»Wohin geht jemand, der nicht weiß, wohin er gehen soll?«
Gleich zweimal findet man diese Frage in Jenny Erpenbecks neuestem Roman »Gehen, ging, gegangen«. Unübersehbar breitet sie sich auf zwei ansonsten leeren Seiten aus und lässt im Kopf des Lesers gleich eine Hand voll neue aufkommen: Was wird aus dem Menschen? Wer kümmert sich um ihn? Was hat er bisher erlebt? Was hat er aufgegeben? Wen oder was wird er schmerzlich vermissen?
Der Strom der Menschen, die täglich das lebensgefährliche Wagnis Flucht eingehen, treibt gewiss viel mehr als die eine oder andere Frage um. Sensationslüsterne Medien jagen zu oft nur nach auflagensteigernden Geschichten. Seltener erfährt man Hintergründe zu berührenden Einzelschicksalen. Denen hat sich Jenny Erpenbeck hier angenommen, indem sie einfühlsam und geschickt von den Flüchtlingen erzählt, die von Oktober 2012 bis April 2014 in einem Zeltlager auf dem Berliner Oranienplatz lebten.
Richard, ein pensionierter Altphilologie und Witwer, hat so viel Zeit, dass er nicht weiß, wie er sie nutzen soll. Die Männer, die auf dem Berliner Oranienplatz zelten, haben ebenfalls genügend davon. Die Asylbewerber aus unterschiedlichen Ländern suchen Arbeit und erhoffen sich ein besseres Leben in unserem Land. Sie sind dem Krieg und Terror in ihrem Heimatland entkommen. Ihre Eltern, Frauen, Kinder oder Freunde sind nicht mehr am Leben, erschossen, ertrunken oder einfach verschollen.
Nachdem die Männer in ein nahe gelegenes ehemaliges Altenheim verlegt werden, befragt Richard sie nach ihren Erlebnissen. Am Beginn seines Projektes weiß er noch nicht, wohin es ihn führen wird. Richard hat bisher nicht viel darüber nachgedacht, wie es Asylsuchenden in Deutschland geht und kennt die entsprechenden Gesetze nicht. Einige Flüchtlinge lernt er näher kennen. Ihre Geschichten erwischen ihn eiskalt. So viel Gewalt und Armut bleiben für ihn unfassbar.
… viele Menschen in Ghana sind sehr verzweifelt. Manche hängen sich auf. Andere nehmen DDT, sie trinken Wasser nach, dann gehen sie ins Haus, machen die Tür hinter sich zu – und sterben.
Der Leser erwartet wegen seiner akademischen Ausbildung mehr von Richard als die einfache Naivität, mit der er agiert. Begriffe wie Aufenthaltstitel oder Dublin II sind ihm genauso fremd wie afrikanische Namen. Dass er lieber klassische Vornamen oder die aus der griechischen Mythologie benutzt, hat gewiss auch etwas Komisches. So vorurteilsfrei und ahnungslos könnte er der nette Nachbar von nebenan sein. Richard belehrt nicht, er stellt nur bloß – und das mit höchst charmanter Selbstironie. Beinahe lächerlich wirkt die kleine Weihnachtsfeier, die Richard in seinem Haus veranstaltet.
Jenny Erpenbeck erzählt virtuos, wie Richard der Mutter von Karon ein Stück Land in Ghana kauft. Die 3000 Euro sind auch für ihn viel Geld, doch er investiert sie. Dem 18-jährigen Osarobo gibt er Klavier-, anderen aus den Heim Sprachunterricht. Viel bleibt von den Oranienplatz-Vereinbarungen nicht. Deshalb nimmt Richard Flüchtlinge in sein Haus auf; einige seiner Freunde folgen seinem Beispiel. Richard improvisiert, und der Leser spürt zwischen den Zeilen seine Scham darüber, was er bisher über die Menschen in Afrika dachte.
Erzählt die Autorin aus der Perspektive der Afrikaner, kommt Richard dem Leser seltsam fremd vor. Plötzlich wähnt man sich auf der anderen Seite des tiefen Grabens. Dies sind die nachdrücklichen Momente des Buches, in denen die Fragen vom Beginn die Gedanken wieder aufmischen. »Gehen, ging, gegangen« – als grammatische Form im Sprachunterricht durchaus fassbar – als ein Prozess nüchtern betrachtet und zwischen zwei Aktendeckeln vom Gesetzestext erdrückt und erledigt …?
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen
Albrecht Knaus Verlag 2015 | 352 Seiten
Renate Bojanowski