Das WIR des Unternehmens – Dynamiken der Identitätsbildung

Es ist keine neue Herausforderung: Wie können Unternehmen eine erkennbare und das Verhalten der Mitarbeitenden leitende Identität gewinnen oder erhalten? In den großen Unternehmen, deren Geschichte oft von Mergern geprägt ist, überrascht immer wieder, wie tief und dominierend eine Herkunftsidentität ist. Sie zeigt sich auch nach Jahrzehnten in Einstellungen, in Entscheidungsformen in den Geschichten, die erzählt werden. Die Zugehörigkeit zur aktuellen Gemeinschaft und die emotionale Bindung an deren Identität ist da oft oberflächlich geblieben. Diese Dynamik ist jedoch nicht nur in den von Mergern geprägten Unternehmen zu beobachten. Wir sehen, dass Unternehmen immer fragmentierter werden – die Peripherie gewinnt höhere Bedeutung, die Unterschiedlichkeit der Märkte erzwingt unterschiedliche Handlungsstrategien und fördert so differente Selbstbeschreibungen. Heute kommen sich schnell entwickelnde unterschiedliche Arbeitsweisen hinzu – unterschiedlichste Grade der Selbstorganisation, wie sie von agilen Arbeitsmethoden verlangt werden und mit ihnen andere Strukturen und andere Verhaltensweisen und Erwartungen an das Verhalten. Das unternehmensweite Wir wird brüchig.

Vor einem Jahrzehnt war die Antwort auf diese Brüchigkeit: Gemeinsame Werte und eine Unternehmensmarke formulieren und intensiv kommunizieren. Das führt bis heute zu den Wellen der Beeinflussung durch die internen Kommunikationsbereiche, sei es zu Werten, sei es zum Führungsverhalten, zu Compliance, zu den je eigenen Claims, die die Leitidentität beschreiben sollen. Wie in einer unvermeidlichen Bürokratie üblich wurden dann auch zugehörige Sanktionsmechanismen ausgebildet.

Nun sind mit der Purpose-Rhetorik und einer sich deutlicher zu Wort meldenden Öffentlichkeit die Claims hinzugetreten, die das Unternehmen als »gut« bestimmen – hilfreich und nützlich für die Gesellschaften. Zu Beginn dieser internen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und ihrer Verankerung als das Handeln leitende Leitbild wurde eine aus der Hierarchie definierte Identität noch einfacher akzeptiert. Heute steigt der Anspruch an die Beteiligung der Mitarbeitenden und darüber hinaus anderer relevanter Stakeholder, womit die Grenze des Unternehmens überschritten wird.

Blickt man auf dieses Thema aus einer gesellschaftlichen Perspektive, so hat sich dieses Problem schon immer für jede Gesellschaft und ihre politische Formierung gestellt. Dabei spielte dann ein in den Bildungseinrichtungen vermittelter Kanon zugleich mit der Vermittlung einer gemeinsamen Sprache eine große Rolle. Unternehmen haben mit ihren Bildungs- und Trainingsabteilungen hier vergleichbare Strukturen, die sie jedoch nur bedingt nutzen und die ein großes Potential beinhalten. Eine gemeinsame Verwaltungsinfrastruktur (welche oft als Zentralisierung empfunden wird, weil sie noch in einer »Corporate«-Struktur gebündelt wird) und die Ausbildung von Eliten sind andere Maßnahmen zur Gestaltung von gemeinsamer Identität. Die großen Feste, genannt Leadership Meetings, Unternehmenstage und andere gebräuchliche Bezeichnungen, seien sie analog oder virtuell, dienen vor allem der Feier einer dort emotional gestalteten, erlebbaren Identität. Sie sind Feiern des »Wir«. Danach ist es jedoch oft schwierig, dieses Identitätsgefühl in konkrete Verhaltensregeln und Handlungsformen zu übersetzen. Die Last der bürokratischen Arbeit.

Wir beobachten, wie diese stetige Entwicklung der Identitätsformen immer stärker von den Peripherien beeinflusst werden. Das hat unter anderem seinen Grund in der höheren Mobilität der Menschen, die in den unternehmerischen Peripherien arbeiten – sie leben im Modus des Erreichens und nicht des Behaltens.

So sehen wir eine konstante Dynamik in der Gewinnung und Stärkung einer unternehmerischen Identität. Die Vorbilder sind immer noch die Weisen, in denen sich nationale Identitäten ausgebildet haben. Daher sehen wir auch heute den Wunsch nach charismatischen Führungskräften, nach CEO’s, die sichtbar für etwas stehen und dies auch emotional vermitteln können. In dem gemeinsamen Blick auf den CEO, wie unterschiedlich die Projektionen im Einzelnen auch sein mögen, bildet sich ein Wir-Gefühl.

Wir sehen jedoch auch, dass die klassischen Top-Down-Ansätze nicht mehr ausreichen. Der Beteiligungsaspekt wird bedeutsamer und nicht nur als »Kommunikationsform«. Die geforderten, wirksamen, Verhalten leitenden Identitätsformen sind nur im Dialog zu formen. Es gilt auch hier, dass der Prozess wichtiger ist als ein »druckfähiges« Ergebnis. Dabei sind die Mitarbeitenden ein wichtiger Stakeholder, genauso aber die Shareholder, die Unternehmensführung, relevante Vertreter des Marktes und heute auch der Gesellschaften. Es ist äußerst anspruchsvoll, einen solchen Dialogprozess in den großen globalen Unternehmen zu realisieren. SYNNECTA hat hier mit theQuestbySynnecta Modelle entwickelt, in der trotz Größe und Diversität solche Dialoge wirksam gestaltet werden können. Und es gibt einen schönen willkommenen Nebeneffekt: das immer noch verbreitete Inside-Outside-Denken und -Entscheiden wird umgedreht (dreht sich) und führt die Unternehmen in ein in diesen neuen Zeiten der Vernetzung erfolgskritisches Outside-Inside-Denken.

Rüdiger Müngersdorff

Einige Gedanken zum Modebegriff »Mindset«

Was wir von der Welt um uns und der Welt in uns erkennen und wissen, ist nicht voraussetzungsfrei. Der Zweifel an der Abbildungstheorie der Erkenntnis hat eine lange Tradition. In der Erkenntnistheorie ist es spätestens seit Kant geteiltes Wissen, dass Erkenntnis an Voraussetzungen gebunden ist. Voraussetzungen, die der Erkenntnis vorausliegen, seien es die Anschauungsformen von Raum und Zeit für die Wahrnehmung oder e.g. die Kausalität für die Erkenntnis. Wir gestalten Erkenntnis der Realität, wir bilden sie nicht ab. Die Hermeneutik, die Sprachphilosophie haben diesen Gestaltungsaspekt der Wahrnehmung und Erkenntnis weiter differenziert. Was in der Erkenntnistheorie grundsätzlich analysiert wurde, findet sich in der Psychologie wieder – die Bedeutung unserer individuellen kognitiven und emotionalen Entwicklung für die aktuelle Wahrnehmung und Erkenntnis der inneren und äußeren Realität wird analysiert und in der Idee des Wiederholungsmotivs spezifiziert. Dem entsprechen die Arbeiten der Kulturanthropologie und Soziologie, die unter anderem mit dem Konzept der Mentalität zunächst der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Handelns vorausliegende schichtspezifische Muster identifizieren, was später auf die Konstruktion nationaler Wahrnehmungs- und Denkmuster ausgedehnt wird. In unserer Zeit setzte sich der radikale Konstruktivismus mit den Voraussetzungen des Zugangs zur Realität auseinander. Er hatte wesentlichen Einfluss auf das, was heute als »systemisch« bezeichnet wird, eine der modernen Grundlagen der Organisationsentwicklung.

Mit dem Einzug des systemischen Ansatzes wurde zum Beispiel deutlich, dass das Strukturierungskonzept der Ursache-Wirkungskette begrenzten Erkenntniswert hat, wenn es um das Verständnis individueller und kollektiver Wahrnehmungen, Denkweisen, emotionaler Zustände und dann folgend Entscheidungs- und Handlungsweisen geht. Die Mächtigkeit des Ursache-Wirkungsmotivs, das bei allen Dingen, die vom Menschen bewusst gemacht und hergestellt wurden, perfekt funktioniert, wird, wenn es um das Handeln von Individuen und Kollektiven geht, um das Konzept des Bedingtseins ergänzt. Dieses Konzept lässt die Eindeutigkeit des Ursache-Wirkungsprinzips vermissen; es gibt nicht die eine Bedingung, die uns ein Verhalten verstehen lässt. Auch dieses Konzept hat eine lange Tradition, es ist bereits im Buddhismus formuliert, was teilweise zu verstehen hilft, weshalb ein iterativer Arbeitsstil im asiatischen Raum so viel leichter verwirklicht wird.

Was in der Organisationsentwicklung lange unter dem Begriff Kultur abgehandelt wurde, findet sich jetzt gerne unter dem Begriffsfeld Mindset wieder. Beide Begriffe haben den Vorteil, dass sie sehr unspezifisch sind und so für sehr diverse Ansätze Verwendung finden. Auch wenn die Konzeptbildungen der Organisationsentwicklung immer auch unter dem Aspekt des Marketings betrachtet werden müssen, so gibt es dennoch einen Erkenntnisertrag aus den Kultur- und Mindsetanalysen der letzten Zeit. Wir konstruieren unsere Realität sowohl individuell als auch kollektiv aus dem Horizont unserer individuellen und kollektiven Gewordenheit – in den Konzepten des radikalen Konstruktivismus, nicht nur, aber auch als funktionale Anpassung. Und so finden unsere Entscheidungen und Handlungen sowohl individuell als auch kollektiv auf der Grundlage dieser, der gegenwärtigen Realität vorausliegenden Bedingungen statt.

Die neuere Mindsetarbeit hat den Vorteil, dass sie sich vor allem auf Methoden konzentriert, die durchaus in einem engeren Rahmen einen bewussten Zugang zu einigen dieser Voraussetzungen ermöglicht. Ein praktikabler Weg, um einigermaßen schnell erste Ergebnisse für das eigene Handeln zu generieren. Dabei wird der Aspekt des individuellen Mindsets überbetont – dem modernen Credo gehorchend: Ich bin der Herr meiner Wahrnehmung, Erkenntnis und meines Handelns. So nützlich dieser Glaube auch für die Aufrechterhaltung des in seinem Handeln autonomen Subjekts ist, so sehr verkürzt es auch die kollektive Bedingtheit unserer Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Emotionen und schließlich unserer Entscheidungen und Handlungen. Ohne eine deutliche Betonung und daraus folgend eine methodische Erweiterung der Bedeutung des kollektiven Mindsets für die Organisationsentwicklung bleibt die Wirkung der Mindsetarbeit begrenzt.

Mit #Myndleap haben #sisko #oudheusden #muengersdorff einen Schwerpunkt auf die Veränderung ermöglichende methodische Arbeit an kollektiven Mentalitäten, Mindsets gesetzt. Nur so lässt sich ein nachhaltiger Gewinn für Organisationen gestalten.

Dabei gilt als Leitmotiv, was schon Ernst von Glasersfeld 1987 formuliert hat: Grundlegend ist da die These, dass wir die Welt, die wir erleben, unwillkürlich aufbauen, weil wir nicht darauf achten – und dann freilich nicht wissen -, wie wir es tun. Diese Unwissenheit ist alles andere als notwendig. Der radikale Konstruktivismus behauptet, ähnlich wie Kant in seiner Kritik, dass wir die Operationen, mit denen wir unsere Erlebniswelt zusammenstellen, weitgehend erschließen können, und dass uns dann die Bewusstheit des Operierens, (…) helfen kann, es anders und vielleicht besser zu machen (Ernst von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig 1987).

Das »vielleicht« in Glasersfelds hoffnunggebenden Satz macht dabei deutlich, wie simplifizierend das Gerede von einem Growth Mindset ist. Und was gibt Hoffnung? Wir können individuell und kollektiv Bewusstheit über unsere weitgehend unbewussten Bedingungen des Wahrnehmens, des Erkennens, des Fühlens, des Entscheidens und Handelns gewinnen und uns so die Freiheit geben, es auch anders zu machen.

Rüdiger Müngersdorff
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