9. November 2021
Tiefe Muster – die zweifache Rechtfertigung
Das Abendland hat in seiner langen Geschichte immer wieder eine Forderung an das Leben gestellt: Dein Leben muss einen Sinn haben, es muss auf etwas bezogen sein, dass über das Maß des Lebens hinausgeht. Bei Viktor Frankl kann das etwas sehr Individuelles sein, oft aber geht es um Großes, das einzelne Leben Überspannendes. Manchmal, wie in manchen nationalen Bewegungen kann es bis zur Selbstopferung gehen. Schon in den frühen Fragen an Kinder: »Was willst du denn einmal werden?« schwingt die Sinnforderung mit. Sei nützlich! Gib deinem Leben eine Aufgabe, einen Sinn. Das wiederholt sich im späteren Leben. Die Botschaft bleibt gleich: Wofür tust Du das? Was ist deine Aufgabe? Was ist dein Sinn? Das Leben selbst ist nicht genug, es muss sich auf etwas anderes, etwas Höheres beziehen.
Mit den gerade reüssierenden Purpose-Konzepten ist die Forderung nun auch in der Mitte der Unternehmen angekommen. Es verstärkt noch einmal die Forderung: Verschreibe Dich einer Aufgabe, einem Sinn! Wähle den Arbeitgebenden, der sich selbst einer höheren Aufgabe verschrieben hat. Sei Teil einer Sinngemeinschaft. So lautet dann die dahinterliegende Botschaft: Ein gelingendes, ein erfülltes Leben ist nur möglich, wenn es von Sinn getragen ist. Und in einer Sinngemeinschaft bist du dann auch motiviert, engagiert. Das klingt gut.
Es gibt allerdings eine Schattenseite, die dann oft zur Enttäuschung, Ermüdung, Angestrengtheit, ja zu einem Gefühl des Scheiterns führt. Die Forderung, du musst deinem Leben einen Sinn geben, wird im Laufe des Lebens zu einem inneren Forderungssatz – einem Muss. Er bedeutet zugleich: Du musst Dich rechtfertigen.
Rechtfertige Dich, das ist einer der tiefsten individuell wie kollektiv geteilten Glaubenssätze. Dieser Glaubenssatz ruft zugleich eine Instanz auf, ein Gericht, vor dem man sich rechtfertigen muss. Im Individuellen sind es oft die Eltern, im Überspannenden wird es zunehmend unklar, wer denn dieses Gericht ist.
Was müssen wir eigentlich rechtfertigen? Zunächst müssen wir den Sinn, die Aufgabe, die wir unserem Leben gegeben haben oder die uns mitgegeben wurden rechtfertigen. Ist mein Sinn gegenüber einem außer mir liegenden Maßstab ein guter, ein wertvoller Sinn. Eine Frage an uns, die wir heute auch an die Unternehmen stellen – dient das Unternehmen einem guten Zweck, ist es von einem Purpose getragen, der über seinen engeren Zweck, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, hinausweist? Das ist die erste Stufe der Rechtfertigung. Mit ihr ist dann eine zweite Rechtfertigung gegeben: Erfülle ich, erfüllen wir diesen Sinn auch? Und wieder stehe ich und stehen wir vor einem Richter und Geschworenen. (Und im kulturell geprägten Hintergrund noch das Bild, es geht um Himmel oder Hölle.)
Mir begegnen im Coaching immer wieder Menschen, die an diesem Muss und dem erwarteten Urteil verzweifeln, die im Horizont des erwarteten Richterspruchs Lebenslust, Daseinslust verlieren. Ein Coaching, das sich mit dem Mindset auseinandersetzt macht die Sinnforderungen bewusst. Darüber hinaus lässt es erfahren, welche projektiv wirksamen Richter denn das Muss dieses Lebens verstärken.
Blickt man auf die Rolle der CEO’s, dann zeigt sich, dass die Geschworenenbank der Urteilenden heute viel breiter besetzt ist. Waren es zunächst vor allem die Shareholder, denen sie Rechtfertigung schuldig waren, so sind es jetzt die Mitarbeitenden und die Gesellschaft. Und deren Maßstäbe differieren doch sehr.
Der Zwang, sein Leben, sein Tun zu rechtfertigen steht sicher egoistischer Willkür entgegen. Er kann jedoch auch die spontane Lebendigkeit, das Tun aus reinem Wollen dämpfen und so auch die Phantasie als Teil innovativen Tuns verdunkeln. So ist eine Frage von Günther Anders ein schöner Anlass seine eigene Rechtfertigungslandschaft zu hinterfragen:
»Warum setzen Sie eigentlich voraus, dass ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur könnte – eben das, was Sie Sinn nennen?«
(Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen)
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Rüdiger Müngersdorff
Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
© Artwork: Mitra Art, Mitra Woodall
3. November 2021
Die Bedeutungsverschiebung in der Führungsrolle – Führung vom Mitarbeiter aus denkend
1. Wie kommt es zu dieser Bedeutungsverschiebung?
Die westliche Welt hat ein paar spezifische kulturelle Muster – ein sehr bedeutender Appell ist ein Satz aus der Schöpfungsgeschichte des alten Testaments: Macht euch die Erde untertan! Verbunden mit der Aussicht auf Leid und Schmerz. Es ist die Aufforderung Macher zu sein, Gestalter, Beweger. Und das ist dann auch der Kern einer Führungsrolle: Gestalte, mache, kreiere. Unsere heutigen Erfahrungen mit einer globalen, vernetzten Welt und ihrer Dynamik sowie die Konfrontation mit anderen kulturellen Vorannahmen und Werten lässt uns am Bild des souverän gestaltenden Subjekts, dem die Welt als Gestaltungsraum gegeben ist, zweifeln. Unsere heutige Erfahrung scheint eher zu sein: nicht wir bewältigen die Welt, sondern die Welt bewältigt, überwältigt uns. Wir lassen uns davon noch nicht abschrecken, sondern suchen neue Wege, ein balanciertes Verhältnis von gestaltendem Einfluß nehmen und der Akzeptanz, dass nicht nur wir der Welt einen Stempel aufdrücken, sondern die Welt auch uns einen Stempel aufdrückt, zu finden. Diese Erfahrungen haben auch Einfluss auf unsere Konzeption von Führung – die souveräne Rolle einer gestaltenden Führungskraft wird von der möglichen Führungsrolle von Kollektiven herausgefordert.
So beschreiben wir heute eine Führungskraft eher als Ermöglicher, als Förderer, als Moderator. Wir sprechen von einer dienenden Führungskraft mit den Werten der Demut, des Kümmerns. Der Weg von einem starken Ego zum Teil eines größeren Wir.
Es scheint, als habe die alte Führungskraft gegenüber der Komplexität, der Kontingenz und Beschleunigung aufgegeben. Sie kann die Rolle des wissenden Gestalters nicht mehr ausfüllen, sie sieht sich mit den Grenzen der eigenen Souveränität konfrontiert. Und hier dann wird die Antwort in den potentiell mächtigeren, klügeren vielstimmigen Kollektiven gesucht. Wir geben unser Vertrauen in die Weisheit vielstimmiger, diverser Diskurse und glauben, dass das Kollektiv als multiperspektivische Gruppe der Komplexität von Aufgaben in der heutigen Welt eher gewachsen ist als der alte Führungsheld.
Mit dieser Entwicklung geht zugleich ein Lernen einher, dass das westlich dominante Modell, alles habe seinen Grund, und alles lasse sich auf eine Ursache zurückführen zwar überaus mächtig, aber auch nicht universal gültig ist. Mit einer komplexen, beschleunigt dynamischen Welt lernen wir auf Geschehnisse in einer systemischen Weise zu blicken – wir betrachten Geschehnisse als interaktive Bedingungsgefüge, wobei wir keine eindeutige Ursache zu identifizieren vermögen, wohl aber Vernetzungen, die zu dem zu erklärenden Ereignis geführt haben mögen. Kennen wir die eine Ursache können wir zielgerichtet handeln, in einem Bedingungsgefüge müssen wir feedbackgeleitet Handeln, wir sind Teil des Gefüges und wir lernen mit dem Gefüge (daher die Rehabilitation des Fehlers als Impuls für ein Feedback aus dem zu lernen ist).
2. Aber ist mit der Hinwendung zum Kollektiv die alte Rolle der Führungskraft obsolet?
Wir brauchen zur Bewältigung, zu einer für das Ganze förderlichen Antwort, sicher die Vielstimmigkeit eines diversen Kollektivs und so offene, furchtreduzierte Diskurse. Damit diese Diskurse jedoch gelingen können und sich die Vielstimmigkeit nicht in unversöhnliche Positionen entwickelt, benötigen wir auch Leitplanken, Orientierung und den Bezug zu einem gemeinsamen Horizont für das, was jetzt nötig ist. Und hier bleibt es die Aufgabe der Führung mit all dem Risiko des Irrtums diese Orientierung zu geben. Eine Lernaufgabe der Führung ist dabei sicher zu realisieren, dass mein Subjekt nicht das mächtige Zentrum, sondern Teil eines Ganzen mit einer sehr spezifischen Rolle in diesem Ganzen ist. Eine immer schmerzliche Lernaufgabe ist dabei zu realisieren, ich bin beschränkt, eingeschränkt, und der Weg diese Einschränkung zu vermindern, sind die Anderen. Ein anderer alter Satz aus dem altgriechischen Orakel hat das der westlichen Menschheit mitgegeben: Bedenke, Du bist ein Mensch! Nur ein Mensch, aber auch ein Mensch. Hannah Ahrendt hat diesem Menschen zugeschrieben, Anfänge setzten zu können. Und auch das bleibt eine Aufgabe der Führung.
3. Ist das Kollektiv reif für die Übernahme von Führungsakten?
Meine lange Arbeit mit gruppendynamischen Settings zeigt, wie schwierig es ist in ungeführten Gruppen gemeinsame Orientierung und zielführende Zusammenarbeit zu realisieren. Neben den bekannten Gruppeneffekten, das Finden von Rollen, von Position und Bedeutung in diesem sozialen Feld (emotional getriebene Effekte) ist die Etablierung von kollektiven und begrenzenden Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsmustern die größte Barriere für einen multiperspektivischen und offenen Dialog. Zusammen mit emotionalen Dynamiken des Gruppenzusammenhalts reduzieren sich die potentiell gegebenen Chancen der Multiperspektivität und schrumpfen zu einem in der Regel unbewusstem Groupthink. Ohne einer gezielten Arbeit an diesen beschränkenden Mustern bleiben Gruppen weit unter ihrem Niveau und können die ihnen zugedachte Aufgabe, Komplexität besser bewältigen zu können, nicht erfüllen. Die Dynamik von Gruppen überdeckt immer wieder den sachlichen Fokus, und wie es die Psychoanalyse für Individuen beschrieben hat, der Zugang zum kollektiven Mindset als unbewusste Entität ist von vielen Abwehrmassnahmen verdeckt. Aus diesem Grund gehört zur Arbeit mit dem kollektiven Mindset eine tiefe gruppendynamische Expertise. Nur dann gelingt die neue Balance in der Führung – ein produktiveres Gleichgewicht zwischen Führen und Geführtwerden.
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Rüdiger Müngersdorff
Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
© Artwork: Mitra Art, Mitra Woodall
15. September 2021
Fast alle Unternehmen haben sich, nun schon vor längerer Zeit, mit ihren Werten beschäftigt, sie oft niedergeschrieben und im Unternehmen verteilt. Eine bedeutsame Quelle war oft die Erinnerung an die »Philosophie« der Gründer und deren Worte, oft späte Worte. Die Werte bildeten das Rückgrat der Organisation und ergänzten die Visionsprozesse. Leitend war dabei ein Zitat von Odo Marquard: »Zukunft braucht Herkunft«. Heute sind sie eine Grundlage der »Purpose«-Prozesse. Es geht immer um die Antwort auf die Frage: Wer sind wir und wer und wie wollen wir sein?
Nun sind diese Werte, die ja oft als zeitlich stabil, ja überzeitlich verstanden werden, tatsächlich Werte einer alten Welt. Und so stellt sich die Frage: Brauchen wir einen neuen Werteprozess? Und sollte er diesmal weniger Top Down, als vielmehr unter Einbeziehung des sozioökologischen Umfelds gestaltet werden?
Werte, gemeinsam getragen, sind umso wichtiger, je mehr Autonomie und Selbststeuerung eine Organisation anstrebt. Sie sind unverzichtbarer Teil einer indirekten Steuerung, geben den relativ frei operierenden Einheiten ein gemeinsames Fundament und erhöhen so die Möglichkeit, Freiheitgrade zu erweitern und die hierarchische, direkte Steuerung zu reduzieren.
Wie wichtig neue, beteiligende Werteprozesse sind, kann man beim Thema Diversity deutlich sehen. In dem Versuch die Diversität eines Unternehmens zu erhöhen gestalten wir heute Inklusionsprogramme, und obwohl wir ja gerade den Unterschied wollen, ist die Hintergrundlogik oft ein »sich einpassen sollen«. Die widersprüchliche Botschaft lautet: Seid anders, unterschiedlich, aber bitte im Rahmen unserer Kultur. So wollen wir ein diskriminierungsfreies Miteinander im Kontext unserer Kultur, Herkunftskultur. Möchten wir tatsächlich ein globales Unternehmen und wirklich ein gemeinsames Haus für »Diversität« sein, wird man die alten Werte einer intensiven Revision unterziehen müssen. Dies muss so geschehen, dass die Diversität nicht bloß mitgedacht, inkludiert wird, sondern so, dass sich eine gemeinsame Identität der Unterschiede bildet.
Neue, aus dem diversen Kollektiv entstandene Werte könnten Angehörigen anderer Lebenskonzepte, anderer kultureller Herkunft und anderer Lebensgeschichten die Möglichkeit geben, sich in den Werten ihres Unternehmens wiederzufinden. Dann wäre es auch berechtigt, von globalen Unternehmen zu sprechen und nicht nur von global vertretenen Unternehmen.
SYNNECTA hat mit TheQuestBySynnecta einen Prozess beschrieben, der hier ein wichtiger Wegweiser sein kann.
Rüdiger Müngersdorff
5. Juli 2021
Die Dynamik von Gruppen ist die Grundlage jeder Arbeit mit sozialen Systemen. In Trainings und Workshops werden vielfältige Methoden eingesetzt, um diese Dynamik zu überdecken. Das funktioniert recht gut, solange die Sachthemen im Vordergrund und gemeinsamen Fokus stehen. Das ist jedoch oft nicht der Fall – das, was wir Beziehungsthemen nennen, drängt sich in den Vordergrund und behindert die Bearbeitung der so genannten sachlichen Themen. Heute wird diese Dynamik nicht nur methodisch eingeklammert, sondern sie wird mit der Gruppennorm der Positivität aus der Kommunikationsdynamik von Gruppen verbannt. Gleichzeitig jedoch wissen wir, dass gerade in der Differenz, den Unterschieden von Perspektiven, Meinungen und Haltungen, der Reichtum von Gruppen liegt und den erhält man nur, wenn man zugleich die Emotionen zulässt. Die aber werden zu oft als bedrohlich und störend empfunden, wobei sie genau das sind, was wir benötigen, soll Differenz und Diversität wirksam werden. Oft fehlt uns hier die emotionale Souveränität. Die Ausblendung und Unterdrückung der Gruppendynamik verschärft sich durch das virtuelle, digitale Arbeiten. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als würden all die Konflikte, Unterschiede, blinde Flecken verschwinden. Aber wie wir an der zunehmenden Müdigkeit virtueller Gespräche sehen können, sie werden nur versteckt. Ein weiteres Indiz für das Nichtgelingen dieses Verdrängungsvorgangs sind die Zahlen der Krankenkassen, die eine zunehmende Anzahl von psychischen Erkrankungen und Burn Out Symptomen melden.
Wir erleben oft, dass sich die Arbeit am Mindset auf das Individuum konzentriert. Es liegt das Versprechen in der Luft, sich von den Fesseln des lebensgeschichtlich erworbenen Mind Sets lösen und für sich selbst mehr Freiheitsgrade im Handeln entwickeln zu können. Wobei ja auch die Arbeit am Mindset mit jemandem stattfindet – es geschieht in einer Beziehung, in einer sozialen Situation. Diese soziale Szene ist wesentlich für die Wirksamkeit. Schaut man auf die Effektivität, dann sind oft Kleingruppencoachings besser als Zweierbeziehungen, weil wir hier in einem viel reicheren sozialen Raum, einer reicheren Szene arbeiten. Für eine erfolgreiche Arbeit an einem kollektiven Mindset ist die Arbeit mit der sozialen Szene und so mit der Gruppendynamik um so wichtiger. An gruppendynamischer Kompetenz jedoch fehlt es oft und so steckt die Mindsetarbeit, die sich auf kollektives Vorverständnis und Kulturfaktoren bezieht, noch in den Kinderschuhen.
Wir leben und arbeiten in Gruppen – wir sind immer in einer sozialen Situation. Dieses Setting gibt uns Anregungen und öffnet unser eigenes unvermeidlich beschränktes Vorverständnis. Aber es öffnet nicht nur, sondern es begrenzt auch. Die für Gruppen typische Beschränktheit wird dann auch oft Groupthink genannt. Die in der Regel unbewussten Normen und Verhaltensregeln von Gruppen definieren einen Raum, eine Szene, die individuelle Impulse und Perspektiven wirksam beschränkt. Die individuelle Vielstimmigkeit wird in den Gruppen reduziert.
Gruppen sind potentiell reich, vielstimmig, mannigfaltig und so auch leistungsfähiger und anpassungsfähiger, agiler. Dieses Potential wird jedoch nur selten wirksam. Warum? Gruppen bilden sehr schnell ein System von Normen und Vorannahmen, Werten und Erwartungen aus, die den Spielraum für individuelle Perspektiven wirksam reduzieren. Es gibt eine Not sozialer Wesen, das ist die Notwendigkeit zugehörig zu sein, ein Teil des sozialen Systems zu sein und damit die Angst, nicht dazuzugehören, ausgeschlossen zu sein. Der Anpassungsdruck ist groß und wir geben ihm oft unbewusst oder unter der Deckung von Entschuldigungsgeschichten nach. Ohne es bewusst zu wollen und zu tun, sagen und handeln wir, wie wir glauben, dass es der Norm der Gruppe entspricht.
Damit nehmen wir der Gruppe zugleich ihr größtes Potential – die Unterschiede, Differenzen, Fremd- und Andersheiten, kurz die individuellen Perspektiven. Wer Gruppen beobachtet, kann sehen, wie die stets limitierende Norm durchgesetzt wird. Der Verweis auf den Mangel an Zeit oder die heute verbreitete Forderung stets ein freundliches, akzeptierendes Yes Set zu zeigen sind darunter die einfachsten Methoden.
In der Zugehörigkeit zu Gruppen und Organisationen bleibt das kollektive Mindset, die Organisationsentwicklung- oder Gruppenkultur nicht ohne Wirkung auf das individuelle – es treten Verstärkungen auf, auch Abschwächungen, Verschiebungen. Das kollektive hat oft die größere Durchsetzungskraft. Geht es darum in die Vorannahmen, die Glaubenssätze eines Individuums Bewegung zu bringen, dann müssen wir zwingend auch mit der sozialen Szene arbeiten, in der der Mensch lebt und arbeitet. Das Handeln des Einzelnen ist im hohen Maße von der Szene bestimmt, in die wir gesetzt sind oder wir uns gesetzt haben. Gruppen geben uns eine Szene und zugleich ein Skript, wie diese Szene gespielt werden soll. Wir suchen uns in dieser Dramaturgie die Nischen, die Rollen von denen wir denken, dass sie uns am ehesten einen guten Platz in der Gemeinschaft dieser Gruppe, dieser sozialen Organisation zu geben vermag. Dabei lassen wir unseren persönlichen Reichtum, oft ohne es zu merken, außen vor und nehmen der Gruppe zugleich ihr größtes Potential: die Differenz, die individuelle Perspektive.
Wir alle haben ein individuelles Vorverständnis, mit dem wir der Welt begegnen und das jeweils unser eigenes ist, und insofern wir immer Teil eines sozialen Systems sind, ein kollektives Vorverständnis, das wir mit anderen, unserer Gruppe teilen. Dabei ist das kollektive Mindset (Vorverständnis) oft dominant. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und zugleich die Furcht und die Scham vor einer Ablehnung führen in die Anpassung. Dass wir dafür einen Preis zahlen, wird uns oft erst am Abend, im Alleinsein bewusst. (Daher ist es auch weiterhin wichtig, in Workshops zumindest einen Abend und eine Nacht zu planen, hier entstehen Impulse, die Bewegung auslösen können. Die stetige Verkürzung von Treffen, Trainings und Workshops sorgt mit dafür, die kollektive Norm durchzusetzen und damit Differenz auszuschließen.)
Kollektives und individuelles Mindset sind verschränkt. Sie bilden ein dynamisches System und haben dabei eine Tendenz hin zu einer beschränkenden Stabilität. Eine effektive Arbeit sowohl am individuellen als auch am kollektiven Mindset arbeitet an dieser Balance, öffnet Differenzen und macht so Bewegung möglich. Zunächst geht es dabei um eine Wahrnehmung der Szene, die eine Gruppe bereitstellt; dies lässt das Durchspielen von Varianten zu und sorgt damit dafür, dass Differenzen sichtbar und besprechbar werden. Schlüssel zur Veränderung ist dabei eine Öffnung des Ausdrucksraums der Gruppe, das Wahrnehmen von Rissen in den Bewertungen der Gruppe. Hier kann das Potential der Mitglieder in die Kommunikation der Gruppe eintreten und als Differenz wirksam werden. Das verlangt die Bereitschaft der Menschen, sich zu zeigen und ein Vertrauen zu entwickeln, dass alle Stimmen zählen und Unterschiede hier akzeptiert werden (Psychologische & emotionale Sicherheit). Zur Gruppendynamik gehört Vertrauen genauso wie die Bereitschaft zur Konfrontation. Wer in Organisationen für kulturelle Veränderung einsteht, der weiß, Nachhaltigkeit erzielen wir nur, wenn in einem Zugleich an beide Pole der Balance, der individuellen als auch der kollektiven, gearbeitet wird.
Ein Plädoyer für die Gruppendynamik also. Will man effektiv mit dem Konzept Mindset arbeiten, dann ist eine tiefe Vertrautheit mit der Dynamik von Gruppen, den gelebten Rollen innerhalb der Gruppen und ihre gegenseitige Einflussnahme unerlässlich.
Gruppendynamik ist mehr als ein moderiertes, geleitetes Gespräch. Es ist die Öffnung hin zum Reichtum individueller, diverser, mannigfaltiger Perspektiven.
Und zugleich der Weg immer wieder Entscheidungen treffen zu können, die der Kontingenz und Komplexität unserer heutigen Lebens- und Arbeitswelt gewachsen sind. Was dazu nötig ist beschreibt Wolfgang Hegewald: »(…) dass sich Kunst und Gesellschaft auf Differenz gründen, auf Neugier auf den Anderen und auf Sympathie für das, was ich nicht bin, auf Verwandlungslust, Takt und Distanz. Das mein Herz für meinen Kopf schlägt: eine erotische Erfahrung.«
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Rüdiger Müngersdorff
Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
© Artwork: Mitra Art, Mitra Woodall
28. Juni 2021
Arnold Gehlen beschrieb den Menschen als Mängelwesen und gab dieser Bestimmung eine positive Wendung. Die physische Unvollkommenheit des Menschen mündet in seine Fähigkeit, sich eine Lebenswelt zu gestalten, sozusagen Dominanz und Gestaltungsfähigkeit aus dem Mangel zu entwickeln. Diesem anthropologischen Gedanken steht die psychologische Bestimmung des Mangelkonzepts in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen entgegen mit Botschaften, die vermitteln, dass das Individuum nicht gut genug ist. Hier bleibt es oft beim Mangel, ohne dass die Wendung zur Gestaltung, zu Bewältigung und Überwindung möglich wird. Die Mangelbotschaften führen zur Aufgabe, zum Zweifel, zum Aufgeben oder aber zu einem ewigen Kampf gegen die Kraft der frühen Botschaften.
Mangelbotschaften sind Teil der gesellschaftlichen Haltungen und spielen in den Familien eine große Rolle. Wenn man in biographischen Arbeitsschritten sich mit den erinnerten typischen Sprichworten beschäftigt, die Kinder und Jugendliche von den wichtigen Bezugspersonen oft, wieder und wieder gehört haben, dann wird deutlich, wie diese Botschaften zu Haltungen und Glaubenssätzen werden. Ob es heißt: Das Leben ist kein Ponyhof oder Qualität kommt von Qual oder harmloser klingend Ohne Fleiß kein Preis usw.; immer wird vermittelt – nicht gut genug, da muss noch mehr kommen, nimm dich zusammen. Die Welt wird nicht zum Ort des Erlebens, freudvollen Gestaltens, sondern zur immerwährenden Bewährungsprobe. Dem stehen auch immer wieder die Botschaften der Kraft, der Fülle, des Bewusstseins des eigenen Potentials gegenüber. Beides ist da – oft aber stimmt die Balance nicht.
Gerne wird in den häufigen Fällen der fehlenden Balance eine formelhafte positive Vorsatzbildung empfohlen – das greift aber deutlich zu kurz, auch wenn es bei Individuen durchaus eine positive, stabilisierende Wirkung haben kann.
In der Mindsetarbeit, wie sie von MyndLeap realisiert wird, geht es um das Phänomen der Verschränkung von Kultur, kollektivem Mindset und individuellem Mindset und deren Dynamik. Eine Arbeit, sie sich nur auf das Individuum und dessen Glaubenssätze konzentriert, verändert die Verschränkung zwischen Kulturbotschaften, die wie Normen wirken und den individuellen, entsprechenden Glaubenssätzen nicht.
Im günstigsten Fall weisen die Verschränkungen Differenzen auf, die Spielräume öffnen – so etabliert sich mit einem veränderten Narrativ zur Fehlern als Teil von Innovation die Perfektionsnorm in der das Individuum in der Spannung zwischen Ich kann das und ich bin nicht gut genug Gestaltungsraum gewinnt – allerdings steht dem Narrativ, Fehler sind Teil des Lernens und Wachsens noch dominierend stark das Narrativ entgegen: Fehler sind falsch, zu vermeiden und ein geradezu moralisches Versagen. Oft haben sie ((kollektive und individuelle Glaubenssätze) eine sich symmetrisch verstärkende Beziehung – was bei Glaubenssätzen, die eher Sicherheit, Gestaltungskönnen, Mut und Freude an der Herausforderung vermitteln in der gegenseitigen Verstärkung große Kraft entfalten kann. Genau andersherum jedoch, wenn die Mangelsätze sich gegenseitig aufschaukeln.
Wenn wir auf den Ursprung der Mindsetkonzeption zurückblicken, dann wird noch einmal sichtbar, dass es vor allem um spezifische Annahmen gegenüber der Welt geht, die sozialen Systemen zu eigen sind und der konkreten Erfahrung vorausgehen. Zuerst waren die sozialen Schichten im Blickfeld, dann auch die Frage, ob es typische nationale Mentalitäten gibt. Für uns steht heute die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung hat die Mentalität oder das dominierende kollektive Mindset für das Engagement und die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitenden in Unternehmen. Mag die individuelle Mindsetarbeit für einzelne Individuen eine erleichternde Wirkung haben und oft auch einen Weg aus einer Situation aufweisen können, die das eigene Mangelbewusstsein stabilisiert und verstärkt, so ist es für Unternehmen wichtig, sich dem kollektivem Mindset zuzuwenden. Hier liegt der Hebel für Veränderungen. Es gibt bewährte Methoden, die es erlauben mit Gruppen aber auch grösseren Organisationen so zu arbeiteten, das im ersten Schritt wahrnehmbar ist, wie das kollektive Mindset tickt und welche normativen Botschaften es setzt, in dem dann die jeweils individuellen Glaubenssätze wirken. Wenn die Verschränkungen sichtbar werden, kann ein Prozess beginnen, in dem andere Botschaften möglich werden und durch nachhaltige, achtsame Bewusstwerdung und Integration schrittweise wirksam werden. Kulturelle Muster etablieren sich durch Wiederholung, Vorleben und Nachahmung. Die Arbeit am kollektiven Mindset, die von MyndLeap gestaltet wird, führt vom Mangel- zum Potentialbewusstsein und somit zu einer Potentialkultur, wobei jeder Mensch selbst entscheiden darf, was aus diesem Potential wird.
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Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
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