Du blickst in deine Frühe wie in die blaue Kugel des Magiers, betrachtest ein abgetrenntes, umschlossenes Weltlein. Es ist nicht alles organisch, nicht alles Folge und Auffächerung, Fortschritt und Wachstum, was sich Leben nennt. Es bilden sich auch Kristalle: die sammeln und bündeln Strahlen und sind beständiger als Zeitspuren.
Botho Strauß gehört zu den erfolgreichsten und meistgespielten zeitgenössischen Dramatikern auf deutschen Bühnen. In seinem Buch »Herkunft« widmet sich der Schriftsteller erstmals seiner Kindheit und Jugend, die er im kleinen, aber geschichtsträchtigen Kurort Bad Ems verlebte. Es ist einerseits ein sehr privater Rückblick auf das Einsammeln seiner frühesten Erfahrungen, zugleich aber auch eine überaus poetische und inspirierende Schrift über den Umgang mit unseren Erinnerungen.
Die prägende Figur in der Kindheit von Botho Strauß war sein Vater, der Chemiker, Pharmazeut und Medizinpublizist Eduard Strauss, der als junger Soldat im Ersten Weltkrieg sein linkes Auge verloren hatte, später in Naumburg an der Saale als Mitinhaber einer pharmazeutischen Fabrik enteignet wurde und schließlich mit der Familie nach Bad Ems zog, wo er mit eher bescheidenem Einkommen Gutachten für die Pharmaindustrie verfasste.
Botho Strauß stellt seinen Vater in den Mittelpunkt seiner Kindheitserinnerungen. Er beschreibt ihn als einen konservativen Menschen mit misanthropischen Zügen. Auf einen geregelten Tagesablauf, mit Morgenspaziergang und Mittagsschlaf, legte er ebenso großen Wert wie auf sein Äußeres. Beispielhaft dafür die Morgentoilette des Vaters, die Botho Strauß gleich zu Beginn seines Buches detailreich schildert, mit Brisk im Haar und einer Morgenzigarette der Marke »Finas«.
An anderer Stelle beschreibt Botho Strauß in aller Ausführlichkeit die Hände des Vaters, die Hände, die ihn als Kind führten und die Richtung zeigten, mit einer höckrigen Knöchelbildung in der rechten Handinnenfläche, die ihm vererbt wurde, und einem tief ins Fleisch gezogenen Ehering; Hände, die in gewöhnlicher Weise auf die Tasten der Schreibmaschine hackten, dann aber auch ausgefächert und sanft die Klaviertasten bearbeiten konnten.
In Beschreibungen wie diesen liegt stets die besondere Magie des Wiedererkennens, das Entdecken von Gegenständen, Gesten, Stimmungen und Verhaltensmustern, die man zuvor nur als Teil der eigenen Biografie ausgemacht hat. Botho Strauß gelingt das Spiel mit dem Wiedererkennen in seinem Buch auf äußerst anspruchsvolle Weise, und nicht nur, wenn er seinen Vater porträtiert. Der mysteriöse Haarknoten der Mutter, das Hutziehen der Lehrer beim Abendspaziergang, die Comichelden »Tarzan«, »Akim« und »Sigurd«, die es bei Fräulein Wurzler im Zeitschriftenladen zu kaufen gab, der Zehnplattenwechsler-Automat Perpetuum Ebner – es ist nicht nur Botho Strauß, der in diesem Buch seine Kindheit wiederentdeckt, sondern auch der Leser, vorausgesetzt natürlich, er ist mit seinem Alter und seiner Erfahrung in der Lage, Erinnerungen zu teilen.
Der Vater von Botho Strauß hätte es sich von seinem Sohn gewünscht. Aber welch ein Unverständnis seinerseits: dass ein Halbwüchsiger, der keine Erinnerung besitzt, keinen Sinn für sie, sich in die eines alten Mannes einfühlen sollte!
Hubert Spiegel schrieb in der FAZ über »Herkunft« sehr trefflich: »Es ist ein kleines Buch, und es ist ein großes Buch, weil Botho Strauß darin nicht nur von seiner eigenen Kindheit erzählt, sondern das Erinnern schlechthin behandelt, indem er zeigt, dass es uns Menschen so unentbehrlich ist wie Nahrung, Liebe, Schlaf.«
Botho Strauß: Herkunft
Deutsch | Hanser 2014 | 96 Seiten
Holger Reichard