eine z.B. deutsche Führungsgruppe die Geduld und Offenheit hätte, einen solchen Text zu lesen und reflektierend auf sich selbst zu beziehen.

Führungstraining ohne Restriktion

Ein anderer Satz sorgte für Diskussion und intensivere Selbstreflexion – bei manchem mit dem Ergebnis, zwar ein guter Manager sein zu können, aber wohl doch nicht ein »Leader«. Max Weber in Politik als Beruf: »Nur wer sicher ist, dass er nicht daran zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ›dennoch!‹ zu sagen vermag, nur der hat den ›Beruf‹ zur Politik.« Politik hier wieder durch Leadership ersetzt.

Eintauchen in den offen vor uns liegenden Bildungsschatz bringt für die eigenen Selbstbestimmung oft mehr als die zu häufig Marketing getriebenen Konzepte der Managementliteratur. Und ganz nebenbei sorgt die Tiefe der Diskussion ganz von selbst für ein offeneres und ein ehrliches Teamklima.

Rüdiger Müngersdorff

6. SYNNECTA Tischrunde: Komplexität? Agilität!

Im Rahmen unserer Reihe »SYNNECTA Tischrunde« für HR-Entscheider und Führungskräfte möchten wir Sie herzlichst zum folgenden Thema einladen:

Komplexität? Agilität!
HR im Aufbau einer agilen Unternehmenskultur

Mit bewährten Methoden wie Design Thinking, SCRUM oder Kanban werden agile Arbeitsweisen ins Unternehmen eingeführt. Jedoch wird dabei häufig das volle Potenzial der Methoden nicht ausgeschöpft. Einer der Gründe liegt darin, dass der erfolgskritische Faktor – ein agiles Mindset – als schon gegeben vorausgesetzt wird.

In dieser HR-Tischrunde stellen wir das agile Mindset ganzheitlich in den Fokus und fragen, wie sich dieses initialisieren und entwickeln lässt.

  • Wo macht Agilität überhaupt Sinn – und wo auch nicht?
  • Wie sieht eine Umgebung aus, in der Menschen in agiles Handeln kommen können?
  • Wie werden im agilen Kontext Entscheidungen getroffen?
  • Wie begegnen wir dabei entstehenden Konflikten?
  • Und schließlich: Wie können Führungskräfte das Spannungsfeld zwischen effizienter Standardisierung und hierarchieverändernder Agilität produktiv gestalten?

Auf diese Fragen möchten wir mit Ihnen gemeinsam im Dialog zwischen Philosophie, Kampfkunst und Unternehmertum Antworten finden. Dabei werden wir das Thema selbst agil angehen und sogar körperlich erfahren.

Moderation: Maria Wagner, Dr. Jörg Müngersdorff, Dr. Johannes Ries (Ethnologe), Prof. Dr. Thomas Christaller (Aikidomeister)
Wann: am 12. Oktober 2017, von 10:00 – 17:00 Uhr
Wo: Zentrum für Bewegung und Lebenskunst, Kessenicher Straße 217, 53129 Bonn
Kosten: 250 EUR zzgl. MwSt., ohne Unterkunft.
Informationen & Anmeldung & Unterkunft: Wenden Sie sich hierfür bitte bis zum 18. September 2017 an unser Office Team in Köln: