Selbstorganisierte Teams organisieren sich – wie der Name schon sagt – selbst. Das heißt, sie kennen keine personell festgeschriebene Führungsrolle. Heißt das, dass nun alle Führungskräfte arbeitslos werden? Mitnichten. Denn zum einen agieren selbstorganisierte Teams nicht führungslos. Auch sie benötigen Führungs-Kraft, die jedoch anders organisiert wird. Zum anderen kommt in der agilen Transformation Führungskräften die wichtige Aufgabe zu, Teams in die Selbstorganisation zu begleiten und effizientes Arbeiten abzusichern. Sie übernehmen hier eine zentrale Rolle des Befähigers von Teams, in Zukunft »alleine zurechtzukommen«. Im Folgenden möchte ich einige wichtige Faktoren für das Gelingen von Selbstorganisation skizzieren, die sich aus Erfahrungen in der Begleitung von agilen Transformationsprojekten ableiten lassen – verbunden mit der Hypothese, dass in der Her- und Sicherstellung dieser Faktoren genügend Potenzial für Führungspersönlichkeiten liegt, weiterhin ihre Führungs-Kraft für Mensch und Organisation in Wirksamkeit zu übersetzen.
Trennung von Rolle und Person (Role vs. Soul)
Die klassisch-hierarchische Organisation weist Personen meist eine eindeutige Position auf einer von mehreren Hierarchiestufen zu. An diese Position – und damit direkt an die Person – werden dann sehr oft Status, Ansehen und Rechte geknüpft. Auch selbstorganisierte Teams und Organisationen kennen Hierarchien; allerdings handelt es sich hier immer um (teilweise flexible) Themen- und Rollenhierarchien – eine Hierarchie von Personen gibt es hingegen nicht. Während Rollen einander über- oder unterstellt sein können, agieren alle Personen im agilen Kontext konsequent auf Augenhöhe. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da Teammitglieder (je nach Situation, Kontext oder Projektphase) in mehreren Rollen gleichzeitig agieren können müssen und Kolleg_innen sich in unterschiedlichen Rollen gleichzeitig »über- und unterstellt« sein können. Genauso wie eine Person mehrere Rollen innehaben kann, kann eine Rolle auch von mehreren Personen ausgeführt werden. Rollenklarheit, d.h. die eindeutige Definition von Verantwortungsbereich, Aufgabenhoheit und Entscheidungsbefugnissen sind unabdingbar für das Funktionieren von selbstorganisierten Teams.
Diversität aufbauen
Diversität ist ein Schlüsselkriterium, um als Team auf jede Situation vorbereitet zu sein. Eine möglichst große Perspektivenvielfalt ist hilfreich, um komplexe Themenfelder ganzheitlich und dialogisch begreif- und bearbeitbar zu machen. Hierbei geht es nicht nur um Gender-, Alters- oder nationale Diversität, sondern ebenfalls um Vielfältigkeit an persönlicher Begabung und fachlicher Kompetenz. Idealerweise werden selbstorganisierte Teams cross-funktional mit Mitarbeitenden mit sogenannten T-Profilen besetzt: Alle verfügen (v.a. auch in punkto Sozialkompetenz) über generalistische Grundkompetenzen (Querstrich des T), um gemeinschaftlich schlagkräftig an Themen arbeiten zu können. Gleichzeitig verfügen jedoch unterschiedliche Teammitglieder an unterschiedlichen Stellen über tiefe Expertise (Längsstrich des T), sodass in jeder Situation von jemandem die Themenführerschaft übernommen werden kann. Der gezielte Aufbau von Diversität, die Förderung einer wertschätzenden Haltung gegenüber Vielfalt und die konstruktive Integration von Unterschiedlichkeit werden zu Kernaufgaben für die agile Führungskraft in der Begleitung selbstorganisierter Teams.
Adäquat Entscheidungen treffen
Wo im hierarchischen Kontext meist nur ein Entscheidungsprinzip genutzt wird (nämlich der Einzelentscheid durch die hierarchisch überstellte Führungskraft) verfügen selbstorganisierte Teams über eine ganze Reihe von Entscheidungsprinzipien, die je nach Situation adäquat kombiniert werden können:
- Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden.
- Konsultativer Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden, ist jedoch verpflichtet, vor der Entscheidung den Rat von einem oder mehreren Kollegen einzuholen.
- Mehrheitsentscheid: Die Entscheidungsoption, die die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnt, wird umgesetzt.
- Konsens: Die Entscheidung wird solange diskutiert und modifiziert, bis sich alle mit ihr vorbehaltlos identifizieren können.
- Konsent: Eine Entscheidung wird umgesetzt, solange keine begründeten Einwände vorliegen. Liegt ein begründeter Einwand vor, so muss dieser in die Entscheidungsfindung integriert werden.
- Systemisches Konsensieren: Die Entscheidungsoption, die den geringsten Widerstand der Gesamtgruppe aufweist, wird umgesetzt – wobei im Vorfeld jede beteiligte Einzelperson (meist über Zahlenwerte) ihren individuellen Widerstand gegen jede Entscheidungsoption ausdrückt.
Alle diese Entscheidungsprinzipen haben Vor- und Nachteile (z.B. hinsichtlich Entscheidungsgeschwindigkeit vs. Tragfähigkeit). Durch die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten in selbstorganisierten Teams, kann je nach Situation das Entscheidungsprinzip mit den größten Vor- und den geringsten Nachteilen gewählt werden.
Augenhöhe sichern und Spannungen integrieren
Im Gegensatz zu direkt geführten Teams, die einer Führungskraft unterstellt sind, verfügen selbstorganisierte Teams über keine übergeordnete Personeninstanz, an die sie Konflikte delegieren können oder die sie vor Spannungen schützt. Die exkludierenden Dynamiken eines selbstorganisierten Teams können mitunter »brutaler« wirken als die autoritärste Führungskraft. Es ist daher essentiell notwendig, dass agile Führung in selbstorganisierten Teams klare Konflikteskalationsregeln bzw. -prozesse etabliert und gegebenenfalls supervidiert, sowie für die konstruktive Integration von Spannungen sorgt. Hierfür hat es sich bewährt, dezidierte Rollen zu schaffen, die diese unterstützende Führung klar definiert für das Team leisten – beispielsweise die Rolle des Agile Coaches.
Klarheit und Transparenz herstellen
Um die Komplexität der Aufgabenstellung beherrschen und gleichzeitig die maximale Effizienz selbstorganisierter Zusammenarbeit nutzen zu können, sind Klarheit und Transparenz entscheidende Erfolgskriterien. Hierzu hat es sich in vielen selbstorganisierten Teams bewährt, alle geplanten, sich in Arbeit befindlichen und abgeschlossenen Aufgaben in einem Teamboard für alle einsehbar zu visualisieren. Dieses ständig aktuell gehaltene Teamboard ersetzt hierbei Reports. Selbstorganisierte Teams treffen sich regelmäßig in Meetings, die thematisch und ablauftechnisch klar gehalten sind. So wird zum Beispiel in Reviews regelmäßig der Arbeitsstatus evaluiert, in Retrospectives Hürden der Zusammenarbeit identifiziert und deren Eliminierung geplant, in Governance Meetings Prinzipien und Regeln reflektiert und etabliert, oder in Clear the Air-Meetings Spannungen und Konflikte adressiert und integriert bzw. bearbeitet. Kernaufgabe einer agilen Führungskraft ist es, den Rahmen für die Meetings zu schaffen und über die disziplinierte Einhaltung von Struktur und Prinzipien zu wachen.
Cultivating Self-Organisation
In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich die Erfolgsfaktoren agiler Führung skizziert und hierbei die Grundhaltung des Cultivating Leadership erklärt. Auch wenn selbstorganisierte Teams die Führungskraft als Person nicht mehr benötigen, so brauchen sie doch Personen, die Führungs-Kraft beweisen. Nicht im autoritären Verständnis eines Befehlshabers; sondern im Sinne des im letzten Beitrag beschriebenen Rahmenhalters oder Gärtners. Selbstorganisierte Teams brauchen Menschen, die die Rolle des Befähigers übernehmen. Sie benötigen Personen, die in der Rolle eines Agile Coaches dabei helfen, Hürden aus dem Weg zu räumen und Potenziale zu heben. Sie profitieren von jemandem, der ihnen in der klassisch-hierarchischen Organisation den Rücken stärkt und den Freiraum sichert, den sie brauchen um erfolgreich zu sein… Die Kultivierung von Selbstorganisation bietet genügend Rollen, in denen Führungskräfte Führungs- und Wirk-Kraft für Mensch und Unternehmen entfalten können.
Johannes Ries
Photo by Ryoji Iwata on Unsplash
Nachbemerkung: Dieser Text entstand in Teilen als Entwurf im Rahmen einer laufenden co-kreativen Initiative zum Thema Agile Leadership der Robert Bosch GmbH und der SYNNECTA. Über die Ergebnisse der Initiative wird in diesem Blog weiter berichtet. Der Autor dankt Michael Knuth und Christian Fust für die wertvollen Anregungen.