»Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert« ist der Untertitel von Caroline Criado-Perez‘ Buch »Unsichtbare Frauen«. Die britische Autorin, Journalistin und nicht zuletzt Feministin zeigt geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten auf. Was vielleicht erstmal ein bisschen trocken klingt, ist hochinteressant und mindestens genauso erschreckend. Dabei orientiert sie sich grundlegend an Simone de Beauvoirs »Das andere Geschlecht«. »Wenn wir ›Mensch‹ sagen, meinen wir meistens den Mann.« Das hat konsequenterweise Auswirkungen auf das Denken und Verhalten unserer Gesellschaft. Caroline Criado-Perez findet Beispiele aus Politik, Technologie, Medizin, der Arbeitswelt und unzähligen anderen Bereichen, in denen bei der Datenerhebung Frauen ausgeschlossen werden.
Eine der wichtigsten Feststellungen über die Gender Data Gap ist, dass sie keine bösen Absichten verfolgt oder auch nur bewusst erzeugt wurde. Im Gegenteil. Sie ist schlicht und einfach Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht und deshalb eine Art Nicht-Denken ist. Sogar ein doppeltes Nicht-Denken: Männer sind die unausgesprochene Selbstverständlichkeit, und über Frauen wird gar nicht geredet. Denn wenn wir »Mensch« sagen, meinen wir meistens den Mann.
Jede Frau, die dieses Buch liest, wird sich auf den Seiten wiederfinden. Ständig. Die Autorin findet nicht nur Antworten auf die zunächst so banal wirkenden Fragen der nicht enden wollenden Schlange vor dem Damenklo oder weshalb Frauen öfter kalt ist, sondern erklärt auch, weshalb eine Frau bei einem Autounfall mit 47 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als ein Mann schwer verletzt wird. Mit 71 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit mittelschwer verletzt. Und mit 17 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit stirbt. Diese Zahlen basieren nur auf der Tatsache, wie und für wen Autos konstruiert sind.
Caroline Criado-Perez schreibt über die alltäglichsten Dinge wie eben Autofahren, Care Arbeit oder Hobbys – und gerade weil sie so alltäglich sind, stellt sich immer wieder die Frage, wieso nicht längst etwas gegen die dort vorherrschenden Ungerechtigkeiten getan wurde.
Ich persönlich habe eine Antwort darauf gefunden, warum ich auf dem Klavier bestimmte Akkorde nicht greifen kann: Die klassische Klaviatur ist an die Durchschnittsgröße einer Männerhand angepasst. Das ist für mich als Hobbypianistin lästig, aber nicht dramatisch, doch für Berufspianist*innen sieht das schon ganz anders aus, denn die Standardklaviatur benachteiligt 87 Prozent der erwachsenen Pianistinnen. Das ist ein Problem, das vermutlich nicht jede Frau beschäftigt, aber nicht nur Klaviaturen sind zu groß für viele Frauenhände, sondern auch die meisten Handys, und jetzt ist es wieder für alle interessant.
Caroline Criado-Perez stellt zurecht die Frage, was es bedeutet, wenn zukünftig Daten und Statistiken eine immer größere Rolle spielen. Allzu oft sehen wir in Daten die reine Wahrheit und behandeln sie als eine Art neutrales Wissen. Doch wenn Daten von Anfang an falsch und unzureichend erhoben werden, wird das in Zukunft dazu führen, dass sich die Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen vertiefen. In manchen Fällen wird das nur nervig sein, in anderen tödlich.
»Unsichtbare Frauen« ist ein Buch der Antworten. Es deckt so unfassbar viele Bereiche ab, dass ich sie hier nicht alle aufzählen kann. Dennoch hat sich die Autorin nicht zu viel vorgenommen. Das Buch zieht einen Querschnitt durch die Gesellschaft und zeigt: Geschlechterungerechtigkeit gibt es überall. Wir müssen nur hinsehen. Ich ziehe meinen Hut vor der unglaublichen Recherchearbeit, die sich hinter dem Buch verbirgt und hoffe, dass es so viel Menschen wie möglich lesen. Dieses Thema betrifft uns alle und wir können auch nur gemeinsam nach Lösungen suchen. Ob arm, reich, Schweden oder Somalia, Care Worker oder CEO. Und eine Lösung, die auch Caroline Criado-Perez vorschlägt, ist vermutlich die simpelste und auch effektivste: Man(n) muss einfach nur die Frauen fragen und sie und ihre Bedürfnisse sichtbar machen.
Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen | Deutsch von Stephanie Singh
btb Verlag 2020 | 496 Seiten
Mariel Reichard