Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmordversuch eines jungen Mannes. Wilbur will sich das Leben nehmen. Auf Coney Island stürzt er sich – betrunken und unter dem Schock eines Verkehrsunfalls stehend – ins Meer. Aber er überlebt und erwacht in einer Spezialklinik, wo er sich weigert zu sprechen. Was war geschehen? Und wird der junge Mann sein Leben wieder in den Griff bekommen? Davon erzählt der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert in seinem 2008 veröffentlichten, episch angelegten Bildungsroman »Nach Hause schwimmen«.
Rückblende: Für den kleinen Wilbur hätte das Leben nicht tragischer beginnen können. Als er das Licht der Welt erblickt, stirbt seine Mutter. Sein Vater ist spurlos verschwunden. Mehrere Krankenschwestern und ein im Waisenhaus angestelltes Ehepaar nehmen sich seiner zunächst liebevoll an, bis Großvater Eamon McDermott aus Irland anreist, um sich fortan um den Jungen zu kümmern. Doch nicht er wird die neue Bezugsperson in Wilburs Leben, sondern Eamons Frau Orla.
Eamon McDermott ist ein verschlossener Mensch mit einer mysteriösen Vergangenheit. Als junger Mann entdeckte er am Strand einen sterbenden Schiffbrüchigen mit einer geheimnisvollen Kiste. Den Schiffbrüchigen meldete er, nicht aber den Fund der Kiste, auf deren Inhalt sich Eamons Leben aufbaut, ein Leben voller Lug und Trug.
Doch Wilbur hat ja Orla und könnte sich unter ihrer Obhut einer sorglosen Kindheit auf dem irischen Lande erfreuen, wäre da nicht der Besuch der Schule. Hier wird der kleinwüchsige Wilbur fortlaufend gedemütigt und drangsaliert. Am meisten hat er unter Sportlehrer Fintan Taggart zu leiden – und unter dem Mitschüler Conor Lynch, der mit einem herzlosen Vater selbst in schwierigen Familienverhältnissen aufwächst. Der große Knall ist vorprogrammiert und hat schlimme Folgen. Dabei spielt der Inhalt von Eamons »Schatzkiste« eine nicht unbedeutende Rolle.
Das alles ereignet sich auf den ersten 156 Seiten des insgesamt knapp 550 Seiten umfassenden Romans. Welche Schicksalsschläge die Beteiligten und vor allem Wilbur zu verkraften haben, soll an dieser Stelle nicht im Detail verraten werden. Nur so viel: Über Umwege begibt sich Wilbur später auf die Suche nach seinem Vater. Sein Weg führt ihn nach Schweden und schließlich zurück in die USA, wo seine Lebensgeschichte einst auf so tragische Weise ihren Anfang nahm. Immer wieder betreten alte und neue Figuren die Bühne, und Lappert stattet sie alle mit einer äußerst lebendigen Biographie aus.
Im zweiten, nicht ganz so ereignisreichen Handlungsstrang des Romans führt Lappert die Gegenwart fort: Wilburs Aufenthalt in der Spezialklinik, wo er schon bald auf die charmante Aimee trifft. Sie wird sein Leben verändern, aber auch hier braucht es viele Umwege. Die Spannung bleibt. Lappert transportiert sie kunstvoll von Kapitel zu Kapitel. Die schwierigen Situationen, mit denen er seine Protagonisten stets aufs Neue konfrontiert, beschreibt er einfühlsam und mit einem feinen, unaufdringlichen Humor.
So fesselt und fasziniert der Roman, der 2008 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, von der ersten bis zur letzten Seite. Rolf Lappert ist damit ein Meisterwerk gelungen, das in seiner erzählerischen Wucht vielleicht vergleichbar ist mit John Irvings »Garp und wie er die Welt sah«, eine großartige Geschichte über Freundschaft und Moral, über Schicksale und ihre Kausalitäten, über die Liebe und das Leben.
Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen
Hanser 2008 | 544 Seiten
Holger Reichard