»Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.« Gottlieb Daimler (1834-1900)

Bertha Benz kann es kaum fassen. Sie ist die erste Frau auf der ganzen Welt, die jemals einen Wagen ohne Pferde in Bewegung gesetzt hat.

Ein Traum, der zur Wirklichkeit wurde und länger dauerte als die Nacht: Es dauert nicht lange, da haben Carl und Bertha ihre Begeisterung für den Fortbewegungswagen ohne Pferde entdeckt. Sie sind sich einig, ein regelrechtes Wunderwerk der Technik könnte dieser Wagen werden, die Möglichkeiten jeder Lokomotive bei weitem übertreffen.

Wir tauchen ein in das neunzehnte Jahrhundert, in ambiges Leben, in verunsichernde Umbrüche und mühsame VUCA-Lebensbedingungen. Die Geschichte nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise in soziale Systeme, die umgeben sind von patriarchalen Strukturen und tradierten Geschlechterrollen, von ständiger Erneuerung, absurden Möglichkeiten und realen Unmöglichkeiten. Von Pferdegespann und rückwärts fahrenden Wagen auf Straßen mit Verkehrsregeln. Von Liebe und Ehepflichten zwischen der jungen Bertha aus gutbürgerlichen Hause und dem nahezu mittellosem Carl. Die Reise durch das Leben der Eheleute Benz beschreibt das Scheitern, Verlieren, und zahllose Versuche, eine Maschine zu entwickeln, die von der Öffentlichkeit als Fuhrwerk des Teufels gehalten wird. Und davon, aus solchem Widerstand trotzdem Mut zu schöpfen und mit ungestümen Drang weiterzumachen.

Die Möglichkeit, mit einem Lenkrad die Fahrtrichtung selbst bestimmen und verändern zu können, die damit verbundene Freiheit – diese Vorstellung zieht Bertha magisch an. Weg von der Enge ihrer Heimatstadt, hin zu Wagnis und Risiko, so beschreibt Angela Elis die Neugier Berthas auf das Leben.

Technik, Industrialisierung, Innovation, Mobilität, Geschwindigkeit: Die vucarisierten Zustände damaliger Gesellschaft haben weiterhin die selben Bedeutungen und Auswirkungen, bloß heutzutage noch unberechenbarer für den Einzelnen. Andererseits, wie sich Beschleunigung anfühlt, ist Sache der Erfahrung und damit relativ.

Während der Mensch über lange Jahrhunderte hinweg bereit und in der Lage war, sich dem Rhythmus der Jahreszeiten anzupassen, und nichts dagegen sprach, sich dem Tempo der Natur zu überlassen, ist mit dem Beginn des Maschinenzeitalters und mit der Erfindung des künstlichen Lichts eine unnatürliche Hast in Mode gekommen. Ein Trieb, sich einem künstlichen Takt zu unterwerfen. Nun bestimmen Lichtschalter darüber, ob es Zeit zum Schlafen oder Zeit zum Wachen ist, und Fahrpläne dirigieren den Menschen.

All das ist für uns mittlerweile normal und bedeutet keine Umbrüche mehr. Obwohl sich die Zeiten geändert haben, die Effekte für die Menschen bleiben die selben. Unterscheiden sich die Fragen? Früher: Ab welcher Geschwindigkeit platzt der Mensch. Heute: Wo fängt Burnout an, im Innen oder im Außen. Sind nicht beide Fragen Ausdruck einer grotesken Situation, in die der Mensch sich begibt?

Die Romanbiographie von Elis soll wohl kaum ein kritisch-aufklärerischer Diskurs zu genderpolitischen Fragen sein. Die Autorin hält es schlicht und kommentiert Geschlechterrollen anhand der Skizze konkreter biografischer Ereignisse von Bertha Benz. Welch erbarmungslose Dominanz steckt in »leider wieder nur ein Mädchen«, der tintengeschriebene Satz, den ihr Vater hinter ihrem Namen und Geburtsdatum in einer Familienbibel notierte.

Früher, da erlebten alle Menschen im Winter kurze Tage, während man im Sommer kurze Nächste hatte. Das war zwar auch ein Korsett, aber das heutige ist sichtlich enger, es geht doch jetzt oft um Minuten, sogar Sekunden. Vom Augenblick an, als die Damen ihre Korsetts abgelegt haben, schnürt das exakte Messen und Ausnutzen der Zeit den Menschen den Atem ab.

Weder die Sprache noch der brave Erzählstil machen dieses Buch lesenswert. Es ist die Kraft Bertha Benz‘, ihre Willenstärke, ihr Beitrag zur Entwicklung des Automobils in finanzieller, emotionaler, unternehmerischer Form, ihr Drang zur Unabhängigkeit, mit der sie Emanzipation gestaltet hat und Wandel von Geschlechterrollen bewirkt hat.

Was lernen wir von historischen Figuren wie Bertha Benz für unser eigenes Leben und Handeln? Welche Kraft und Wirkung hat sie auf uns, wieviel von ihr steckt in Dir?

Angela Elis: Mein Traum ist länger als die Nacht:
Wie Bertha Benz ihren Mann zu Weltruhm fuhr

Hoffmann & Campe 2010 | 352 Seiten

Hanna Göhler