Wichtig ist, dass man um dich herum freundlich redet. Dann geht vieles.

Altern ist ein Thema, das in der Literatur bisher noch lange nicht ausreichend beschrieben ist, besonders wenn man bedenkt, dass es, zumindest in den westlichen Gesellschaften, in Zukunft sehr viel mehr alte als junge Menschen geben wird. Mit »Der alte König in seinem Exil« hat Arno Geiger jetzt ein Werk vorgelegt, das diesem schwierigen Thema mehr als gerecht wird. Es handelt sich dabei nicht um einen Roman: Geiger erzählt, wie sein eigener Vater an Alzheimer erkrankt ist. Zuerst erkennen die Angehörigen die Anzeichen nicht und reagieren mit Ungeduld und Wut, wenn der Vater sich scheinbar unvernünftig und unlogisch verhält:

Während wir Kinder die Zeichen missdeuteten, muss das Gefühl, mit dem er selber die Veränderungen an sich wahrnahm, qualvoll gewesen sein, die bohrende Angst, dass etwas Feindliches sich seiner bemächtigte, gegen das er sich nicht wehren konnte. Dazu geäußert hat er sich nie, das verhinderte seine Verschlossenheit, seine Unfähigkeit, Gefühle mitzuteilen. Das lag nicht in seinem Charakter, er hatte es nie getan, und jetzt war es zu spät, damit anzufangen.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Vater kurz vor Ausbruch der Krankheit von seiner fünfzehn Jahre jüngeren Frau verlassen wurde. Während die Krankheit fortschreitet, bemüht sich Geiger, noch so viel wie möglich über seinen Vater herauszufinden, bevor er ihm ganz entgleitet. Im Verlauf der Krankheit bildet sich zwischen dem Erzähler und seinem Vater eine neue Art von Freundschaft, durch die Geiger der Krankheit auch etwas Positives abgewinnen kann.

Sein Vater und er hatten sich längst voneinander entfremdet, einerseits weil sie aus völlig verschiedenen Generationen kommen – der Vater hatte noch den Krieg erlebt und strebte Zeit seines Lebens nach Sicherheit und Geborgenheit – und andererseits durch ganz gewöhnliche Generationenkonflikte und Familienstreitigkeiten. Durch die Krankheit finden der Erzähler und sein Vater auf einer anderen Ebene wieder zusammen, während der Erzähler lernt, dass die Welt der Demenz nach eigenen Regeln funktioniert.

Anstatt auf den Fakten der Wirklichkeit zu beharren, passt er sich in der Kommunikation mit dem Vater dessen Lebenswelt an, weil es wichtiger ist, dem Vater ein gutes Gefühl zu geben als den Maßstäben der Normalität treu zu bleiben. Der Vater will zum Beispiel immer nach Hause, obwohl er bereits zu Hause ist, was er aber nicht mehr erkennt. Zum einen ist das Teil des Krankheitsbilds, zum anderen wollte der Vater aufgrund seiner Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft nie gerne von zu Hause weg, nicht einmal in den Urlaub.

Nach einiger Zeit versucht der Erzähler nicht mehr, seinem Vater zu erklären oder zu beweisen, dass er bereits in seinem Zuhause ist, sondern verspricht ihm, dass sie sich gleich auf den Weg nach Hause machen, bis der Vater darüber ruhig wird und den Wunsch vergisst. Eine andere Art von Verständnis stellt sich ein: Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles.

Geiger entdeckt in den Äußerungen und Wortneuschöpfungen seines Vaters, die der alltäglichen Logik enthoben sind, eine besondere Poetik und Kreativität. Sogar dem Altersheim kann er eine positive Seite abgewinnen: Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind. Oder: Ein Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas Befreiendes. Geiger lässt aber auch andere Angehörige zu Wort kommen, die mit der Situation nicht so gut zurecht kommen, und schildert auch unschöne Erlebnisse, zum Beispiel Ausbrüche von Gewalttätigkeit.

Geiger erzählt auf eine sehr zurückhaltende Art, die gerade dadurch umso berührender und verstörender wirkt. Man spürt ein unterdrücktes Entsetzen vor den Schrecken dieser Krankheit, eine gewisse Hilflosigkeit und den Versuch, das Unausweichliche tapfer zu akzeptieren. Faszinierend sind auch Geigers Beobachtungen, wie sein Vater seine Persönlichkeit bewahrt, obwohl er vieles aus seinem Leben vergisst und seine Angehörigen teilweise nicht mehr erkennt, und wie eine neue Schönheit und Würde in seinem Leben entsteht.

Er schließt seine Erzählung über den Vater mit den Worten: Es heißt: Wer lange genug wartet, kann König werden.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Deutsch | Hanser 2011 | 192 Seiten

Sabine Anders