Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitarbeiter oder Mitarbeiterin in einem mittelständischen Traditionsbetrieb. Sie sind in Ihrer Organisation gut vernetzt, gelten als kreativ oder engagiert – idealerweise sogar als alles drei zusammen. In der Unternehmenshierarchie sind für Sie noch einige Schritte nach oben möglich und bisher stehen Sie bei wichtigen, strategischen Projekten sicherlich nicht an vorderster Linie.

Nun erhalten Sie eines Tages neben einigen weiteren Kollegen eine Offerte des Management-Teams: Wenn Sie Lust haben und sich bereit fühlen, sind Sie herzlich eingeladen »bottom-up« Veränderungen im Unternehmen anzustoßen, wichtige Themen einmal »out-of-the-box« zu denken und eigeninitiativ vorwärts zu treiben. Dieses Vorgehen soll im Rahmen der langfristigen strategischen (Neu-)Ausrichtung zur Förderung der Lebendigkeit und Dynamik der Unternehmenskultur beitragen. Auf diese Weise sollen in Zukunft neue Erfolge gefeiert und die erfolgreiche Firmengeschichte fortgesetzt werden. Konkret können Sie – je nach Attraktivität und persönlichem Interesse – im Rahmen einer Kick-off Veranstaltung ein Thema auswählen, das Sie anschließend eigenverantwortlich und frei gestaltbar bearbeiten dürfen. Eine zusätzlich Vergütung, ein gesondertes Zeitbudget oder anderweitig offiziell zur Verfügung gestellte Ressourcen werden Sie nicht erhalten. Als Unterstützung wird Ihnen ein Pate aus dem Management-Team zur Verfügung stehen, zudem werden optionale Coachings und Supervisionen angeboten.

Okay!? Klingt das für Sie verlockend, etwas seltsam, reichlich unklar oder irgendwie exklusiv und spannend? Fragen Sie sich vielleicht, warum ausgerechnet Sie – als die oben beschriebene Person – eingeladen sind oder was eigentlich passieren wird, wenn Sie der Einladung nicht folgen? Oder: Wie ernst meint es das Management-Team überhaupt? Und natürlich: Wie sollten Sie so etwas neben Ihren bisherigen Aufgaben noch zusätzlich meistern?

Diese und noch viele andere Fragen hatten die eingeladenen bridge people in der Kick-off Veranstaltung. Alle der knapp 30 angesprochenen Mitarbeiter folgten der Einladung und lediglich zwei sind im Laufe des Prozesses ausgestiegen – mit Begründung und natürlich ohne negative Konsequenzen für sie, sondern vielmehr als Exempel, dass dies ohne weiteres möglich war. Die Ganze Idee basierte auf Freiwilligkeit.

Aber zurück zur Kick-off Veranstaltung. Bei dieser war es gerade zu Beginn sehr wichtig, dass das Management-Team vollständig vertreten war, als sichtbares Zeichen der Wertschätzung und Relevanz des Themas. Zudem zeigten die Manager ein hohes Commitment für die Idee und standen geschlossen und sehr glaubwürdig hinter den Zielen der Initiative. Um dies zu gewährleisten, gab es im Vorfeld für das Team ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Diskussion und Auseinandersetzung. Nicht weniger wichtig waren die zwei Tage Zeit für den Kick-off selbst, die es den ausgewählten Mitarbeitern ermöglichte, sich zum einen mit den Themen, aber auch mit sich selbst als Person und als neu geschaffene Gruppe/Community auseinandersetzen zu können. So fingen die meisten – zum Teil anfänglich noch skeptischen – Teilnehmer Feuer für den anstehenden Prozess. Interaktive, dialogorientierte und emotionalisierende Rahmenelemente sowie eine an den unmittelbaren Bedürfnissen der Gruppe orientierte Anpassung der Agenda trugen dazu ihren Teil bei.

Dann: Knapp zwei Monate Zeit um Ideen zu entwickeln, die selbstgewählten Themen zu konkretisieren, verändern und bearbeiten, sich als Gruppe zu finden, weitere Kollegen zu engagieren und involvieren usw. Die Rolle der von den einzelnen Initiativen selbstgewählten Paten bestand in diesem Zeitraum vor allem darin, den typischen Management-Reflex zu unterdrücken, also weder Verantwortung zu übernehmen, zu steuern, nachzufragen oder zu kontrollieren, noch für die Initiative Dinge zu entscheiden, die diese selbst entscheiden konnte. Die Paten sollten lediglich bei Bedarf im Sinne eines Coaches unterstützen, sobald die Handlungsfähigkeit einer Initiative gefährdet war. Nachdem wenig Bedarf geäußert wurde, war dies einerseits für die meisten eine einfache Aufgabe, andererseits entstand Unsicherheit, ob dies nun als gutes oder schlechtes Zeichen zu bewerten war. Sehr verständlich! Insgesamt wurde diese Paten-Rolle von einigen Managern als durchaus neu und ungewohnt erlebt und damit als persönliche Herausforderung.

Der erste Review-Workshop zeigte zum Glück, dass das Vertrauen, die Zurückhaltung und das Loslassen gerechtfertigt waren und die meisten Einzelinitiativen »on track« waren. Auch die Mitglieder waren nach wie vor motiviert, trotz der einen oder anderen Schwierigkeit. Nachgefragt und nicht ganz unerwartet war die größte Herausforderung, Zeit für diese zusätzliche Aufgabe zu finden. Ein Teilnehmer meinte dazu jedoch sehr pragmatisch, es hätten ja alle Initiativen bereits schöne Zwischenergebnisse geliefert. Eben! Mit Hilfe der kollegialen Beratung konnte noch der ein oder andere Teilnehmer fallspezifisch Unterstützung von Kollegen erhalten und so vom Wissen und der Erfahrung der Bridge-People Community profitieren. Aus Prozesssicht war insbesondere wichtig, dass sich die einzelnen Mitglieder und Gruppen an diesem Tag als Teil einer engagierten und lebendigen Community erleben konnten.

Dann: Rund drei Monate Zeit, um die eigenen Themen weiter voranzutreiben, diesmal gekoppelt mit dem Auftrag bis zum zweiten Review-Workshop eine Entscheidungsvorlage zu erarbeiten, auf deren Basis das Management-Team beschließen sollte, ob und wie es mit den einzelnen Initiativen weiter geht.

Im Vorfeld des zweiten Review-Workshops war die Spannung beim Management-Team natürlich wieder groß: Wie werden die Ergebnisse aussehen? Wie leicht oder schwer wird es uns fallen, notwendige Entscheidungen zu treffen, und was wird damit alles auf uns zukommen? Werden wir den bisherigen Prozess als Erfolg bewerten können? Und wie werden dies die Bridge People sehen?

Beim Start des Workshops wurde eines schnell klar: Nachdem der Platz für Ausstellungsmaterial bald zu knapp wurde, war fehlendes Engagement und Motivation wohl kein Thema. Bei der Vorstellung der Ergebnisse und anstehenden Entscheidungen gab es in der Folge kreativ gestaltete Videostatements (von zwei verhinderten Mitgliedern), funktionsfähige Prototypen von möglichen Neu-Produkten, Ergebnisse einer umfassenden, europaweiten Befragung von Kollegen zum Thema CSR, detaillierte Prozessanalysen usw. Eine Initiative hatte zudem Sticker mit dem Logo der Gesamt-Initiative kreiert und als Präsent für alle mitgebracht – übrigens eine Idee aus dem ersten Review-Workshop.

In der Summe war das gezeigte Engagement, die Vielfalt und Varianz der Ergebnisse für einige doch positiv überraschend. So fiel das Voting, bei dem jeder anwesende Teilnehmer seine Top 5 Initiativen/Ergebnisse/Vorschläge auswählen sollte, nicht jedem leicht. Mit diesem Voting-Ergebnis im Gepäck ging das Management-Team anschießend in die entscheidende Runde, traf notwendige Entscheidungen, fasste Beschlüsse für das weitere Vorgehen und präsentierte dies dann der versammelten Community. Bestimmte Themen sollten in die verantwortliche Linienfunktion übergeben werden, manche als klassisches Projekt, andere in freierer Form in einem sogenannten »Joker-Team« fortgeführt werden. Bei anderen gab es die Bitte, die Vorschläge noch stärker zu konkretisieren oder auszuarbeiten. Ein Teil wurde mit entsprechender Begründung auch abgelehnt. Im Vorfeld gab es dazu von Teilnehmerseite bereits Stimmen wie »Ich treibe mein Thema trotzdem weiter, auch wenn ich jetzt vielleicht (noch) kein ›GO‹ vom Management-Team erhalte!« oder »Wenn das eigene Thema kein grünes Licht erhält, kann ich ja zu einer anderen Initiative wechseln!« Yes, wunderbar! Derartiges Ownership und Engagement wünscht man sich nicht nur als Organisationsentwickler, ist es doch eine wesentliche Voraussetzung, dass mehr Lebendigkeit und Dynamik im Unternehmen entstehen kann.

Als passendes Fazit bleiben sinngemäß die Abschlussworte des CEO am Ende des zweiten Reviews:

Es ist doch erstaunlich und sehr positiv überraschend, was alles in kurzer Zeit möglich wird. Wir haben unseren Leuten vertraut, dass sie das richtige tun werden, haben ihnen den entsprechenden Freiraum gegeben und sie einfach machen lassen. Das hat Potenziale gefördert.

Ganz genau!

Thomas Meilinger