»Eine Art und Weise, kreativ zu sein, besteht darin, einmal genau und ehrlich zu beobachten, was wir tief im Innern glauben – und dann das Gegenteil davon anzunehmen.«

Sollte es im Leben darum gehen, glücklich zu sein? Nein, meinen die Autoren von »Von Natur aus kreativ«. Vielmehr sei der Mensch »so gemeint«, kreativ zu sein. Als einen der Hauptantriebe für Kreativität haben die Autoren, der Hirnforscher Ernst Pöppel und die Paar- und Sexualtherapeutin Beatrice Wagner, das Bestreben des Menschen ausgemacht, ein inneres, emotionales Gleichgewicht (wieder)herzustellen.

Anstatt sich auf langwierige Definitionen, was Kreativität überhaupt ist, einzulassen, klären die Autoren zunächst sehr praktisch, welche Bedingungen Menschen brauchen, um überhaupt kreativ sein zu können, etwa wie Kreativität mit realen Orten zusammenhängt – warum wir zum Beispiel eine vertraute Umgebung dazu brauchen: Müssten wir uns als Angestellte jeden Tag in einem anderen, gerade freien Büro an einem PC einloggen, weil unsere Firma Geld für leerstehende Büros von kranken oder urlaubenden Mitarbeitern sparen wollte, würden wir wahrscheinlich gar nichts Kreatives zustande bringen. Warum unsere Büros auch auf jeden Fall Fenster brauchen und warum das Sitzen in einem Café eher kreative Leistungen fördert als der Blick auf eine unberührte Landschaft – auch dafür haben die Autoren eine schlüssige Erklärung.

Ein großer Teil des Buchs besteht aus Interviews mit berühmten Persönlichkeiten zum Thema Kreativität – mit Hans Magnus Enzensberger, Hubert Burda, Julian Nida-Rümelin, Kai Diekmann, Bertrand Piccard und anderen. Chinesische Studenten erklären im Gespräch, warum verschiedene Kulturen Kreativität unterschiedlich bewerten und nicht zwingend als positiv einstufen.

Das Kapitel mit praktischen Tipps, wie der Leser seine eigene Kreativität anregen und entfalten kann, ist leider mit nur zehn Seiten sehr kurz geraten. Dafür sind die meisten Tipps konkret und leicht umsetzbar, zum Beispiel: etwas anderes tun (duschen oder ein Pause machen), wenn man bei einem Problem nicht weiterkommt, damit das Unterbewusstsein es in der Zwischenzeit von selbst lösen kann; immer einen Stift und einen Notizzettel dabeihaben; mit anderen über ein Problem sprechen; mit Konzentration und Disziplin an einer Sache arbeiten; den Rezipienten ausblenden; leicht hungrig sein und sich öfter mal bewegen. Man findet als Leser aber auch zwischendurch immer wieder Tipps, wie zum Beispiel den eingangs zitierten von einem Gesprächspartner der Autoren.

Im Kapitel danach beschäftigten sich die Autoren damit, welche Faktoren aus der biologischen Geschichte der Menschheit Kreativität überhaupt erst möglich gemacht haben, wie Kreativität zum Beispiel damit zusammenhängt, wie das Gehirn die Umwelt wahrnimmt und verarbeitet. Eine Frage, die sich durch das gesamte Buch durchzieht, ist, warum Künstler und Schriftsteller so oft wissenschaftliche Entdeckungen und Erkenntnisse vorwegzunehmen scheinen und ob sich Natur- und Geisteswissenschaften überhaupt so scharf trennen lassen wie üblich.

Pöppel erklärt zum Beispiel, dass seine eigene Disziplin, die Hirnforschung, sich gerne in Details und Einzelerkenntnissen verliert und eine Art übergreifende Theorie bisher schuldig geblieben ist. Ganz ähnlich ist auch dieses Buch eher assoziativ und essayistisch und bietet viele interessante Einzelheiten, aber keine fazitartigen Schlussfolgerungen.

Kreativ ist auf jeden Fall das ausführlich und eigenwillig kommentierte Literaturverzeichnis am Schluss des Buches.

Ernst Pöppel/Beatrice Wagner: Von Natur aus kreativ
Deutsch | Hanser 2012 | 256 Seiten

Sabine Anders