Die Dynamik von Gruppen ist die Grundlage jeder Arbeit mit sozialen Systemen. In Trainings und Workshops werden vielfältige Methoden eingesetzt, um diese Dynamik zu überdecken. Das funktioniert recht gut, solange die Sachthemen im Vordergrund und gemeinsamen Fokus stehen. Das ist jedoch oft nicht der Fall – das, was wir Beziehungsthemen nennen, drängt sich in den Vordergrund und behindert die Bearbeitung der so genannten sachlichen Themen. Heute wird diese Dynamik nicht nur methodisch eingeklammert, sondern sie wird mit der Gruppennorm der Positivität aus der Kommunikationsdynamik von Gruppen verbannt. Gleichzeitig jedoch wissen wir, dass gerade in der Differenz, den Unterschieden von Perspektiven, Meinungen und Haltungen, der Reichtum von Gruppen liegt und den erhält man nur, wenn man zugleich die Emotionen zulässt. Die aber werden zu oft als bedrohlich und störend empfunden, wobei sie genau das sind, was wir benötigen, soll Differenz und Diversität wirksam werden. Oft fehlt uns hier die emotionale Souveränität. Die Ausblendung und Unterdrückung der Gruppendynamik verschärft sich durch das virtuelle, digitale Arbeiten. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als würden all die Konflikte, Unterschiede, blinde Flecken verschwinden. Aber wie wir an der zunehmenden Müdigkeit virtueller Gespräche sehen können, sie werden nur versteckt. Ein weiteres Indiz für das Nichtgelingen dieses Verdrängungsvorgangs sind die Zahlen der Krankenkassen, die eine zunehmende Anzahl von psychischen Erkrankungen und Burn Out Symptomen melden.
Wir erleben oft, dass sich die Arbeit am Mindset auf das Individuum konzentriert. Es liegt das Versprechen in der Luft, sich von den Fesseln des lebensgeschichtlich erworbenen Mind Sets lösen und für sich selbst mehr Freiheitsgrade im Handeln entwickeln zu können. Wobei ja auch die Arbeit am Mindset mit jemandem stattfindet – es geschieht in einer Beziehung, in einer sozialen Situation. Diese soziale Szene ist wesentlich für die Wirksamkeit. Schaut man auf die Effektivität, dann sind oft Kleingruppencoachings besser als Zweierbeziehungen, weil wir hier in einem viel reicheren sozialen Raum, einer reicheren Szene arbeiten. Für eine erfolgreiche Arbeit an einem kollektiven Mindset ist die Arbeit mit der sozialen Szene und so mit der Gruppendynamik um so wichtiger. An gruppendynamischer Kompetenz jedoch fehlt es oft und so steckt die Mindsetarbeit, die sich auf kollektives Vorverständnis und Kulturfaktoren bezieht, noch in den Kinderschuhen.
Wir leben und arbeiten in Gruppen – wir sind immer in einer sozialen Situation. Dieses Setting gibt uns Anregungen und öffnet unser eigenes unvermeidlich beschränktes Vorverständnis. Aber es öffnet nicht nur, sondern es begrenzt auch. Die für Gruppen typische Beschränktheit wird dann auch oft Groupthink genannt. Die in der Regel unbewussten Normen und Verhaltensregeln von Gruppen definieren einen Raum, eine Szene, die individuelle Impulse und Perspektiven wirksam beschränkt. Die individuelle Vielstimmigkeit wird in den Gruppen reduziert.
Gruppen sind potentiell reich, vielstimmig, mannigfaltig und so auch leistungsfähiger und anpassungsfähiger, agiler. Dieses Potential wird jedoch nur selten wirksam. Warum? Gruppen bilden sehr schnell ein System von Normen und Vorannahmen, Werten und Erwartungen aus, die den Spielraum für individuelle Perspektiven wirksam reduzieren. Es gibt eine Not sozialer Wesen, das ist die Notwendigkeit zugehörig zu sein, ein Teil des sozialen Systems zu sein und damit die Angst, nicht dazuzugehören, ausgeschlossen zu sein. Der Anpassungsdruck ist groß und wir geben ihm oft unbewusst oder unter der Deckung von Entschuldigungsgeschichten nach. Ohne es bewusst zu wollen und zu tun, sagen und handeln wir, wie wir glauben, dass es der Norm der Gruppe entspricht.
Damit nehmen wir der Gruppe zugleich ihr größtes Potential – die Unterschiede, Differenzen, Fremd- und Andersheiten, kurz die individuellen Perspektiven. Wer Gruppen beobachtet, kann sehen, wie die stets limitierende Norm durchgesetzt wird. Der Verweis auf den Mangel an Zeit oder die heute verbreitete Forderung stets ein freundliches, akzeptierendes Yes Set zu zeigen sind darunter die einfachsten Methoden.
In der Zugehörigkeit zu Gruppen und Organisationen bleibt das kollektive Mindset, die Organisationsentwicklung- oder Gruppenkultur nicht ohne Wirkung auf das individuelle – es treten Verstärkungen auf, auch Abschwächungen, Verschiebungen. Das kollektive hat oft die größere Durchsetzungskraft. Geht es darum in die Vorannahmen, die Glaubenssätze eines Individuums Bewegung zu bringen, dann müssen wir zwingend auch mit der sozialen Szene arbeiten, in der der Mensch lebt und arbeitet. Das Handeln des Einzelnen ist im hohen Maße von der Szene bestimmt, in die wir gesetzt sind oder wir uns gesetzt haben. Gruppen geben uns eine Szene und zugleich ein Skript, wie diese Szene gespielt werden soll. Wir suchen uns in dieser Dramaturgie die Nischen, die Rollen von denen wir denken, dass sie uns am ehesten einen guten Platz in der Gemeinschaft dieser Gruppe, dieser sozialen Organisation zu geben vermag. Dabei lassen wir unseren persönlichen Reichtum, oft ohne es zu merken, außen vor und nehmen der Gruppe zugleich ihr größtes Potential: die Differenz, die individuelle Perspektive.
Wir alle haben ein individuelles Vorverständnis, mit dem wir der Welt begegnen und das jeweils unser eigenes ist, und insofern wir immer Teil eines sozialen Systems sind, ein kollektives Vorverständnis, das wir mit anderen, unserer Gruppe teilen. Dabei ist das kollektive Mindset (Vorverständnis) oft dominant. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und zugleich die Furcht und die Scham vor einer Ablehnung führen in die Anpassung. Dass wir dafür einen Preis zahlen, wird uns oft erst am Abend, im Alleinsein bewusst. (Daher ist es auch weiterhin wichtig, in Workshops zumindest einen Abend und eine Nacht zu planen, hier entstehen Impulse, die Bewegung auslösen können. Die stetige Verkürzung von Treffen, Trainings und Workshops sorgt mit dafür, die kollektive Norm durchzusetzen und damit Differenz auszuschließen.)
Kollektives und individuelles Mindset sind verschränkt. Sie bilden ein dynamisches System und haben dabei eine Tendenz hin zu einer beschränkenden Stabilität. Eine effektive Arbeit sowohl am individuellen als auch am kollektiven Mindset arbeitet an dieser Balance, öffnet Differenzen und macht so Bewegung möglich. Zunächst geht es dabei um eine Wahrnehmung der Szene, die eine Gruppe bereitstellt; dies lässt das Durchspielen von Varianten zu und sorgt damit dafür, dass Differenzen sichtbar und besprechbar werden. Schlüssel zur Veränderung ist dabei eine Öffnung des Ausdrucksraums der Gruppe, das Wahrnehmen von Rissen in den Bewertungen der Gruppe. Hier kann das Potential der Mitglieder in die Kommunikation der Gruppe eintreten und als Differenz wirksam werden. Das verlangt die Bereitschaft der Menschen, sich zu zeigen und ein Vertrauen zu entwickeln, dass alle Stimmen zählen und Unterschiede hier akzeptiert werden (Psychologische & emotionale Sicherheit). Zur Gruppendynamik gehört Vertrauen genauso wie die Bereitschaft zur Konfrontation. Wer in Organisationen für kulturelle Veränderung einsteht, der weiß, Nachhaltigkeit erzielen wir nur, wenn in einem Zugleich an beide Pole der Balance, der individuellen als auch der kollektiven, gearbeitet wird.
Ein Plädoyer für die Gruppendynamik also. Will man effektiv mit dem Konzept Mindset arbeiten, dann ist eine tiefe Vertrautheit mit der Dynamik von Gruppen, den gelebten Rollen innerhalb der Gruppen und ihre gegenseitige Einflussnahme unerlässlich.
Gruppendynamik ist mehr als ein moderiertes, geleitetes Gespräch. Es ist die Öffnung hin zum Reichtum individueller, diverser, mannigfaltiger Perspektiven.
Und zugleich der Weg immer wieder Entscheidungen treffen zu können, die der Kontingenz und Komplexität unserer heutigen Lebens- und Arbeitswelt gewachsen sind. Was dazu nötig ist beschreibt Wolfgang Hegewald: »(…) dass sich Kunst und Gesellschaft auf Differenz gründen, auf Neugier auf den Anderen und auf Sympathie für das, was ich nicht bin, auf Verwandlungslust, Takt und Distanz. Das mein Herz für meinen Kopf schlägt: eine erotische Erfahrung.«
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Rüdiger Müngersdorff
Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
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