Gedanken und Wege zu einer neuen Arbeitssicherheitskultur

Wie gelingt der Aufbau einer »HSE-Kultur« (Health, Safety, Environment), die getragen ist von einer echten Sorge und Aufmerksamkeit der Kollegen umeinander?

Die meisten HSE-Systeme arbeiten mit extrinsischen Motivationsfaktoren und versuchen, die Mitarbeiter »von außen« zu beeinflussen. Die verwendeten Instrumente sind dabei Sicherheitsunterweisungen, Maschinen- und Anlagenabsicherungen, Verfahrensanweisungen, Beinahe-Unfall-Meldungen, Plakataktionen, Sicherheitsbegehungen etc. Alle diese Maßnahmen sind sinnvoll und verbessern natürlich grundsätzlich die Arbeitssicherheit. Implizit erzeugen diese Instrumente aber auch ein verstärktes Sicherheitsgefühl für die Mitarbeiter, sodass das immer noch vorhandene Restrisiko-Potenzial wenig wahrgenommen wird und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich kaum noch ernsthaft mit den Gefahren am Arbeitsplatz auseinandersetzen.

Für eine Arbeitssicherheitskultur 2.0 bedarf es eines Systems, das fähig ist, sich »von innen« selbst zu regulieren. Das heißt, dass es nicht mehr nur die Aufgabe der Führungskräfte (aber natürlich auch weiterhin noch) ist, auf die Einhaltung von Arbeitssicherheitsregeln zu achten, bzw. Gefahrenstellen aufzuspüren, sondern, dass sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so selbstverständlich und kontinuierlich mit diesem Thema befassen wie mit der persönlichen Hygiene. Arbeitssicherheit so regelmäßig und zuverlässig wie Zähneputzen.

Der Weg zu einer solchen Kultur geht über eine Erhöhung der Eigenverantwortung der Mitarbeiter und eine höhere Selbstverständlichkeit des Themas.

Unter Eigenverantwortung versteht man die Verpflichtung des Einzelnen, für die Folgen seines Handelns selbst einzustehen (Verantwortungsethik). Grundlage dieser Auffassung ist die persönliche Freiheit und die Überzeugung, dass der vernunftbegabte Mensch zur Mündigkeit (Selbständigkeit im Denken und Handeln) fähig ist und angeleitet werden soll. Eigenverantwortung zu übernehmen, erfordert eine grundsätzliche Bereitschaft, sich Situationen und Aufgaben zu stellen. Dies ist einfacher, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Spaß und Interesse an der ihnen gestellten Aufgabe haben. Das bedeutet, dass es sinnstiftende Maßnahmen zur Arbeitssicherheit braucht und nicht nur Warnungen, Appelle und Schockbilder. Wir brauchen eine Sicherheitskultur, in der die alltäglichen, gerade stattfindenden Bemühungen der Mitarbeiter gewürdigt werden, und zwar mit bedingungsloser Anerkennung und nicht mit dem üblichen »gut gemacht, aber …«. Wir müssen Mitarbeiter stärken und gerade bei diesem Thema auch kleine Erfolge und Verbesserungen besonders beachten.

Die häufigsten Unfälle passieren nicht Neulingen am Arbeitsplatz, sondern erfahrenen Arbeitnehmern in Phasen von eingeschliffenen Routinen, wenn die Konzentration für den Arbeitsprozess nachlässt, bzw. sich Prozessabweichungen einschleichen. Diese Veränderungen werden von weniger erfahrenen Kollegen häufig erkannt, aber nicht rückgemeldet (mit dem Bewusstsein: der Kollege ist ja erfahren, souverän im Handeln, der weiß genau, was er tut – was soll ich mir anmaßen, ihn zu verbessern – das steht mir nicht zu).

Wir brauchen also:

  • Eine Abkehr von der Kultur des »Wegsehens«, besonders gegenüber den erfahrenen Kollegen (Expertionitis).
  • Das Öffnen einer dialogorientierten Kultur, in der »in Frage gestellt« werden darf und soll.
  • Ein Eröffnen von unterschiedlichen Perspektiven, um dem komplexen Ansatz der Arbeitssicherheit gerecht zu werden (hohe Ausbringung bei höchster Sicherheit) und sichere Alternativen zu unsicherem Verhalten zu finden.
  • Weg von extrinsischer und hin zu intrinsischer Motivation, weniger Ansteuerung/Impulse von außen, mehr wirklicher eigener Willen zu sicherem Verhalten.

Die höhere Achtsamkeit wird nicht nur die Arbeitssicherheit auf eine neue Stufe heben, sondern auch andere unternehmensrelevante Themen wie Qualität und Verbesserungsprojekte unterstützen.

Erfahrungen dazu konnten wir in mehreren Projekten mit Unternehmen sammeln, die die Liga der arbeitssichersten Unternehmen anführen. Gerade bei den Spitzenreitern sind weitere Verbesserungen nicht mit einem Kopieren von Konzepten möglich, sondern es bedarf unternehmensspezifischer Lösungen, die die relevanten Stellhebel beeinflussen.

Wilhelm Dick