Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (4)

Agile Arbeitsformen wie Scrum unterstützen per se eher günstige Denkmuster durch die Dichte und Form der ritualisierten Kommunikationsprozesse. Auf der anderen Seite funktionieren diese Arbeitsformen dann besonders gut, wenn die einzelnen Akteure im agilen Arbeitsmodus und im Umfeld mentale Denkmuster kultivieren, die diese Rituale zur vollen Wirkung entfalten lassen. Agile Workframes, vornehmlich Scrum, haben Rituale geprägt, die Achtsamkeit auf kollektiver Ebene unterstützen.

Insbesondere die Retrospektiven ermöglichen den Helikopter-View auf sich und das Agieren des Teams im letzten Sprint oder in der rückwärtig betrachteten Periode. Immer wieder kann hervorgehoben werden, dass die ganze Präsenz (Check In) im gemeinsamen Betrachten und Optimieren, auch mit allen gemischten Gefühlen, wichtig ist für das gemeinsame Lernen und Gestalten.

Auch hier wird zunächst einmal vergangenes Geschehen (letzter Sprint) schlicht akzeptiert. Immer unter der Vorannahme, dass jeder Einzelne aus der damaligen Betrachtung und Möglichkeit heraus sein Bestes eingebracht hat. Um dann aus der distanzierten, gemeinsamen Betrachtung neue Möglichkeiten zu entwickeln.

Immer wieder also nimmt die Gruppe Distanz zum aktuellen Geschehen auf und betrachtet das Geschehen in der Rückschau und in der Vorausschau aus der Helikopter-Perspektive. Um dann im nächsten Sprint als Team in die Umsetzung zu gehen (Flow).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Parallelen zwischen individueller Achtsamkeit und kollektiver Achtsamkeit in Ritualen agiler Workframes:

In diesem Sinne ergänzen sich Achtsamkeitsrituale und -haltungen und agile Arbeitsformen auf das Beste. Im Scrum-Workframe erlernt das Team und der einzelne Akteur neue Arbeits- und Kollaborationsformen, die den Flow in den gemeinsam geteilten Ritualen und agilen Ereignissen ermöglichen. Das sind selbstverständlich auch wieder Routinen. Wenn auch Routinen, die Beweglichkeit, Neujustierung und gemeinsames Vorgehen unterstützen.

Aber auch agilen Arbeitsformen (Routinen) dürfen und müssen sich weiterentwickeln und in neuen Kontexten erneuern und verändern. Sonst werden auch agile Arbeitsformen in ineffektiven vergangenheitsgefangenen Ritualen erstarren. Achtsamkeit kann auch hier wirksam sein, weil Sie die Haltung unterstützt, dass alle Modelle von Arbeiten und Leben absolut vorläufig sind – und sich immer wieder erneuern müssen.

Herbert Bittorf
Titelbild: Rosie Kerr on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (3)

Individuelle Denkmuster, die Erneuerung unterstützen, können durch Selbstregulationstechniken auf individueller und kollektiver Ebene gefördert werden. In meiner Erfahrung hat sich hier Achtsamkeit als ein sehr wertvolles Instrument erwiesen. Sobald Achtsamkeit als Denkhaltung, Mindset und als wertvolles Selbstmanagementtool eingeführt wird, erhöht es die Aufmerksamkeit für günstige kooperative Muster und Verhaltensweisen.

Die folgende Grafik fasst die Effekte von Achtsamkeit auf individueller und kollektiver Ebene zusammen. Wirkungen von Achtsamkeit auf individueller Ebene:

Diese Wirkungen werden unterstützt durch Haltungen wie Anfängerblick, Präsenz, Akzeptanz, Distanz zum eigenen Denken und Fühlen und Zuversicht. Uns Menschen fällt es in achtsamen Denkmodi leichter, die eigenen archaischen mentalen Mechanismen (Überlebenskampf-Modus etc.) mit Distanz zu betrachten und einfacher zu wechseln zwischen Helikopter-View und Flow-Erleben (Routinen). Genau diese Wirkmechanismen unterstützen die positive Ausgestaltung agiler Workframes.

Achtsamkeit zur Förderung günstiger kollektiver Denkmuster,
die Erneuerung ermöglichen

Auf kollektiver Ebene scheinen mir die individuellen Effekte eine noch größere Auswirkung im Zusammenspiel der Akteure zu haben. Aus meinen Erfahrungen möchte ich wesentliche Wirkungsrichtungen von Achtsamkeit beschreiben. Was wird mehr und was wird weniger:

Diese Effekte auf individueller und kollektiver Ebene sind aus meiner Sicht sehr lohnend. So lohnend, dass es mir fast unverantwortlich erscheint, achtsame Haltungen und Techniken in Veränderungsprozessen als Nährboden und hilfreiche mentale Plattform für gemeinsame Neugestaltung nicht als ein wesentliches Konzept zur Befähigung der beteiligten Akteure einfliessen zu lassen.

Herbert Bittorf
Titelbild: Chris Palomar on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (2)

Für alle Teams, die ich bis jetzt im agilen Kontext getroffen habe, bedeutet agiles Arbeiten immer die zumindest von Außen herangetragene Erwartung effektiver, beweglicher und schneller Outputs zu liefern. Mit der agilen Transformation soll etwas Neues entstehen. Die bisherigen Strukturen, Entscheidungsbereiche, Machtstrukturen und persönlich erarbeiteten Aspekte von Status, Einfluss, Sicherheit und Respekt stehen auf dem Spiel. Was kriege ich dafür, wenn ich das hier aufgebe?

Wenn etwas auf dem Spiel steht, löst das bei vielen Menschen Kampf- und Fluchtdynamiken aus, weil sie schlichtweg Angst haben. Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass unter Angst verstärkt die alten Routinen zur Lösung von neuen Bedrohungen herangezogen werden. Eine eher ungünstige innere Dynamik, um Erneuerung zu gestalten.

Sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende erleben diese Situationen häufig als kritisch und gefährdend für ihren Verantwortungsbereich, Status und ihre Reputation. Wenn eine Vielzahl von Akteuren in Transformationsprozessen in alte archaische Muster von Kampf, Verteidigung und Flucht verfallen, wird das gemeinsame Gestalten von neuen Formen der Zusammenarbeit richtig schwierig.

Hürden, wenn es um das Erlernen neuer Fähigkeiten geht

Gerade auch Menschen in Projekt- und Führungsverantwortung können in solchen Prozessen dank einer häufig sehr starken Selbstkontrolle und Disziplin äußerlich solche inneren Zustände (Überlebenskampf-Modus) überspielen. Im inneren Verabeitungsprozess sind die alten archaischen Muster aber trotzdem dominant. Der Überlebenskampf-Modus und die daraus resultierenden Denkmodi und Verhaltenstendenzen sind von einigen Neurowissenschaftlern und Stressforschern ausreichend beschrieben worden.

Tendenziell könnte man sagen, dass im aktuellen Bedrohungsmodus alte Routinen aktiviert werden, die häufig erprobt wurden (Wir können an Kampfsportler denken, die Bewegungen tausendmal im Training optimieren. Im Kampfmodus können diese kaum erprobt werden. Nur viele tausendmal erprobte Abläufe funktionieren in diesen Situationen). Mentale Bewertungsprozesse im Kampf- und Flucht-Modus führen jedoch immer wieder dazu, dass neue Ideen, kreative Gedanken anderer und neue Kooperationsformen tendenziell eher negativ bewertet werden und alte Lösungen und Ideen sich auf mentaler, interner Verarbeitungsebene stärker durchsetzen und Erneuerung behindern.

Generell werden Umwelt sowie andere Gestalter und Akteure im Überlebenskampf-Modus eher als feindlich und Bedrohung erlebt. Das kann der eine oder andere dann nachvollziehen, wenn sie/er einen stressigen Tag erlebt hat und dann nach Hause, womöglich zu Partner/in und und Kindern kommt. Sehr leicht werden diese geliebten Menschen dann auch situativ als bedrohlich erlebt….

Folgende ungünstige Effekte werden durch den Überlebenskampf-Modus bei Akteuren verstärkt:

  • Sieger-Verlierer-Wettbewerb: Es geht insbesondere ums Verlieren und Gewinnen. Das verstärkt Effekte auf das Selbstwertsystem und wird beim Verlieren verstärkt Kränkungseffekte hervorrufen.
  • Überlebenskampfmechanismen rücken in den Vordergrund: Der Bruch von Regeln, verdecktes Handeln und Taktieren werden ausgebaut.
  • Sunk Cost Bias (z. B. Studie INSEAD): Wenn man in alte Modelle, Projekte und Strukturen investiert hat, dann kann man diese ganz schlecht loslassen (Tote Pferde werden weiter geritten). Debiasing the Mind Through Meditation: Mindfulness and the Sunk-Cost Bias
  • Alte Routinen zur Durchsetzung, Koalitionsbildung, Verteidigung und Gestaltung werden deutlich stärker fokussiert. Die Offenheit für neue Kooperationsmöglichkeiten und Gestaltung sinkt deutlich.

Persönliche und kollektive mentale Denkmuster verstärken, die Erneuerung begünstigen

Stattdessen macht es also Sinn auf kollektiver und persönlicher Ebene daran zu arbeiten, dass möglichst viele Akteure in einem Transformationsprozess nicht zu oft in diese archaischen Denk- und Interaktionsmuster (Überlebenskampf-Modus) hineingeraten. Möglichst viele Akteure sollten immer wieder in mentale Zustände kommen, die Zuversicht, Verbundenheit und kreatives Neu-Denken ermöglichen. Was das im Detail bedeutet, darüber schreibe ich in meinem nächsten Blogartikel »Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen.«

Herbert Bittorf
Titelbild: Josh Calabrese on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität

Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (1)

Zunehmend erlebe ich eine große Bereitschaft und Offenheit bei Bereichen und Teams, sich auf agile Workframes einzulassen. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Tatsächlich wird dann jedoch im gemeinsamen Arbeiten erkennbar, dass dieses bewusste Einlassen begleitet wird von einer ebenso großen Kampfbereitschaft, wertvolle Errungenschaften, geschätzte Prozesse und hart erarbeitete Rollen aus der Vergangenheit zu verteidigen.

Diese gegenläufigen Tendenzen, die wir ja auch als Individuen alle in uns haben, werden auch hier in unterschiedlichen Gruppendynamiken auf dem Weg zu neuen Arbeitsformen deutlich. Vorfreude auf Neues – und die Angst vor dem Ungewissen, verbunden mit allen Gefahren für eigene Rollen, Anerkennung, Status und eigene Leistungsmöglichkeiten. Wir könnten diesen Modus Überlebenskampf-Modus nennen.

Werden die damit verbundenen Prozesse auf individueller Ebene bei vielen Akteuren dominant, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die daraus resultierenden Haltungen und Handlungsvarianten starke Auswirkungen auf gruppendynamische Prozesse im Transformationsgeschehen haben. Insbesondere, wenn Drehpunktfiguren, häufig auch Führungskräfte im Überlebenskampf-Modus agieren.

Gegenmittel Achtsamkeit

Interessant ist dabei die Beobachtung, dass Techniken und Haltungen aus dem Feld der Achtsamkeit einen Veränderungsshift im Klima von Interaktionen unterstützen, so dass Erneuerung, Perspektivenwechsel und Vertrauen in den Vordergrund rücken – nennen wir diesen Modus Kollaborationsmodus. Wie ist das zu erklären?

Dazu müssen wir zunächst auf die Wirkmuster von Achtsamkeit auf unsere Denkmodi schauen. Ellen Langer, die originelle Forscherin von der Harvard-University, hat im Laufe ihrer Forschungsarbeiten mehrere Kennzeichen von Menschen im Achtsamkeitsmodus beschrieben. Hier die wesentlichen Merkmale:

Wenn wir uns die linke Seite anschauen erkennen wir die Denkmuster, die achtsame Akteure prägen. Und genau solche Denkmuster sind sehr hilfreich, um aus einem »Überlebenskampf-Modus« in einen »Kollaborationsmodus« zu wechseln.

Ein wesentlicher Wirkmechanismus scheint dabei zu sein, dass Achtsamkeit dem Einzelnen ermöglicht, sich von eigenen (automatischen) schnellen Bewertungen, Vorurteilen und Routinen zu distanzieren. Dazu gehören bei erprobten Akteuren im Unternehmensumfeld insbesondere die Routinen, um sich durchzusetzen, sich zu verteidigen und zu gewinnen. Sobald diesen »Reflexen« nicht mehr unmittelbar gefolgt wird, entsteht Raum in der Kooperation, neue Gedanken und Ideen gemeinsam zu verfolgen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Was kann Achtsamkeit als Selbststeuerungstool bewirken?

Achtsamkeit kann eine mentale Plattform sein, die Energien aus dem Modus der Kampfbereitschaft und Verteidigung in einen Modus der Fokussierung, Entschlossenheit, und gemeinsamen Gestaltungswillen zu transformieren. Eine achtsame Haltung ermöglicht die Distanz zu alten Auto-Pilot-Reflexen und eine Distanz zu Mechanismen, die aus Bedrohung und Angst entstehen.

Offensichtlich empfinden wir Abweichungen von alten Routinen und Mustern in der Selbstorganisation, neben der frohen Erwartung auf schönes Neues, sehr leicht als Bedrohung. Sobald aber interne Bedrohungs- und Angstroutinen unsere Denkmodi beherrschen, werden alte Muster bei Individuen und Kollektiven sehr mächtig und blockieren neue Wege.

Und obwohl wir eigentlich auf der rationalen, bewussten Ebene Veränderung wollen, fallen uns als Reaktionen auf bestimmte Situationen und der Gestaltung der Veränderung nur alte Lösungen ein. Oder noch präziser: Diese alten Reaktionsmuster passieren einfach.

Achtsamkeit ermöglicht die innere Distanzierung von alten Mustern – und ermöglicht so, auch unter Bedrohung, neue Handlungsmöglichkeiten. Damit ist eine gute Voraussetzung geschaffen, um neue Arbeitsformen, anderen Umgang mit Hierarchien und neues Lernen zu erleichtern.

Achtsamkeit als Nährboden für Haltungen, die agile Arbeitsformen unterstützen

Welche Haltungen erleichtern Kooperation, Erneuerung, Veränderung und Selbstverantwortung? Hier können mehrere Haltungen hervorgehoben werden. Da ist mit Sicherheit die Offenheit für Neues hervorzuheben. Achtsamkeit fördert und kultiviert den sogenannten »Anfängerblick«, die Haltung der »Präsenz« und die »nicht-wertende Betrachtung«.

Allein dieses Trio von Haltungen ist ein guter Nährboden für neue Arbeitsformen. Präsenz meint die Haltung, ganz da im Augenblick zu sein. Ergänzt durch den Anfängerblick wird die Bereitschaft erzeugt, Dinge neu und aus anderen Perspektiven zu betrachten. Unterstützt wird dieser Verarbeitungsprozess durch die »nicht-wertende Betrachtung«, die es ermöglicht, Erfahrungen nicht zu schnell in alte Denkschubladen einzuordnen und damit Neubetrachtungen zu unterbinden. Allein diese drei Haltungen sind sehr gute Voraussetzungen, um Geschäftsmodelle, eigene Rollen, Formen der Zusammenarbeit mit positiven emotionalen Bereitschaften neu zu denken.

In diesen Zeilen beschreibe ich meine persönlichen Erfahrungen als Begleiter von agilen Prozessen und setze diese in Beziehung zu den Erkenntnissen aus der Forschung zu Achtsamkeit. In meinem nächsten Blog schreibe ich über archaische Reaktionen von Menschen in agilen Transformationen und was wir tun können, um achtsame Haltungen einzunehmen.

Herbert Bittorf
Titelbild: Sanju M Gurung on Unsplash

1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten

Mental Change? Agile Organisationen brauchen neue »Identitäten«

Betrachten wir das agile Dreieck (Methoden, Struktur, Kultur), dann bleibt der Aspekt kulturelle Veränderung einer der schwierigsten – was weder neu noch überraschend ist. Was wir Kultur nennen ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren, die sich über ein kausales Denken nicht erfassen lassen und so von den üblichen Methoden des Change Managements kaum zu beeinflussen sind. Kultur ist kein Ding, welches man verändert, es ist etwas, was wir leben, was wir durch uns selbst und das Zusammenspiel mit anderen zum Leben bringen.

Blickt man auf das Bild des Menschen, des Mitarbeitenden, das wir den agilen Arbeitsmethoden, dem Arbeiten und Leben in agilen Organisationen zu Grunde legen, dann ist es in der Regel ein Konstrukt über junge Menschen der Generation Y oder Z. Agile, demokratischere, Hierarchie reduzierte, selbstorganisierte Strukturen haben, wen sie gelingen sollen, viel mit den Lebenskonzepten von Individuen zu tun. Und es ist nicht verwunderlich, wenn man konstatieren muss: Diese »Identitäten« sind in Unternehmen heute selten. Man kann Identitäten nicht einfach austauschen oder eine neue Identität annehmen und doch erwarten wir von Mitarbeitenden genau dies zu tun. Und damit erleben wir, dass die so zukunftsweisenden Modelle der »neuen« Arbeit oft an den Menschen, die heute die Leistung in den Unternehmen erbringen, vorbeisehen.

Wir stehen vor der Herausforderung neue Identitäten für die modernen Organisationen zu entwickeln – eine Aufgabe, die nicht nur Unternehmen leisten können, sondern eine, die die sozialen Identitätskonstruktionen unserer Gesellschaft betreffen.

Identität ist eher ein kontinuierlicher Prozess, indem Menschen ihr Leben verstehen und gestalten – in psychologischer, sozialer, politischer und philosophischer Dimension. Das Verständnis von Arbeit und die Bedeutung von Arbeit für die Identitätsbildung ist dabei ein zentraler Aspekt, der alle Dimensionen durchzieht. Genau in diesen Prozess müssen wir eingreifen. Und das heißt, wir müssen uns auch um die Bedeutung von Status, von Aufstieg, von Lebenssinn, die durch die Arbeit in einer akzeptierten Struktur vermittelt wird, kümmern. Auch da wo Mitarbeitende heute Hierarchie abbauen wollen, der Gedanke einer lateralen Karriere passt nicht in ihre Identitätsbildung, da hängen sie an der Aussicht von hierarchischem Aufstieg und Statusgewinn.

Da Identität ein Prozess ist, eine Verhandlung zwischen Akteuren und von Akteuren mit Strukturen, lässt sich an einem für die neuen Organisationsformen passenden Identitätsprozess arbeiten – hier aber fällt die Grenze von Arbeitsidentität und gesellschaftlicher Identität – die Bedingungen hierfür sehe ich derzeit nur in den urbanen Lebensumständen.

Und es ist ein Prozess, was heißt, er durchläuft verschiedene Stadien. Sie umfassen Momente der Konfusion, des wertenden Vergleichs mit anderen, einer Toleranz für die neuen Formen des sich Ausprobierens, eine Akzeptanz der neuen Identitätsstufe, eine Entwicklung von Stolz und schließlich die Integration der »Arbeitsidentität« in das ganze Spektrum der personalen Identität. Es ist sinnvoll dies als eine Reise zu beschreiben, die dann leichter wird, wenn sie mit Partnern gemeinsam unternommen wird. Und es ist wohl notwendig, dass diese Prozesse begleitet werden. Dafür stehen neben dem individuellen Coaching vor allem Supervisionskonzepte für Gruppen zur Verfügung. Und sucht man nach einem Einstieg in diesen Prozess, dann ist es aussichtsreich auf das Thema Diversity und Inklusion zu schauen – eine Auseinandersetzung mit diesen Aspekten öffnet Menschen und lässt Offenheit auch für den eigenen Prozess der Identitätsbildung entstehen. Gleichwohl sollte man nicht überschätzen, was Unternehmen hier leisten können, die gesellschaftlichen Bedingungen und Wertungen sind hier dominant. Daher wird man wohl auch Menschen suchen müssen, die bereits auf dem Weg sind, eine andere Arbeitsidentität zu leben.

Rüdiger Müngersdorff