Beginnend mit dem Hawthorne Experiment beschäftigt sich die Ethnologie seit den 1920er Jahren eingehender mit den kulturellen Dimensionen von Organisationen und Unternehmen. Heute erkennen Wirtschaft und Management, dass die Kultur von Unternehmen eine nicht zu unterschätzende Ressource für wirtschaftlichen Erfolg darstellt. In den Debatten darum, was Unternehmenskultur denn ist bzw. wie sie zu definieren ist, haben sich dabei zwei Strömungen herauskristallisiert: Während die eine Seite davon ausgeht, dass jedes Unternehmen eine Kultur hat (instrumentelle Sicht, Objektivismus, Unternehmenskultur als Subsystem), argumentiert die andere Seite, dass jedes Unternehmen eine Kultur ist (institutionelle Sicht, Subjektivismus, Unternehmenskultur als umfassendes System) (vgl. z.B. Franken 2004: 219f). Beide Seiten vernachlässigen dabei jedoch oft den grundsätzlich dynamischen Aspekt von Kultur.
Für die folgende Analyse wird Unternehmenskultur als ein diskursives Spannungsfeld betrachtet, in welchem Mitarbeitern verschiedene Optionen des Handelns zur Verfügung stehen. Diskurse werden dabei in Anlehnung an Rainer Kellers Konzept der wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2005) verstanden als
»inhaltlich und formal strukturierte Ensembles von sinnstiftenden Einheiten, die in einem spezifischen Set von Praktiken produziert werden – strukturierte Verknüpfungen von Deuten/Handeln. Sie verleihen […] sozialen Phänomenen Bedeutung und konstituieren dadurch deren gesellschaftliche Realität. Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen zugleich.« (Keller 1999)
Ein Diskurs umfasst – dem Ethnologen Wolfgang Kaschuba folgend –
- ein festes Argumentationssystem,
- ein System, das einen Themenraum absteckt und Umgangsregeln festlegt,
- ein Denksystem, das die Wahrnehmung von Wirklichkeit konfiguriert und
- ein soziales Praxissystem, das Denk- und Handlungsweisen miteinander verbindet. (Kaschuba 1999: 236f)
In jedem sozialen System werden bestimmte Diskurse bevorzugt bzw. die Produktion aller Diskurse kontrolliert, organisiert und kanalisiert, um eine Ordnung aufrechtzuerhalten (vgl. z.B. Foucault 1994). Der Philosoph Jean-François Lyotard hat jedoch klar gemacht, dass ein soziales System immer von mehreren Diskursen durchdrungen ist, die sich entweder gegenseitig unterstützen oder aber in einem Widerstreit gegenseitig ausschließen (Lyotard 1987). Auch wenn ein Diskurs von den öffentlich propagierten und aktuell mächtigeren Diskursen ausgeschlossen oder unterdrückt wird, so bedeutet dies nicht, dass er keinen Einfluss besitzt oder in bestimmten Situationen nicht selbst zum tragenden Diskurs werden kann.
In dieser Betrachtungsweise ist jedes Unternehmen eine gelebte Kultur, wobei die Art und Weise, wie die Kultur gelebt wird, von (widerstreitenden) Diskursen bestimmt wird. Ein Unternehmen kann jedoch ebenfalls eine Kultur haben, etwa indem es sich in einer gezeigten Kultur offiziell, z.B. vom Top Management diskursiv verbindlich gemacht, ein Leitbild mit konkreten Werten, Normen und Regeln verleiht. Die Diskrepanz zwischen gezeigter und gelebter Kultur ist – dies zeigt sich in Change-Projekten immer wieder – eine der wichtigsten Ursachen für Unmut und Demotivation in der Mitarbeiterschaft. Widerstreitende Diskurse führen in diesem Zusammenhang in Unternehmen sehr schnell zu internen Glaubwürdigkeitskrisen, welche sich über die Mitarbeiter früher oder später nach außen tragen und die Reputation von Unternehmen, Marke und Produkt nachhaltig schädigen können.
Change Management produziert jedoch (wenn es nicht nur an der Oberfläche operiert) grundsätzlich widerstreitende Diskurse und damit diskursive Spannungsfelder: Die »alte« gelebte Unternehmenskultur (Ist-Zustand) wird mit einer »neuen« gezeigten Unternehmenskultur (Soll-Zustand) konfrontiert. Change Management ist vor die Herausforderung gestellt, aus gezeigter gelebte Kultur zu machen – einfach gesprochen, jedoch umso schwieriger realisiert. Jede gelebte Unternehmenskultur verfügt über diskursive Ressourcen, die Veränderung hin zu einer gezeigten Kultur unterstützen können; sie kann jedoch ebenso diskursive Barrieren aufstellen, welche ein erfolgreiches Change Management behindern.
Die Ethnologie wird vor diesem Hintergrund mit ihrem eigenen theoretischen, methodischen und praktischen Handwerkszeug zur Leitdisziplin für kultursensibles und damit nachhaltig wirksameres Change Management …
Johannes Ries
Der Text ist ein Auszug aus dem Beitrag »Führungs-Kraft Unternehmenswerte: Kultursensibles Change Management im diskursiven Spannungsfeld von Unternehmenskulturen«, veröffentlicht im Sammelband »Die verdeckten Spielregeln der Veränderung«, hrsg. 2015 von Johannes Ries gemeinsam mit Susanne Spülbeck im Lit-Verlag. Beziehbar über den Buchhandel.