Der klügste Krieger ist der,
der niemals kämpfen muss.
(Sun Tzu)

In der Begleitung internationaler Projekt- oder Teamarbeit erleben wir oft ein europäisches Bild von China, das den asiatischen Projektpartner in eher dunklen Tönen koloriert: Chinesen sind darin unberechenbar, unpräzise, wendehälsisch, ausweichend, aktionistisch … alles andere als zuverlässige Projektpartner, mit denen man eine stabile Zusammenarbeit aufbauen kann. Wie so oft mag es sich hier um Vorurteile handeln, die bei genauerem Hinsehen ein Körnchen Wahrheit in sich tragen. Fakten die – wertfrei betrachtet – auf ein anderes (und nicht notwendigerweise falsches) Verhalten hindeuten. Ich möchte in diesem Beitrag der Hypothese nachspüren, dass Chinesen Projekte und ihr gesamtes Unternehmensgeschäft tatsächlich strategisch anders angehen … und dass hinter ihrer »Unzuverlässigkeit« ein erfolgreicheres strategisches VUCA-Handling steckt.

Dazu möchte ich in dem Feld beginnen, aus welchem auch das Wort »Strategie« selbst stammt: der Kriegsführung. Der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien spürt seit langem den Unterschieden zwischen europäischer und asiatischer Philosophien und Weltbilder nach. Für die Unternehmenswelt höchst interessant ist sein Vergleich der beiden Kriegsstrategen Carl von Clausewitz und Sun Tzu. Während der preußische Militärtheoretiker seinen Klassiker Vom Kriege in den 1830er Jahren veröffentlichte, erörterte Sun Tzu bereits um 500 v. Chr. in Die Kunst des Krieges die Erfolgsfaktoren einer guten Heeresführung. Worin liegen aber die Unterschiede des europäischen und des chinesischen Kriegsstrategen?

Für Clausewitz braucht ein erfolgreicher Heerführer einen guten Plan, der als ideale Grundlage die einzelnen Schritte hin zum Ziel und Ergebnis von Anfang an definiert. In einer Kette von Einzelschritten führt in diesem Modell gemäß der Logik von Mittel und Zweck eins zum anderen, um am Ende den Sieg zu erreichen. Dabei ist sich Clausewitz bewusst, dass die Realität den Plan durchkreuzt und zu geringfügigen Abweichungen führen kann. Sie stellt jedoch den Plan an sich niemals in Frage. Ja sogar: Je widriger die Umstände und je heldenhafter und mutiger die Einhaltung des Plans, desto größer das Überraschungsmoment gegenüber dem Feind und damit desto wirksamer der Plan. In der strategischen Planung steht das Handeln des Einzelnen mit Fokus auf den kürzesten Weg zwischen Mittel und Zweck im Fokus – das aktiv tätige Subjekt hält mit aller Kraft am Plan fest und hat damit die besten Chancen, ein erfolgreicher Kriegsheld zu werden.

Über 2.300 Jahre vor Clausewitz formuliert Sun Tzu ein anderes strategisches Erfolgskonzept. Es geht bei ihm darum, in jedem Moment die aktuelle Konstellation zum Wohle und Vorteil aller zu nutzen. Ausgangspunkt seines Denkens ist damit nicht das zukünftige Ziel, sondern die aktuelle Situation mit ihrem Potenzial. Strategisch denken heißt für Sun Tzu, die günstigen Faktoren des Jetzt ausmachen und von ihnen zu profitieren. Einen idealen Plan gibt es nicht, genau so wenig wie ein Denken in Zweckrationalität. Sun Tzus strategischer Führer lässt ein Umfeld von für ihn günstigen Faktoren heranwachsen, das ihm am Ende den Sieg bringt. Das Ideal: Beim Zusammentreffen mit dem Feind ist die Situation der Begegnung so gut vorbereitet, dass der Feind an sich selbst scheitert bzw. »bereits geschlagen ist«. Sun Tzu lobt damit den leichten Sieg, der unsichtbar erreicht wurde. Dazu muss der Feldherr den Prozess laufen lassen, ohne ihn loszulassen; er muss diskret sekundieren und sich der Neigung anpassen, nach Laozi »dem helfen, was von allein kommt«. Er versteht sich als Wandler der Situation im Hintergrund und nicht als aktiv Handelnder.

Strategielandkarten, Zielkaskade, Meilensteine, Jahreszielvereinbarungsgespräche, Maßnahmenkataloge, KPI-Cockpits … die strategische Realität europäischer Unternehmen klingt im Moment eher nach Clausewitz als nach Sun Tzu. Die Gegenüberstellung der beiden erklärt aus meiner Perspektive das kulturelle Missverständnis chinesischer Projektarbeit durch Europa. Es ist nicht die Unfähigkeit der chinesischen Partner, die sie unzuverlässig macht; es ist der fundamental unterschiedliche Ansatz, der die beiden Partner nicht passfähig macht. Europa tut gut daran, die eigene (wie es Rüdiger Müngersdorff vor kurzem schön beschrieben hat), immer noch sehr kolonialistisch getönte Brille abzusetzen, die Vorurteile kritisch zu hinterfragen und gemeinsam mit China auf Augenhöhe auf die Situation zu blicken.

Ich möchte jedoch – entsprechend der eingangs genannten Hypothese – noch weiter gehen: Vielleicht täte Europa gut daran, die chinesische Brille aufzusetzen, um in der VUCA-Welt bessere Strategiearbeit leisten zu können? In seinem erst vor einigen Monaten erschienenen Buch Light Footprint Management skizziert Charles-Edouard Bouée die strategischen Erfolgsfaktoren der heutigen Unternehmerwelt. Auch ihm zufolge liegt einer der Schlüssel in China.

Eine erfolgreiche Strategie in VUCA-Zeiten hat nach Bouée das gesamte Umfeld im Blick und ist hoch adaptiv bezüglich der Fluidität der Umgebung. Sie arbeitet nicht mehr mit einer präzise ausformulierten Zielvision, die detailverliebt bis auf Maßnahmenebene herunterkaskadiert wird. Vielmehr formuliert eine intelligente Strategie eine fuzzyvision, die zwar nicht beliebig ist, jedoch genügend Spielraum für Anpassungsmanöver lässt. Präzise beschrieben und schnell ausgeführt hingegen müssen die Taktiken sein, die im richtigen Moment platziert werden. Schnelle Aktion und geduldiges Warten (während dessen man jedoch stets hoch aufmerksam einsatzbereit bleibt) wechseln sich ab. Nicht der Meilenstein definiert den richtigen Zeitpunkt, sondern die günstige Gelegenheit. Das pragmatische Experiment, dessen (Miss-)Erfolgsfaktoren schnell ausgewertet und für die nächsten Aktionen »eingerechnet« werden, steht über der idealistischen Planerfüllungsutopie … Damit wird deutlich, wie viel aktuell hilfreiche unternehmerische Weisheit in Sun Tzus Jahrtausende altem Strategieansatz liegt.

Die SYNNECTA arbeitet bereits in verschiedenen Projekten mit Kunden, die zukunftsinteressiert offen für neue Wege sind, an der Implementierung von Unternehmensstrategien, die auf ein besseres VUCA-Handling abzielen. Das heißt nicht, dass hier alle »alte« Strategie über Bord geworfen wird; es heißt jedoch, dass – je nach Branche, Unternehmensziel und Organisationskultur ganz unterschiedlich – mehr Leichtigkeit, Agilität und Chancenorientierung zur Grundlage der Unternehmensausrichtung gemacht werden.

Johannes Ries
Foto: By vlasta2, bluefootedbooby on flickr.com [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons