Gerade beginnt sich eine Abkürzung in die Diskussionen über zeitgemäße Organisations- und Personalentwicklung zu schleichen: »VUCA«. Das Akronym hat einen militärhistorischen Hintergrund: Ab Mitte der 1990erJahre wurde VUCA in den US-amerikanischen Kaderschmieden der Militärakademien zum Leitwort für die Beschreibung einer neuen Situation nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks. Das Wort passt heute ebenfalls auf den Wirtschaftskontext.
Auch die Unternehmenswelt kämpft immer mehr mit VUCA: mit Volatilität, Unsicherheit, Complexität und Ambiguität.
Volatilität: Unsere Welt wird immer instabiler, keiner weiß, wie lange etwas standhält und wann sich die Situation fundamental verändert. Gleichzeitig erfolgen Wechsel immer drastischer. Ereignisse kommen und Prozesse verlaufen völlig unerwartet. Preise, die früher über Monate und Jahre stabil waren, springen heute z. B. kurzfristig zwischen Minimum und Maximum hin und her …
Unsicherheit: Die Zukunft ist immer weniger vorhersehbar, wir wissen immer weniger, wohin die Reise geht. Vorhersagen erweisen sich immer öfter als unzuverlässig und uns entgleitet die Berechenbarkeit von früher. So wird z. B. die Autorität von Experten immer mehr untergraben, da sie auf Basis der gleichen Datengrundlage zu völlig konträren Aussagen kommen …
Complexität: Durch Globalisierung und Internet ist unsere Welt mittlerweile so stark vernetzt, dass eine Handlung heute weit mehr Auswirkungen hat als früher. Es wird dabei gleichzeitig immer schwieriger, Ursache und Wirkung sauber zu trennen. Eine unachtsame Aussage in Facebook etwa kann einen Shitstorm provozieren, während eine andere völlig ungehört bleibt …
Ambiguität: Unsere Welt hat ihre Eindeutigkeit verloren, sie ist nicht mehr exakt bestimmbar. Zu jeder Sicht gibt es mittlerweile eine zweite, dritte, x-te alternative Sicht. Wir sind immer mehr mit Paradoxien konfrontiert, die nicht aufgelöst werden können. In der Matrix-Organisation streitet z. B. die Anweisung meines Chefs wider mit der eines indirekt Vorgesetzten …
Die VUCA-ness der Wirtschaftswelt setzt Mitarbeitende und Führungskräfte mehr und mehr unter psychischen Druck. So erlebe ich zum Beispiel als eine der größten Herausforderungen für Führungskräfte derzeit folgende Situation: Verunsicherte Mitarbeitende fordern von ihren Führungskräften Orientierung, da das Unternehmen und dessen Umfeld keine stabile Grundlage und Ausrichtung mehr liefern. Führungskräfte können jedoch keine Orientierung geben, da die VUCA-ness der Situation keine Festlegung ermöglicht. Auf Volatilität reagieren sie mit einer immer schnelleren Anpassung der strategischen Ziele; auf die Unsicherheit mit ständig wechselnden Durchhalteparolen; auf Komplexität mit Ruf nach schnellerem Handeln; auf Ambiguität mit dem Pochen auf die eigene Perspektive. Dadurch wird jedoch nicht die VUCA-Situation aufgehoben, sondern allein eine Scheinstabilität erzeugt … – die nach kurzer Zeit wieder zusammenbricht. Früher oder später verlieren Führungskräfte damit ihre Glaubwürdigkeit; die Mitarbeitenden reagieren mit Resignation.
Die unsichere und instabile Situation führt in vielen Unternehmen dazu, dass wieder ein Führungstypus bevorzugt wird, der durch eine harte Linie Autorität und klare Entscheidungskompetenz ausstrahlt – dies wird dann als Führungskompetenz verstanden, die klar zu orientieren und Sicherheit herzustellen vermag. Wir erleben hier jedoch oft einen grundsätzlichen Mangel an Empathie, holistischer Perspektive und Situationsverständnis. Die angeblich hergestellt Sicherheit und falsch verstandene Führungsstärke gründet dann nur zu oft auf der Furcht der Mitarbeitenden. Erneut wird nur eine Scheinstabilität erzeugt: die VUCA-ness wird von der Angst mehr verstärkt als dass sie aufgehoben würde.
Viele Führungskräfte überkommt in dieser Situation Selbstzweifel. Sie fühlen sich inkompetent in der Anwendung der gängigen Führungsinstrumente, nicht selten sehen sie sich im Ausnahmezustand. Allein der Hinweis darauf, dass im Moment in fast allen Unternehmen auf allen Ebenen Führungskräfte mit und gegen VUCA kämpfen, wirkt hier für die Selbstzweifler entspannend. Wann immer ich dann in Coachings, Workshops oder Veranstaltungen die Abkürzung VUCA als hypothetische Situationsbeschreibung ins Spiel bringe, ernte ich eifriges Kopfnicken. Das Neuwort dockt dann genau an die Erfahrungswelt meiner Gesprächspartner an. Oft reagieren diese mit Erleichterung, dass ihre Befindlichkeit endlich auf einen griffigen Punkt gebracht worden ist – sie können durch den Begriff VUCA Sicherheit in eine Gefühlslage bringen, die davor selbst undurchsichtig, unsicher, unklar (da nicht beschreibbar) war. Der Begrifflichkeit kann dann das Begreifen folgen: Das Wort VUCA ist der erste Schritt, um über neue Wege im Umgang mit VUCA nachzudenken.
Kompetenz im Umgang mit VUCA wird essenziell zum Portfolio einer guten Führungskraft gehören müssen, um in Unternehmen gut führen zu können. Gleichzeitig wird es jedoch nicht ausreichen, allein die richtigen, VUCA-kompetenten Persönlichkeiten in Führungspositionen zu bringen. Es sind auch die Führungsinstrumente und organisationskulturellen Mind-sets die immer weniger geeignet sind, die VUCA-ness der Unternehmenswelt zu bewältigen. Dies in Betracht zu ziehen, zu prüfen und eventuell anzuerkennen, ist der erste Schritt zum erfolgreichen VUCA-Handling. Damit, so bin ich überzeugt, werden Unternehmen, die sich aktiv mit VUCA auseinandersetzen, in naher Zukunft Vorteile gegenüber den Wettbewerbern haben, die im alten Stil weitermachen.
In der SYNNECTA führen wir derzeit eine intensive Diskussion, wie auf allen Ebenen des Unternehmens ein erfolgreiches VUCA-Handling aussehen kann. Die Früchte unserer Auseinandersetzung werden wir in der nächsten Zeit im SYNNECTA-Blog zur Verfügung stellen.
Als Anfang wird in Kürze der Fokus auf der Frage liegen, wie in VUCA-Zeiten ein erfolgsversprechender Strategieansatz aussehen kann.
Johannes Ries