Führungs-Kraft in der Selbstorganisation

Selbstorganisierte Teams organisieren sich – wie der Name schon sagt – selbst. Das heißt, sie kennen keine personell festgeschriebene Führungsrolle. Heißt das, dass nun alle Führungskräfte arbeitslos werden? Mitnichten. Denn zum einen agieren selbstorganisierte Teams nicht führungslos. Auch sie benötigen Führungs-Kraft, die jedoch anders organisiert wird. Zum anderen kommt in der agilen Transformation Führungskräften die wichtige Aufgabe zu, Teams in die Selbstorganisation zu begleiten und effizientes Arbeiten abzusichern. Sie übernehmen hier eine zentrale Rolle des Befähigers von Teams, in Zukunft »alleine zurechtzukommen«. Im Folgenden möchte ich einige wichtige Faktoren für das Gelingen von Selbstorganisation skizzieren, die sich aus Erfahrungen in der Begleitung von agilen Transformationsprojekten ableiten lassen – verbunden mit der Hypothese, dass in der Her- und Sicherstellung dieser Faktoren genügend Potenzial für Führungspersönlichkeiten liegt, weiterhin ihre Führungs-Kraft für Mensch und Organisation in Wirksamkeit zu übersetzen.

Trennung von Rolle und Person (Role vs. Soul)

Die klassisch-hierarchische Organisation weist Personen meist eine eindeutige Position auf einer von mehreren Hierarchiestufen zu. An diese Position – und damit direkt an die Person – werden dann sehr oft Status, Ansehen und Rechte geknüpft. Auch selbstorganisierte Teams und Organisationen kennen Hierarchien; allerdings handelt es sich hier immer um (teilweise flexible) Themen- und Rollenhierarchien – eine Hierarchie von Personen gibt es hingegen nicht. Während Rollen einander über- oder unterstellt sein können, agieren alle Personen im agilen Kontext konsequent auf Augenhöhe. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da Teammitglieder (je nach Situation, Kontext oder Projektphase) in mehreren Rollen gleichzeitig agieren können müssen und Kolleg_innen sich in unterschiedlichen Rollen gleichzeitig »über- und unterstellt« sein können. Genauso wie eine Person mehrere Rollen innehaben kann, kann eine Rolle auch von mehreren Personen ausgeführt werden. Rollenklarheit, d.h. die eindeutige Definition von Verantwortungsbereich, Aufgabenhoheit und Entscheidungsbefugnissen sind unabdingbar für das Funktionieren von selbstorganisierten Teams.

Diversität aufbauen

Diversität ist ein Schlüsselkriterium, um als Team auf jede Situation vorbereitet zu sein. Eine möglichst große Perspektivenvielfalt ist hilfreich, um komplexe Themenfelder ganzheitlich und dialogisch begreif- und bearbeitbar zu machen. Hierbei geht es nicht nur um Gender-, Alters- oder nationale Diversität, sondern ebenfalls um Vielfältigkeit an persönlicher Begabung und fachlicher Kompetenz. Idealerweise werden selbstorganisierte Teams cross-funktional mit Mitarbeitenden mit sogenannten T-Profilen besetzt: Alle verfügen (v.a. auch in punkto Sozialkompetenz) über generalistische Grundkompetenzen (Querstrich des T), um gemeinschaftlich schlagkräftig an Themen arbeiten zu können. Gleichzeitig verfügen jedoch unterschiedliche Teammitglieder an unterschiedlichen Stellen über tiefe Expertise (Längsstrich des T), sodass in jeder Situation von jemandem die Themenführerschaft übernommen werden kann. Der gezielte Aufbau von Diversität, die Förderung einer wertschätzenden Haltung gegenüber Vielfalt und die konstruktive Integration von Unterschiedlichkeit werden zu Kernaufgaben für die agile Führungskraft in der Begleitung selbstorganisierter Teams.

Adäquat Entscheidungen treffen

Wo im hierarchischen Kontext meist nur ein Entscheidungsprinzip genutzt wird (nämlich der Einzelentscheid durch die hierarchisch überstellte Führungskraft) verfügen selbstorganisierte Teams über eine ganze Reihe von Entscheidungsprinzipien, die je nach Situation adäquat kombiniert werden können:

  • Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden.
  • Konsultativer Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden, ist jedoch verpflichtet, vor der Entscheidung den Rat von einem oder mehreren Kollegen einzuholen.
  • Mehrheitsentscheid: Die Entscheidungsoption, die die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnt, wird umgesetzt.
  • Konsens: Die Entscheidung wird solange diskutiert und modifiziert, bis sich alle mit ihr vorbehaltlos identifizieren können.
  • Konsent: Eine Entscheidung wird umgesetzt, solange keine begründeten Einwände vorliegen. Liegt ein begründeter Einwand vor, so muss dieser in die Entscheidungsfindung integriert werden.
  • Systemisches Konsensieren: Die Entscheidungsoption, die den geringsten Widerstand der Gesamtgruppe aufweist, wird umgesetzt – wobei im Vorfeld jede beteiligte Einzelperson (meist über Zahlenwerte) ihren individuellen Widerstand gegen jede Entscheidungsoption ausdrückt.

Alle diese Entscheidungsprinzipen haben Vor- und Nachteile (z.B. hinsichtlich Entscheidungsgeschwindigkeit vs. Tragfähigkeit). Durch die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten in selbstorganisierten Teams, kann je nach Situation das Entscheidungsprinzip mit den größten Vor- und den geringsten Nachteilen gewählt werden.

Augenhöhe sichern und Spannungen integrieren

Im Gegensatz zu direkt geführten Teams, die einer Führungskraft unterstellt sind, verfügen selbstorganisierte Teams über keine übergeordnete Personeninstanz, an die sie Konflikte delegieren können oder die sie vor Spannungen schützt. Die exkludierenden Dynamiken eines selbstorganisierten Teams können mitunter »brutaler« wirken als die autoritärste Führungskraft. Es ist daher essentiell notwendig, dass agile Führung in selbstorganisierten Teams klare Konflikteskalationsregeln bzw. -prozesse etabliert und gegebenenfalls supervidiert, sowie für die konstruktive Integration von Spannungen sorgt. Hierfür hat es sich bewährt, dezidierte Rollen zu schaffen, die diese unterstützende Führung klar definiert für das Team leisten – beispielsweise die Rolle des Agile Coaches.

Klarheit und Transparenz herstellen

Um die Komplexität der Aufgabenstellung beherrschen und gleichzeitig die maximale Effizienz selbstorganisierter Zusammenarbeit nutzen zu können, sind Klarheit und Transparenz entscheidende Erfolgskriterien. Hierzu hat es sich in vielen selbstorganisierten Teams bewährt, alle geplanten, sich in Arbeit befindlichen und abgeschlossenen Aufgaben in einem Teamboard für alle einsehbar zu visualisieren. Dieses ständig aktuell gehaltene Teamboard ersetzt hierbei Reports. Selbstorganisierte Teams treffen sich regelmäßig in Meetings, die thematisch und ablauftechnisch klar gehalten sind. So wird zum Beispiel in Reviews regelmäßig der Arbeitsstatus evaluiert, in Retrospectives Hürden der Zusammenarbeit identifiziert und deren Eliminierung geplant, in Governance Meetings Prinzipien und Regeln reflektiert und etabliert, oder in Clear the Air-Meetings Spannungen und Konflikte adressiert und integriert bzw. bearbeitet. Kernaufgabe einer agilen Führungskraft ist es, den Rahmen für die Meetings zu schaffen und über die disziplinierte Einhaltung von Struktur und Prinzipien zu wachen.

Cultivating Self-Organisation

In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich die Erfolgsfaktoren agiler Führung skizziert und hierbei die Grundhaltung des Cultivating Leadership erklärt. Auch wenn selbstorganisierte Teams die Führungskraft als Person nicht mehr benötigen, so brauchen sie doch Personen, die Führungs-Kraft beweisen. Nicht im autoritären Verständnis eines Befehlshabers; sondern im Sinne des im letzten Beitrag beschriebenen Rahmenhalters oder Gärtners. Selbstorganisierte Teams brauchen Menschen, die die Rolle des Befähigers übernehmen. Sie benötigen Personen, die in der Rolle eines Agile Coaches dabei helfen, Hürden aus dem Weg zu räumen und Potenziale zu heben. Sie profitieren von jemandem, der ihnen in der klassisch-hierarchischen Organisation den Rücken stärkt und den Freiraum sichert, den sie brauchen um erfolgreich zu sein… Die Kultivierung von Selbstorganisation bietet genügend Rollen, in denen Führungskräfte Führungs- und Wirk-Kraft für Mensch und Unternehmen entfalten können.

Johannes Ries
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Nachbemerkung: Dieser Text entstand in Teilen als Entwurf im Rahmen einer laufenden co-kreativen Initiative zum Thema Agile Leadership der Robert Bosch GmbH und der SYNNECTA. Über die Ergebnisse der Initiative wird in diesem Blog weiter berichtet. Der Autor dankt Michael Knuth und Christian Fust für die wertvollen Anregungen.

Wachstumsschmerzen agiler Organisationen

Die Gruppe schwieg. Sie blieb still, obwohl die einladende Führungskraft versuchte, eine optimistische und aufbauende Botschaft zu senden. Fragen würden ignoriert oder die Antworten waren vage und irrelevant. In kleineren Gruppen wurden die Gespräche ein wenig lebhafter und doch gab es keine klaren Aussagen, die das für eine Gruppe im Arbeitsumfeld sehr ungewöhnliche Verhalten hätten erklären können. Ich saß vor dem, was von einer Gruppe, einer Organisation nach einem gescheiterten agilen Experiment übrig geblieben war: Schweigen, Enttäuschung, Trauer, Zerwürfnis. Was war hier schiefgegangen?

Es war nicht einfach die Führungskraft, die man als Verursacher hätte betrachten können. Er hatte ein sehr klares Verständnis von agilen Methoden, agilen Organisationsformen und er zeigte deutlich, dass er seine Position, sein Verhalten reflektiert hatte und es auch weiterhin tat. Dennoch hatte er ein paar soziale und psychische Dynamiken seines Experiments unterschätzt.

Später am Tag konnten wir ein paar Gründe für den Zustand dessen, was von einer Organisationseinheit geblieben war, besprechen. Es führte nicht aus der tiefen Enttäuschung und dem Verlust an Vertrauen in sich selbst und in das Unternehmen, aber es half zu einer realistischeren Einschätzung. Was waren die nicht förderlichen Umstände, also das Lernpotenzial?

1. Es wurden brilliante Menschen mit guter Ausbildung, hohem Engagement und leidenschaftlich verfolgten Ideen eingestellt. Sie sollten anders sein als die Mehrheit der Mitarbeiter in diesem globalen, sehr gut organisierten Unternehmen. Es wurde ihnen ein Ort versprochen, an dem sie ihre Ideen verfolgen könnten, ihre Herzensprojekte umsetzen könnten. Der Anfang war enthusiastisch, Teams entwickelten sich, die Arbeit war hoch befriedigend. Dann aber griff die Organisation mit ihren eigenen strategischen Vorstellungen ein. Sie entsprachen oft nicht den Träumen, den Hoffnungen der eingestellten Menschen. Einigen Projekten wurde die Finanzierung genommen – logisch und sinnvoll aus der Sicht des Unternehmens, ein brutaler Stopp einer doch aussichtsreichen, neuen Idee, mit deren Realisierung man in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht hatte. Die Mitarbeiter_innen konnten, wollten den Begründungen nicht folgen, bezweifelten auch die ökonomischen Bedenken. Sie wurden in andere Projekte, andere Anfänge verschoben – was sie einst mit einem so tiefen Sinn erfüllt hatte, war weg. Nun fanden sie sich in einer genauso freien und selbstorganisierten Struktur wieder, aber sie hatte nicht den Inhalt, nicht die emotionale Attraktion. Andere verließen schon an diesem Punkt das Unternehmen. In unserem Workshop war die Trauer über die verlorenen Projekte zu spüren, sie lag schwer über allem. Doch es wurde darüber nicht gesprochen, es war so etwas wie ein von allen gewusstes Geheimnis. In Organisationsformen, die so vom Engagement, von der Leidenschaft der Teilnehmer bestimmt ist, sind Abschiednehmen, sind Trauerrituale notwendig, sollen die Menschen wieder frei für Neues, für eine neue Begeisterung werden. Und es ist schwierig in einem Umfeld abhängiger Beschäftigung für eine Produktidee zu brennen, es ist wohl aussichtsreicher mit Menschen zu arbeiten, die sich für Problemstellungen, für Kunden, für Möglichkeiten engagieren wollen.

2. Wie in den Lehrbüchern beschrieben bestimmten sie einen Scrum-Master, einen ebenfalls brillianten jungen Mann, lebendig, fluide Intelligenz, der Abschlüsse mehrerer Spitzenuniversitäten vorlegen konnte. Er war gut, doch konnte nicht aufhören der Beste der Besten zu sein und er konnte sich nicht zurückhalten, in jedem Thema mit seinem Wissen, seinen Ideen, Teil der inhaltlichen Arbeit zu sein. Er versuchte, recht dogmatisch, die Regeln zu vermitteln und forderte die Disziplin ein. Was fehlte, war soziale Kompetenz, ein beherrschter Narzissmus und ein Verständnis für die Aufgabe und Rolle eines methodischen und sozialen Begleiters. Er war der Falsche für diese Aufgabe. Soziale Kompetenz erlernt man eher selten an Spitzenuniversitäten.

3. Ohne tieferes Verständnis für die Dynamiken einer agilen, selbstorganisierten Struktur wurden die Menschen in einen agilen Arbeitskontext positioniert. Ihr eigener psychologischer Vertrag mit dem Unternehmen beinhaltet jedoch viele nicht agile Elemente: So das Verständnis, mit dem Eintritt in das Unternehmen Teil eines Systems geworden zu sein, welches fürsorglich einen sicheren Ort bereitstellt und so von den Sorgen der unsicheren Zukunft entlastete. Sie waren in eine Sicherheitszone eingetreten, die ihnen eine lange Karriere versprach. Sie erwarteten alle Freiheiten und zugleich eine Führungskraft, die die Richtung vorgab, die die Last der Entscheidung übernahm und in Konfliktfällen Lösungen herbeiführte. Was sie bekamen, war eine generelle, strategische Ausrichtung, einen Diskussionspartner und jemanden, der sich darum kümmerte, dass die Zusammenarbeit mit der Gesamtorganisation funktionierte, aber sie bekamen keine Entscheidungen, wenn es Inhalte ihres Themas, ihres Projekts betraf. Schon das war eine Überforderung. Völlig überfordernd war es dann, als beschlossen wurde, dass die Feedbackgespräche nun in den Gruppen selbst geführt werden sollten. Da niemand in dem System über gruppendynamische Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, eskalierten Situationen und/oder es legte sich ein lähmendes Schweigen über das System.

4. Während des Beginnens wurden alle Zweifel, Widersprüche und Unsicherheiten von der eigenen Begeisterung für das eigene Thema kompensiert. Mit der Zeit und dem Verlust von Projekten, der Notwendigkeit, Träume als Illusionen zu erkennen, kamen Fragen auf, Fragen nach der eigenen Zukunft, nach der Sicherheit, wenn die Begeisterung nicht mehr trägt. Waren Karriere, Sicherheiten, Belohnungen am Anfang irrelevant, so nahmen sie jetzt mehr und mehr Raum ein. Nun wurden Fragen nach der Zukunft, dem Karriereweg wichtig. Und es ging um Aufstieg – die Idee von lateralen Karrieren löste nur Enttäuschung aus. Ein Unternehmen, das keine nach oben führende Karriere anbieten konnte, wurde unattraktiv.

Nach langen Perioden des Schweigens konnten wir die Bruchstücke der Schmerzen und Enttäuschungen zusammenfügen und zumindest einen höheren Grad von Wahrhaftigkeit etablieren. Es wurden Szenarien für einen Neustart entworfen und es öffnete sich für Einige die Chance noch einmal, nun mit mehr Verständnis, in eine agile Welt einzutauchen. Für Andere stellte es die Klarheit her, zu wissen, dass agile Selbstorganisation kein Platz für sie ist. Und einige verlassen die Organisation – Headhunter warten schon. Die gewonnene Klarheit machte es den Einzeln möglich, Entscheidungen zu treffen und so den Weg frei zu machen, das Gelernte und Erfahrene in einem neuen Versuch umzusetzen.

Klarheit und Wahrhaftigkeit über eine agile Organisation sollten von Anfang an deutlich vermittelt werden, es sollte verstanden sein, dass ohne eine hohe soziale Kompetenz der Beteiligten diese Reise kaum gelingen wird. Die Position eines Agile Culture Coaches sollte selbstverständlich sein. Und wir sollten uns eingestehen, dass wir noch wenige Ideen haben, wie wir Menschen in solchen Organisationsformen Zukunftswege aufzeigen können, die das Modell einer vertikalen Karriere attraktiv herausfordern.

Rüdiger Müngersdorff

Raumhalter: Eine neue Rolle in der radikal selbstorganisierten Führungskräfteentwicklung

In der aktuellen Ausgabe der managerSeminare beschreibt Petra Martin in einem lebhaft-anschaulich gehaltenen Beitrag Aufbruch ins Unbekannte das Format eines agilen Führungskräfteentwicklungsprogramms bei Bosch Automotive Electronics, das radikal auf die Selbstorganisationskompetenz der teilnehmenden Führungskräfte setzt. In co-creativer Zusammenarbeit mit der Autorin (die gleichzeitig mutige und visionäre Auftraggeberin für das Projekt war) und der Geschäftsführerin der Kalapa Leadership Academy und großartigen Beraterkollegin Liane Stephan durfte ich das Programm von Grund auf mit konzipieren und in der Implementierung begleiten.

In diesem Beitrag möchte ich nicht den Ablauf des Programms beschreiben – hierfür lege ich jeder/m Leser_in eine Lektüre des oben erwähnten Artikels ans Herz. Vielmehr möchte ich kurz aus Trainersicht die wichtigsten Prinzipien herausheben, die es möglich machen, den Fokus auf die Teilnehmenden und die zwischen ihnen immer stärker werdende Kompetenz zur Selbstorganisation zu legen.

Die Prinzipien orientieren sich grundsätzlich an den von Dan Pink identifizierten intrinsischen Hauptmotivatoren: Purpose, Autonomy und Mastery. Auch in anderen Beratungskontexten arbeite ich wo immer möglich entlang dieser Prinzipien. Damit einher geht eine Veränderung meiner Rolle: Ich trete als organisierender, thematisch führender, (be)lehrender Trainer zurück; im Gegenzug befähige ich die Teilnehmenden zu Selbstorganisation, Selbstführung und selbstgesteuertem Lernen. Meine (nicht zu unterschätzende) Hauptfunktion wird dabei das Raumhalten. Ganz analog dazu hieß die Vision, die Petra Martin, Liane Stephan und ich ganz zu Beginn der Konzeptphase formulierten: »Wir möchten eine trainerlose Akademie schaffen!«

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich die Prinzipen wie folgt formulieren:

Sinn und Wert stiften

In der Veranstaltung soll nur das Platz finden, was aus Perspektive der Teilnehmenden Sinn und Wert stiftet. Was diesem Anspruch nicht gerecht wird, wird gar nicht erst angefangen oder abgebrochen. Die Frage nach dem zu stiftenden Sinn leitet die Veranstaltung ein, aus ihr heraus werden alle Themen abgeleitet. Das heißt, dass sich eine inhaltliche Vorbereitung im Vorfeld (im positiven wie herausfordernden Sinne) erledig. Die kontinuierliche Frage danach, ob die Teilnehmenden sinn-voll unterwegs sind und ihre Zeit wert-stiftend verbringen, erlaubt in der Veranstaltung zu priorisieren und konsequent Entscheidungen zu treffen.

Autonomie sichern und einfordern

Teilnehmende werden als radikal selbstverantwortlich positioniert und behandelt. Sie selbst entscheiden für sich, wo und wie sie in Entwicklung gehen möchten und wo nicht. Es steht ihnen jederzeit frei abzubrechen oder etwas anderes zu tun – sie tragen jedoch für die Konsequenzen die Verantwortung. Im von Petra Martin beschriebenen Programm war zum Beispiel eine der größten Herausforderungen, dass Teilnehmende uns Trainer_innen immer wieder »einluden« (mitunter auch energisch einforderten), etwa durch Themeninputs Führung zu übernehmen. Um die Autonomie des Lernprozesses zu sichern, mussten wir die Einladungen konsequent in die Selbstorganisation zurück delegieren.

Raum gestalten

Um die Autonomie des Selbstlernens möglich zu machen, muss ein Raum geschaffen werden, der gleichzeitig sicher und kreativ-ansprechend ist. Dies gilt im Hinblick auf die Gegebenheiten des Veranstaltungsorts; es gilt jedoch ebenso für Veranstaltungsformate, Methoden oder den Denkraum der Teilnehmenden. Modularisierte Frameworks, Tools und Arbeitsblätter, aus denen die Teilnehmenden je nach Situation, Neigung und Dynamik selbst auswählen und die sie sich selbst schnell aneignen können, erlauben Autonomie, ohne dass Chaos und Desorientierung entstehen.

Agile Architektur

Sprintlogik, Timeboxing, Review und Retro (wie ich sie in anderem Kontext in einem anderen Blogbeitrag beschrieben habe) sind die agilen Hauptinstrumente, über die aus dem Hintergrund gesteuert werden kann. Allein hier liegt der führende und ordnende Aspekt der Trainerrolle – zyklische Zeitdisziplin und kybernetisches Feedback sichern Freiraum und Weiterentwicklung ab.

Flow-Vertrauen und spannungsbasiertes Arbeiten

Mit die größte Herausforderung des Raumhaltens ist, auf die Dynamik der selbstorganisierten Gruppe zu vertrauen. Spannungen und Konflikte treten – alle Regeln der Teamdynamik bestätigend – mit hoher Wahrscheinlichkeit auf. Diese dann jedoch »nur« bewusst zu machen und die Verantwortung zur Bearbeitung der Spannungen und Lösung etwaiger Konflikte in die Gruppe zurück zu delegieren, produziert mitunter Aversion gegen Trainer_in oder Format. Hier Stand zu halten, geduldig zu spiegeln und zu befähigen zahlt sich jedoch nachhaltig aus. Es erlaubt den vielleicht größten Sprung für Gruppen in die Selbstorganisation. Wie es eine Teilnehmerin sagte: Gruppendynamik selbst zu erleben und Spannungen (von den Trainer_innen befähigt) selbst zu bearbeiten, erwies sich als vielfach wertvoller als alle zuvor gelernte Konfliktmanagementtheorie.

Vertrautes, vielfältiges Trainerteam

Sowohl in der Konzeption als auch in der Durchführung der Veranstaltung ist es essentiell, in einem Team zu arbeiten, das sich blind vertrauen kann, beziehungstechnisch gut reflektiert ist und mit Rollenbewusstsein und Führungsflexibilität ans Werk geht. Nur so sind die in selbstorganisierten Kontexten unumgänglich auftretenden Spannungen produktiv zu nutzen. Diversity-orientiert sollten die Kernexptertisen im Trainer_innenteam unterschiedlich verteilt sein; jedes Teammitglied sollte jedoch gleichzeitig ein Maß an generalistischen Moderations-, Mediations- und Coaching-Fähigkeiten teilen (sinnvolle Kombination von T-Profilen).

Johannes Ries

Agiles Talent Management (I): Was bedeutet Talent Management im ständigen Wandel?

In vielen Organisationen sehe ich, dass Talent Management vor allem über Talentidentifikation und Prozessmanagement gelebt wird. Die Flexibilität, die in komplexen, agilen Umgebungen benötigt wird, kann über diese starren Modelle aber selten eingelöst werden. Will Talent Management Mitarbeiterpotenziale auch in neuen Organisationsformen fördern und zugänglich machen, muss es das alte lineare Denken und Handeln verlassen und wie das Business auch nicht-linear, agil und flexibel werden.

Entwicklungsorientierter Talentbegriff

Hilfreich erscheint mir hier die Einführung eines entwicklungsorientierten Talentbegriffs. Im Gegensatz zu einem statischen Talentbegriff stehen dabei Kategorien wie Talent oder High Potential nicht im Vordergrund. Ein entwicklungsorientierter Talentbegriff bezieht sich auf alle Mitarbeiter und Talentausprägungen, sozusagen auf die »power of the many« und nicht auf die »vital few«. Ein Weg, um in Unsicherheit und Dynamik durch eine Mobilisierung aller, der Verteilung von Risiko und einer experimentellen Haltung, leistungsfähig und innovativ zu sein.

Leistungs- und Potenzialunterschiede sollen nicht negiert werden, sondern als veränderlich in der Zeit als auch in der Situation verstanden werden. So zeigt die Stanford Professorin Dr. Carol Dweck anhand von Studien und Beispielen aus Unternehmen einen erstaunlichen Effekt: Allein die Überzeugung, dass Fähigkeiten auf Basis von Anstrengung und Erfahrungslernen grundsätzlich immer verbessert werden können, hat einen erstaunlich positiven Einfluss auf den individuellen Lernerfolg und schließlich auch auf den Unternehmenserfolg. Starre Kategorien bzgl. Talent oder Intelligenz führen eher zu Statusdenken und letztendlich Stillstand (Carol Dweck: Mindset. Changing the way you think to fulfill your potential).

Weiterhin bedeutet Entwicklungsorientierung auch das Talent Management in agilen Umgebungen weniger planbar und stärker iterativ ist. Der »Management«-Aspekt im Sinne von Steuerung tritt mehr in den Hintergrund und kann durch »Enabling« ersetzt werden. Talent Enabling beschreibt besser, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter in die Lage versetzen, ihre Potenziale freizusetzen und für die Organisation zur Verfügung stellen.

Selbststorganisation im Talent Management

Im entwicklungsorientierten Talent Enabling sind Konzepte wie die Learning Agility (u.a. Center for Creative Leadership) hilfreich. Learning Agility umfasst Fähigkeiten wie den Status Quo in Frage zu stellen, Erfahrungslernen, Reflexion, Feedback und Risikobereitschaft. Aspekte, die überraschend deutlich an einen SCRUM Sprint erinnern. Starre Formate wie Karrierepfade haben hier wenig Platz. Nicht nur weil Karrierepfade in sich schnell drehenden Umgebungen mit fluiden Rollen wenig sinnvoll erscheinen, sondern vor allem weil agile Organisation von der Selbststeuerung und der intrinsischen Motivation der Mitarbeiter leben. Selbstorganisation heißt hier, Verantwortung für die Entwicklung an den Mitarbeiter zu geben ohne sich als Unternehmen und insbesondere als Führungskraft aus der Pflicht zu nehmen. Wenn Selbstorganisation im Sinne der Learning Agility heißt, dass Mitarbeiter Lernbedarfe identifizieren und durch Erfahrungslernen, Reflexion und Feedback ihre Fähigkeiten ausbauen, dann ist es Aufgabe der Führungskraft als Prozessbegleiter Impulse zu setzen, Feedback zu geben und aktiv Lernoptionen anzubieten. Und auch das Gesamtunternehmen braucht eine übergreifende Talentkultur, die jenseits von Rollenbeschreibungen und Organigrammen, Lernen, Ausprobieren (und damit auch Scheitern) und Reflexion des Mitarbeiters würdigt und fördert.

Talent Management in agilen Organisation braucht also neue Begriffe, Haltungen und eine Kultur, die nicht-lineare Entwicklung im Unternehmen aufgreift und integriert.

Anke Wolf

Wir freuen uns, dass wir gleichzeitig mit diesem Artikel eine unserer Associated Partner vorstellen dürfen: Anke Wolf von Anke Wolf Coaching & Consulting ist eine ausgewiesene Expertin für Talent Management und Leadership.

Pathfinder 2016 – Leading the Future – Berlin, 1. Mai 2016

SYNNECTA und die Pathfinder sind nun schon beinahe Tradition! Auch dieses Jahr waren wir am 1. Mai zusammen mit den CEO’s führender Unternehmen, inspirierenden Rednern und rund 800 Talenten von Allianz, Daimler, Siemens, Deutsche Bank, Deloitte und Techniker Krankenkasse in Berlin. Die CEO’s wählen einen Redner zu einem für ihn relevanten Thema aus und laden ca. 100 Talente aus dem eigenen Unternehmen ein, um den 1. Maifeiertag im intensiven Dialog zu Zukunftsthemen zu verbringen.

Joe Kaeser (CEO Siemens AG) hatte Dr. Jonas Ridderstraele, Autor des Buches Funky Business aus dem Jahr 2000 und Reenergizing the Corporation, How Leaders make Change Happen von 2008 eingeladen. Die Kulturen der erfolgreichen Unternehmen schaffen Räume, wo Kreativität sich entfalten kann und Risikofreude und Unternehmertum als prägende Werte sich entfalten. Die erfolgreichen Unternehmen sind hochinnovativ, schnell experimentierfreudig und heterachisch. Der Wandel von der hierarchischen Führung hin zu Selbstorganisation, der Abschied von der Orientierung nach oben hin zu lateraler Aufmerksamkeit waren nur einige der Einsichten, die Ridderstraele in lebendiger und unterhaltsamer Weise präsentierte.

Dieter Zetsche (CEO Daimler AG) hatte den renommierten Tänzer Eric Gauthier vom Theaterhaus Stuttgart mitgebracht, der mit dem Auditorium im Tempodrom zum Thema »Spirit« arbeitete bzw. tanzte. Gauthier brachte auf sehr überzeugende Art die Menschen in Bewegung und ins Schwingen.

Jürgen Fitschen (Co-CEO Deutsche Bank), deutlich entspannter als auf der letztjährigen Veranstaltung und seine letzten beiden Dienstwochen genießend, hatte die »Pferdeflüsterin« Linda Weritz eingeladen, die auf Pferde spezialisierte Kommunikationswissenschaftlerin und Psychologin aus Düsseldorf. Als leidenschaftliche und erfolgreiche Dressurreiterin hat Linda Weritz ein weltweit einzigartiges Trainingskonzept entwickelt, das die Natur der Pferde konsequent respektiert und würdigt und es möglich macht, Pferde auf diesem Weg völlig gewaltfrei auszubilden. Es war sehr deutlich, inwieweit sich die Prinzipien ihres Trainingskonzepts auf die Führung in Unternehmen übertragen lassen und welche entscheidende Bedeutung Empathie und Vertrauen im Führungsprozess besitzen.

Jens Baas (CEO Techniker Krankenkasse) führte den Informatiker und Künstler Prof. Jürgen Schmidhuber ein. Seine bahnbrechenden Forschungen haben die Idee der optimalen Zukunftsvorhersage aus bisher beobachteten Daten revolutioniert. Er beschäftigt sich mit maschinellem Lernen, neuronalen Netzen, Kolmogorow-Komplexität, Digitalphysik, Robotik, Kaum Komplexe Kunst und Theorie der Schönheit.

Mit der Gödelmaschine zur Lösung beliebiger formalisierbarer Probleme hat Schmidhuber einen extrem mutigen Wurf gewagt. Über einen asymptotisch optimalen Theoreembeweiser überschreibt die Gödelmaschine beliebige Teile ihrer Software, sobald sie einen Beweis gefunden hat, dass dies ihre zukünftige Leistung verbessern wird. Nicht nur, dass wir Menschen sehr viel länger an alten Verhaltensweisen und Denken festhalten, obwohl wir längst erkannt haben, dass Anderes uns in der Zukunft leistungsfähiger machen würde, also ein »deutlich anderes Programm« fahren, sondern auch die sich über die enormen digitalen Möglichkeiten und Robotik aufreißenden Perspektiven haben uns im wahrsten Sinne an das Thema »Leading the Future« geführt.

Oliver Bäte (CEO Allianz) hatte Gary Hamel von der London Business School eingeladen und dieser redete über »Added Value«. Dabei wiederholte er intensiv die wertvollen Gedanken aus seinem letzten Buch von 2012: What Matters Now: How to Win in a World of Relentless Change, Feroucious Competition, and Unstoppable Innovation. Es geht um Umdenken und Neu-Denken, um Selbstorganisation und Experimentieren in einer Organisationswelt, die sich von Hierarchie und Bürokratie immer mehr lösen muss, um einerseits den Ansprüchen der Kunden und andererseits der jungen Generationen gerecht werden zu können.

Markus Kerber (BDI) und Martin Pleindl (Deloitte) hatten sich als Paten für Prof. Dr. Yasmin Mei-Yee Weiss entschieden. Die deutsch-chinesische Wissenschaftlerin sprach über Digital Talent und Digital Leadership. Sie zitierte in ihrem Vortrag bisher unveröffentlichte Ergebnisse einer umfangreichen Studie zu Kompetenzen im digitalen Zeitalter. Eine eigene technologische und digitale Kompetenz gehört zu den Bedingungen für Digital Leadership. In der Studie wird allerdings eine ganz andere Kompetenz als die wichtigste identifiziert: Das Zusammenstellen und Führen von »truly diverse«-Teams. Wir sind auf die Veröffentlichung der Studie im Sommer sehr gespannt und werden im Blog darüber berichten.

Einen besonders eindringlichen, goldenen Augenblick gab es gleich zu Beginn, als Julia Engelmann mitten in die Herzen der Anwesenden sprach. Ein lichtvoller Moment, den die junge Schauspielerin und Poetry Slammerin aus Bremen uns mit ihrem Gedicht schenkte! Es war ein anregender, sonniger Sonntag in Berlin.

Es ist jedoch am Ende der Pathfinder 2016 schon sehr verlockend, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn wir die Ausgangslage umdrehen würden und nicht die CEO’s, sondern die Talente die Inspiratoren und Redner bzw. Beiträger und ihre CEO’s einladen würden und ein bisschen mehr Zeit für Interaktion, Beteiligung und Dialog möglich wären. Auch hier liegen Chancen den so dominierenden Ruf nach Loslösung von der Hierarchie und nach Selbstorganisation und Beteiligung auch im Design der Veranstaltung abzubilden.

Das Handelsblatt als Veranstalter feierte an jenem Wochenende sein 70-jähriges Jubiläum und auch SYNNECTA gratuliert herzlich zu diesem stolzen Jubiläum und der gelungenen Veranstaltung in Berlin.

Jörg Müngersdorff