Das Umfeld, in welchem Unternehmen erfolgreich wirtschaften müssen, verändert sich seit einigen Jahren radikal. Es wird zunehmend von VUCA – von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität – erfasst. Digitalisierung, Globalisierung und zunehmende Vernetzung generieren eine exponentiell steigende Komplexität, die mit den herkömmlichen Ansätzen von Führung und Zusammenarbeit nicht mehr beherrschbar ist. Damit verändern sich die Grundregeln von Wertstiftung und Wertschöpfung fundamental.
Gleichzeitig sehen sich Unternehmen mit einem zunehmenden Fachkräftemangel in einen War for Talent geworfen. Arbeitgeberattraktivität und Mitarbeiterbindung werden in verschärfter Weise zu zentralen Wettbewerbsvorteilen. Junge Menschen der viel zitierten Generationen Y und Z stellen dabei gesteigerte Erwartungen an ihre Arbeitgeber. Vor dem Hintergrund einer generellen gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Autonomiebestreben und Individualismus möchten sie sich lebenslang lernend unter optimalen Arbeitsbedingungen intrinsisch motiviert als sinnstiftend erleben, ohne von Autoritäten dominiert zu werden.
Somit werden die Antworten auf die beiden folgenden Fragen für Unternehmen zu zentralen Erfolgsfaktoren: Wie gestaltet sich Wertschöpfung, in der unter komplexesten Bedingungen Aufgaben sinnvoll verteilt und effizient bearbeitet werden können? Und wie lässt sich im Unternehmen der Faktor Mensch stärken und sinnstiftend das Potenzial intrinsischer Motivation heben?
Führung spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. In neuer Form kann sie die Basis legen, um die oben genannte doppelte Wertstiftung möglich zu machen. Die Motivationsforschung hat Sinnstiftung, Autonomie und das Gefühl, besser zu werden, als zentrale Faktoren intrinsischer Motivation identifiziert (siehe z.B. Dan Pink). Die selben Faktoren erlauben es geleichzeitig, Komplexität beherrschbar zu machen. Die Gestaltung eines Umfelds, in welchem diese drei Faktoren sowohl für den Menschen als auch für den Unternehmenserfolg maximal wirken können, ist damit zentraler Bestandteil agiler Führung.
Durch Purpose und Rahmensetzung in der Unübersichtlichkeit orientieren
Wo in der VUCA-Situation die Komplexität der Stakeholderinteressen und der Auftragslage Eindeutigkeit zunichte machen und Mitarbeitende jeden Tag vor einer neuen Situation stehen, verlieren eindeutige, feste Ziele sowie die Einhaltung von Regeln und Prozessen an Wirkkraft. Anstelle eines fixen Fernziels, das hierarchisch »nach unten« kaskadiert wird, spannt agile Führung ein offeneres Zielfeld auf, dem man sich iterativ annähert und das sich erst Schritt für Schritt konkretisiert. Unter Nutzung der aktuell günstigsten Faktoren wird kurzfristig fokussiert ein Nahziel angesteuert, das mit einer präzisen Taktik erfüllt wird. Zentrale Bedeutung für die Orientierung der Mitarbeitenden erlangt dabei Purpose: Dieser »Sinn-Zweck« wird als richtungsweisende, sinnstiftende Vision klar und stabil gesetzt, ohne den Freiraum zu beschneiden, wie er erlangt werden kann. Da er nicht nur Wert, sondern auch Sinn stiftet, wirkt der Purpose nicht nur richtungsweisend, sondern motiviert Mitarbeitende intrinsisch und erlaubt starke Identifikation. An die Stelle von engen Regeln und starren Prozessen setzt agile Führung Frameworks und arbeitet mit Prinzipien. Rahmenwerke stecken dabei einen Freiraum ab, innerhalb dessen von den Mitarbeitenden autonom Sinn gestiftet und Wert geschöpft werden können. Prinzipien definieren einen klaren Spielraum für Verhalten, in dem jedoch ebenfalls auf die jeweilige individuelle Situation reagiert werden kann.
Selbstorganisation ermöglichen, um Komplexität zu beherrschen
Dem Ashbyschen Gesetz folgend kann man sagen: Je komplexer das Umfeld ist, desto komplexer muss die Steuerung gestaltet sein, um das Umfeld beherrschen zu können. In der VUCA-Situation wird das klassische Modell einer Hierarchie, deren oberste Führungsperson alle Entscheidungen trifft, problematisch. Der Fachexperte an der Spitze wird zum Flaschenhals; und das hierarchische Modell ist »zu einfach gestrickt« für die Komplexität der Situation. Zentrale Aufgabe agiler Führung ist es daher, selbstorganisierte Teams aufzubauen, die in autonomer Ausgestaltung eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können. In selbstorganisierten Teams erhöht sich die Varianz der Modalitäten von (temporärer) Führung, Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung enorm, womit gesteigerte Komplexitätsbeherrschung möglich wird. Gleichzeitig wirkt die Autonomie der Selbstorganisation intrinsisch motivierend. Es obliegt dabei der agilen Führungskraft, selbstorganisierte Team zu ermächtigen, zu befähigen und in Selbstverantwortung zu halten.
Ein kontinuierlich lernendes System schaffen
In einfachen und überschaubaren Umfeldern ist es bewährt, zuerst die Situation zu analysieren um anschließend auf Basis der Einschätzung in ein sinnvolles Handeln zu gehen. In der VUCA-Situation verliert dieses Vorgehen seine Wirkkraft, da Komplexität und Dynamik die Halbwertzeit von Analysen radikal verkürzen. Hier hat sich folgendes Vorgehen bewährt: Zuerst handeln und damit eine empirische Basis der Erfahrung schaffen, dann kurzzyklisch auswerten, welches Handeln sich bewährt (und welches nicht) und schließlich kontinuierlich lernend Handlungseffizienz und Wertstiftung optimieren. Selbst lernen und andere weiter bringen wird hierbei zum zentralen Erfolgsfaktor und Grundmotivator. Die Implementierung regelmäßiger Reviews (bezogen auf das Produkt/Konzept), Retrospektiven (bezogen auf die Art der Zusammenarbeit) sowie eine dauernde Identifikation von Hürden (Impediments) und klares (Leistungs- und Beziehungs-)Feedback sind zentrale Werkzeuge agiler Führung. All dies ist nicht möglich, ohne die Etablierung einer Lernkultur, in der jeder Fehler als wertvolle Lernchance angesehen und genutzt wird. Fail fast wird zu einem zentralen Leitspruch agiler Führungsarbeit.
Cultivating Leadership
In der klassisch-hierarchischen Organisation wird die Führungskraft als direkt gestaltender Treiber des Erfolgs gesehen, der seinen Führungsbereich maschinengleich optimal konfiguriert, einstellt, steuert und geschmiert hält. Die Leitmetapher für die agile Führungskraft dürfte im Gegensatz dazu der Gärtner sein, der ein lebendiges Ökosystem am Wachsen und Gedeihen hält. Agile Führung gestaltet das Umfeld, etabliert Rahmenbedingungen, schafft Hürden aus dem Weg, unterstützt den Eigenantrieb, fördert Synergien… und agiert damit vor allem indirekt. Sie ermächtigt und verpflichtet zur Selbstverantwortung, ohne die Mitarbeitenden allein zu lassen. Sie sorgt dafür, dass Mitarbeitende in Selbstsorge adäquat mit Belastung, Konflikt und Spannung umgehen können. Sie verhilft zur Selbsthilfe. In diesem Sinne ist agile Führung immer auch Kultur- und Entwicklungsarbeit.
Agile Transformationsarbeit
Was in den oben stehenden Absätzen für die agile Führung von Teams gilt, hat gleichermaßen Relevanz für die Führung ganzer Organisationen. Statt Organisationen mit einem eng gefassten und langfristigen Zielbild durch hierarchisch gesteuertes Change Management von A nach B zu verändern, hält agile Führung das eigene Unternehmen unter dem Leitstern eines klaren Purpose als lernende Organisation in dauernder Transformation. Wo früher strategische Themen in einem Top-Down Deployment ins Unternehmen getrieben wurden, lässt agile Führung sie in der VUCA-Situation idealiter aus der selbstorganisierten Kraft aller Mitarbeitenden emergieren; Geschäftsfelder werden co-kreativ geboren, im Kleinen getestet, dann iterativ weiterentwickelt und bei Erfolg sukzessive ins Große skaliert. Wie auch in der klassischen Organisation kommt der agile Führungskraft hierbei eine Vorbildfunktion zu: Wer agile Werte wie Commitment, Offenheit, Fokus, Mut und Respekt ins Unternehmen bringen möchte, muss sie zuallererst in die eigene Führungsarbeit integrieren und in seinem Verhalten lebendig machen.
Johannes Ries
Foto: Hanna Göhler
Nachbemerkung: Dieser Text entstand als erster Entwurf im Rahmen einer laufenden co-kreativen Initiative zum Thema Agile Leadership der Robert Bosch GmbH und der SYNNECTA. Über die Ergebnisse der Initiative werden wir in diesem Blog weiter berichten. Der Autor dankt den Mitgliedern des Co-Creation Teams Michael Knuth, Jörg Jockel, Dennis Heine und Martin Hurich sowie Christian Fust für die wertvollen Anregungen.