Sein Blick gleitet über den Himmel, die Sternbilder, die Sternhaufen. Er zeigt jene berühmten nächtlichen Pünktchen der gurrenden Krankenschwester in seinem Arm und läßt sich des langen und breiten darüber aus, zum Beispiel über ihre relative Entfernung zur Erde – und zueinander. Es ist interessant. Jene beiden da, die wie Zwillinge aussehen, einen Zentimeter voneinander entfernt: In Wirklichkeit mögen sie ekelerregend weit voneinander getrennt sein, Lichtjahre weit, vereint lediglich durch unseren Blickwinkel.

In seinem Buch »Pfeil der Zeit« erzählt Martin Amis die Lebensgeschichte des amerikanischen Arztes Todd Friendly, aber nicht von vorn, sondern von hinten. Ein Rückblick also? Nein, auch das nicht. Amis drückt auf Rewind. Er lässt das Leben seines Protagonisten und die Welt um ihn herum rückwärts laufen: Junge Menschen werden zu Kindern, Kinder werden zu Babys und die Babys verschwinden eines Tages. Dialoge beginnen mit ihrem Schluss und enden mit ihrem Anfang. Der Mülleimer wird zu einer Wundertüte.

Amis bleibt konsequent, im Kleinen wie im Großen: John F. Kennedy wird einfach in die begeistert jubelnde Menge von Dallas gesetzt und schreitet danach zu großen Taten. Freiheit wird vergänglich, Luxus verschwindet. Nach und nach kommt über den Großstädten der Sternenhimmel wieder zum Vorschein.

Es ist beeindruckend, in welcher Art und Weise sich der Sinn alltäglicher Dinge und historischer Ereignisse ins Gegenteil verkehrt, wenn man die Uhr in die andere Richtung laufen lässt. So ist es vor allem diese geniale Grundidee, die das Buch zu einer besonderen Lektüre macht.

Leicht zu lesen ist es nicht. Man stelle sich vor, man ginge eine vielbesuchte Promenade rückwärts entlang. Die Orientierung fiele uns schwer. Ebenso verhält es sich in Amis‘ Geschichte. Man muss sich erst daran gewöhnen, den Ausgangspunkt anzusteuern und nicht das Ziel. Hat man sich daran gewöhnt, beginnt man – logischerweise –, das Leben von der anderen, einer neuen Seite zu sehen.

Für die Hauptfigur des Romans, Todd Friendly, ist diese Sichtweise mit großem Schmerz verbunden, und dieser Schmerz wird zum Ende des Buches immer größer, nimmt schließlich katastrophale Ausmaße an. Obwohl es im Rückwärtsgang anders erscheint und man doch annehmen möchte, dass man jünger werdend seine Unschuld wiedergewinnt. In »Pfeil der Zeit« geschieht dies nicht. Passend zur Buchidee geht hier der Schuss gewaltig nach hinten los.

Martin Amis: Pfeil der Zeit
Deutsch von Alfons Winkelmann | dtv 2004 | 206 Seiten

Holger Reichard