Elena hatte gelernt, dass die wahre Geißel des Menschen Langeweile hieß. Langeweile verdarb den Charakter. Sie weckte die Sehnsucht nach Skandalen und Katastrophen. Friedliche Menschen verwandelten sich in Schandmäuler, die anderen Böses wünschten, nur damit sie etwas zu besprechen hatten. Im Kampf gegen die Langeweile entschied sich, ob man als Teufel oder als Engel durchs Leben ging.
Unterleuten. Unter Leuten. Mit ihrem neuen Roman schafft es Juli Zeh, alle menschlichen Verhaltensweisen in einem Dorf zusammenzupferchen. Einem Dorf, an dessen grundlegender Struktur sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel verändert hat und die Wende den vermeintlich einzigen Höhepunkt darstellte, der in Unterleuten jedoch eher mit einem Grauen verbunden war, dessen Name, ob positiv oder negativ, »Veränderung« lautete. Umso verbissener klammerten sich die Einwohner an die zwischenmenschlichen Beziehungen: Liebe, Hass, Niedertracht, Eifersucht, Freundschaft, Feindschaft – ein ewig gleichbleibendes Muster, weitergestrickt über den Gartenzaun oder in der Dorfkneipe.
Doch spätestens im Jahr 2010 sehen sich die Unterleutner mit der Außenwelt konfrontiert, als ihnen vorgeschrieben wird, ein Stück Land in der näheren Umgebung zur Bebauung von Windkraftanlagen freizugeben. Das Dorf ist gespalten und es entwicklet sich ein emotionalisierter Kampf der Einzelinteressen, der längst vergangene Geschehnisse wieder aufreibt. Dazu tragen auch Zugezogene ihren Teil bei, deren Bestreben in erster Linie die ersehnte Zugehörigkeit zum Dorfkern ist, wofür einigen jedes Mittel recht ist. Intrigen werden geschmiedet, Bündnisse geknüpft und an der Frage nach den unausweichlichen Windrädern droht die Lage zu eskalieren und das ganze Dorf zu zerbrechen.
Juli Zeh schafft mit »Unterleuten« ein eigenes kleines Universum, in dem sich jedoch alles widerspiegelt, was man über die Menschheit wissen muss. Der Leser springt dabei von einer Perspektive in die nächste, erfährt, was die Dorfbewohner voneinander denken, wie Missverständnisse entstehen und Fallen gelegt werden. Was anfangs noch verwirrt, entwickelt sich im Laufe des Buches zu einem logischen und ineinander greifenden Muster.
Allzu oft wird Egozentrik mit gutem Willen verwechselt und die Illusion eines malerischen kleinen Örtchens mit festem Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn, die zuvor viele Städter in das Dorf trieb, verwandelt sich in eine Kulisse, hinter der sich die menschlichen Abgründe auftun.
Juli Zeh ist ein bodenständiges und ehrliches Werk gelungen, in dem sich jeder in gewisser Form wiederfindet, ob er will oder nicht. Ein sehr zu empfehlendes Buch, sowohl für Städter, die der trügerischen Idylle des Landlebens verfallen sind, als auch für Dörfler, die nicht nur ihren Garten, sondern insbesondere den angrenzenden Zaun zum Nachbargrundstück lieben.
»Unterleuten« ist ein Buch mit viel Humor und Wortwitz, regt aber auch zum Nachdenken an, indem es den inneren Drang nach Skandalen und Spannung kritisch hinterfragt und vor der großen Langeweile warnt, die die Menschen entweder verschluckt oder aufbegehren lässt. Dass beides in extremer Form möglich und vermeidenswert ist, verdeutlicht der Roman sehr eindrücklich und auf literarisch großartige Weise.
Juli Zeh: Unterleuten
Luchterhand 2016 | 640 Seiten
Mariel Reichard