Blogreihe: Agile Transformation braucht Achtsamkeit (1)
Zunehmend erlebe ich eine große Bereitschaft und Offenheit bei Bereichen und Teams, sich auf agile Workframes einzulassen. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Tatsächlich wird dann jedoch im gemeinsamen Arbeiten erkennbar, dass dieses bewusste Einlassen begleitet wird von einer ebenso großen Kampfbereitschaft, wertvolle Errungenschaften, geschätzte Prozesse und hart erarbeitete Rollen aus der Vergangenheit zu verteidigen.
Diese gegenläufigen Tendenzen, die wir ja auch als Individuen alle in uns haben, werden auch hier in unterschiedlichen Gruppendynamiken auf dem Weg zu neuen Arbeitsformen deutlich. Vorfreude auf Neues – und die Angst vor dem Ungewissen, verbunden mit allen Gefahren für eigene Rollen, Anerkennung, Status und eigene Leistungsmöglichkeiten. Wir könnten diesen Modus Überlebenskampf-Modus nennen.
Werden die damit verbundenen Prozesse auf individueller Ebene bei vielen Akteuren dominant, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die daraus resultierenden Haltungen und Handlungsvarianten starke Auswirkungen auf gruppendynamische Prozesse im Transformationsgeschehen haben. Insbesondere, wenn Drehpunktfiguren, häufig auch Führungskräfte im Überlebenskampf-Modus agieren.
Gegenmittel Achtsamkeit
Interessant ist dabei die Beobachtung, dass Techniken und Haltungen aus dem Feld der Achtsamkeit einen Veränderungsshift im Klima von Interaktionen unterstützen, so dass Erneuerung, Perspektivenwechsel und Vertrauen in den Vordergrund rücken – nennen wir diesen Modus Kollaborationsmodus. Wie ist das zu erklären?
Dazu müssen wir zunächst auf die Wirkmuster von Achtsamkeit auf unsere Denkmodi schauen. Ellen Langer, die originelle Forscherin von der Harvard-University, hat im Laufe ihrer Forschungsarbeiten mehrere Kennzeichen von Menschen im Achtsamkeitsmodus beschrieben. Hier die wesentlichen Merkmale:
Wenn wir uns die linke Seite anschauen erkennen wir die Denkmuster, die achtsame Akteure prägen. Und genau solche Denkmuster sind sehr hilfreich, um aus einem »Überlebenskampf-Modus« in einen »Kollaborationsmodus« zu wechseln.
Ein wesentlicher Wirkmechanismus scheint dabei zu sein, dass Achtsamkeit dem Einzelnen ermöglicht, sich von eigenen (automatischen) schnellen Bewertungen, Vorurteilen und Routinen zu distanzieren. Dazu gehören bei erprobten Akteuren im Unternehmensumfeld insbesondere die Routinen, um sich durchzusetzen, sich zu verteidigen und zu gewinnen. Sobald diesen »Reflexen« nicht mehr unmittelbar gefolgt wird, entsteht Raum in der Kooperation, neue Gedanken und Ideen gemeinsam zu verfolgen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.
Was kann Achtsamkeit als Selbststeuerungstool bewirken?
Achtsamkeit kann eine mentale Plattform sein, die Energien aus dem Modus der Kampfbereitschaft und Verteidigung in einen Modus der Fokussierung, Entschlossenheit, und gemeinsamen Gestaltungswillen zu transformieren. Eine achtsame Haltung ermöglicht die Distanz zu alten Auto-Pilot-Reflexen und eine Distanz zu Mechanismen, die aus Bedrohung und Angst entstehen.
Offensichtlich empfinden wir Abweichungen von alten Routinen und Mustern in der Selbstorganisation, neben der frohen Erwartung auf schönes Neues, sehr leicht als Bedrohung. Sobald aber interne Bedrohungs- und Angstroutinen unsere Denkmodi beherrschen, werden alte Muster bei Individuen und Kollektiven sehr mächtig und blockieren neue Wege.
Und obwohl wir eigentlich auf der rationalen, bewussten Ebene Veränderung wollen, fallen uns als Reaktionen auf bestimmte Situationen und der Gestaltung der Veränderung nur alte Lösungen ein. Oder noch präziser: Diese alten Reaktionsmuster passieren einfach.
Achtsamkeit ermöglicht die innere Distanzierung von alten Mustern – und ermöglicht so, auch unter Bedrohung, neue Handlungsmöglichkeiten. Damit ist eine gute Voraussetzung geschaffen, um neue Arbeitsformen, anderen Umgang mit Hierarchien und neues Lernen zu erleichtern.
Achtsamkeit als Nährboden für Haltungen, die agile Arbeitsformen unterstützen
Welche Haltungen erleichtern Kooperation, Erneuerung, Veränderung und Selbstverantwortung? Hier können mehrere Haltungen hervorgehoben werden. Da ist mit Sicherheit die Offenheit für Neues hervorzuheben. Achtsamkeit fördert und kultiviert den sogenannten »Anfängerblick«, die Haltung der »Präsenz« und die »nicht-wertende Betrachtung«.
Allein dieses Trio von Haltungen ist ein guter Nährboden für neue Arbeitsformen. Präsenz meint die Haltung, ganz da im Augenblick zu sein. Ergänzt durch den Anfängerblick wird die Bereitschaft erzeugt, Dinge neu und aus anderen Perspektiven zu betrachten. Unterstützt wird dieser Verarbeitungsprozess durch die »nicht-wertende Betrachtung«, die es ermöglicht, Erfahrungen nicht zu schnell in alte Denkschubladen einzuordnen und damit Neubetrachtungen zu unterbinden. Allein diese drei Haltungen sind sehr gute Voraussetzungen, um Geschäftsmodelle, eigene Rollen, Formen der Zusammenarbeit mit positiven emotionalen Bereitschaften neu zu denken.
In diesen Zeilen beschreibe ich meine persönlichen Erfahrungen als Begleiter von agilen Prozessen und setze diese in Beziehung zu den Erkenntnissen aus der Forschung zu Achtsamkeit. In meinem nächsten Blog schreibe ich über archaische Reaktionen von Menschen in agilen Transformationen und was wir tun können, um achtsame Haltungen einzunehmen.
Herbert Bittorf
Titelbild: Sanju M Gurung on Unsplash
1. Achtsamkeit als mentale Plattform und Nährboden für Agilität
2. Wie Menschen in agilen Transformationsprozessen reagieren
3. Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Ebenen
4. Achtsamkeit und agiles Arbeiten
Danke für diesen Beitrag. Auf jeden Fall richtig.
Ein kleine Ergänzung: Nicht präsent sein in der Gegenwart ist nicht „fast nur in der Vergangenheit sein“, sondern auch „fast nur in der Zukunft sein“. Das trifft sich in meiner Erfahrung deutlich häufiger unter erfolgreichen Menschen.
Ja. Interessanter Aspekt. Und sich nur in der Zukunft denkend, in Form von Getriebensein, kann dauerhaft lähmend wirken.
Ich freue mich sehr über diese Anmerkung.
Für bestimmte Menschen trifft dies sicherlich genau so zu. Auch ‚fast nur in der Zukunft sein‘ hat seine Chancen und Gefahren.
Meinen Erfahrungen zufolge gibt es tatsächlich Menschen, die daraus sehr erfolgreiche Lebenswege und Karrieren stricken können.
Gleichermaßen kann jedoch der Kontakt zum direkten Erleben verloren gehen.
Hier wird uns hoffentlich sinnvolle und gezielte Forschung in den nächsten Jahren noch mehr Hinweise geben, wie Zukunftssimulationen zur Arbeits- und Lebensgestaltung nutzbringend eingesetzt werden können. Darauf freue ich mich sehr.