Auf der Rückfahrt von einem Coachingtermin, die Züge überraschend pünktlich, auch einen Sitzplatz finde ich noch. Körperlich müde und gleichzeitig erstaunlich wach richte ich mich in meinem Sitzplatz ein. Dösend frage ich mich: Was ist da eigentlich gerade passiert in den letzten Stunden, in einem sehr intensiven Coachingprozess? Menschen zahlen Geld dafür, dass man sechs Stunden miteinander redet. In diesem Fall ein Mensch, der einen hoch dotierten Managment-Job und einen 12-h-Tag hat. Ein Mensch, der sich viel Zeit nimmt, bevor er einen anderen hinter seine gepflegte Fassade blicken lässt.

Wir sprechen über Konflikte, die ihm unter die Haut gehen. Und darüber, was er als Person beim Gegenüber auszulösen vermag. Wir schauen uns gemeinsam an, was das mit seiner Biographie, seiner Lerngeschichte zu tun hat. Der Mensch hat über einschneidende, emotional prägende Erlebnisse berichtet aus seiner Jugend, die tief in ihm verschlossen waren. Beim Erzählen bemerkt er, es sei, »als würde da erstmals Sauerstoff drankommen«, was da in ihm eingeschlossen war. Es ist ein Mensch, der in seinem beruflichen Alltag eine gewisse Härte zeigt. Wir verfolgen die biographische Spur der Härte. Wir finden gemeinsam heraus, dass sie ihm – früher, viel früher – einmal das Leben gerettet hat. Und heute? Emotion und Kognition verstehen einander – auf einmal.

Was passiert im Coaching? Wir sind Indianer, die gemeinsam Spuren lesen. Wichtig ist, es gemeinsam zu tun. Jeder hat nur seine Hypothesen, Coach wie Coachee. »Wenn man aber sagt: ›Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‹, so sage ich: ›Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja nur seine Zeichen.‹« (Ludwig Wittgenstein). Wir spielen mit den Hypothesen. Und gelegentlich dekonstruiere ich die Interpretation meines Gegenübers. Dafür biete ich eine andere Bedeutung, eine andere Interpretation an. Manchmal wird sie genommen. Oder wir verwerfen sie wieder. So erweitern wir den emotionalen Möglichkeitsraum. Und natürlich auch den Handlungsraum.

Dieser gemeinsame Suchprozess ist ein sehr kreativer. Ja, es gibt Methoden. Aber im Grunde ist es ein großes Sprachspiel, das jedoch das begrenzende Feld der Kognition ständig zu sprengen versucht, um auf unbekanntes emotionales Terrain vorzustoßen. Dazu ist es wichtig, in jedem Moment die emotionale Verbindung zwischen Coach und Coachee im Blick zu haben. Wofür erteilt mir der andere in diesem Moment »einen Auftrag«? Wo ist eine Grenze? Welches ist die (optimale) »mittlere Irritation«?

An diesem Punkt angelangt im Coaching bewegen wir uns auf einem Spielfeld jenseits des Image-Managements – übrigens beide an diesem Prozess beteiligten Menschen.

Ich denke an die Forschungsergebnisse von Klaus Grawe aus den 90er Jahren. Seine bahnbrechende Psychotherapiestudie, die zeigte, dass der bedeutsamste Wirkfaktor in der Psychotherapie nicht die angewandte Methode (Gesprächstherapie, Psychoanalyse, Verhaltenstherapie u.s.w.), sondern die Qualität der Beziehung zwischen Klient und Therapeut ist. Natürlich gilt es, Coaching von Therapie abzugrenzen (das halte ich sogar für extrem wichtig!) – doch die Bedeutung der Beziehung für den Erfolg und die Wirkungsmacht des Coachings ist die gleiche.

In diesem Sinne: Methoden sind gut und wichtig im Coaching. Die professionelle Beziehung, die getragen ist von Empathie, Sensitivität, Nahbarkeit und »respektvoller Respektlosigkeit« ist wichtiger!

Und an dieser Stelle will ich einmal meinem Optimismus Ausdruck verleihen: Obwohl es die ersten Chat-Bots (Computergestützte automatisierte Programme zum Einsatz für die Psychotherapie) gibt, die z.B. auf den Namen »Noni« hören und die in den USA von mehr und mehr Menschen genutzt werden, glaube ich, dass oben beschriebene von »Mensch-zu-Mensch-Interaktion« noch eine kleine Weile unersetzbar bleibt. Warum?

Das hat Nick Cave neulich sehr schön begründet. Er wurde gefragt, ob KI schon bald in der Lage sein wird, einen guten Song zu schreiben.

»Ein großartiges Lied gibt uns ein Gefühl der Ehrfurcht, und das hat einen Grund. Ehrfurcht zu empfinden beruht nahezu ausschließlich darauf, dass wir als menschliche Wesen begrenzt sind. Es beruht auf unserem Wagemut als Menschen über unsere Fähigkeiten hinaus gehen zu wollen. (…) Was wir eigentlich hören bei einem großartigen Song, ist die menschliche Begrenztheit – und den Wagemut, diese zu überschreiten. KI hat diese Fähigkeit nicht, trotz ihrer unbegrenzten Möglichkeiten. Wie könnte sie auch? Genau das ist ja die Essenz der Transzendenz. Wenn wir grenzenlose Möglichkeiten haben, was gibt es dann noch zu transzendieren?«

Schöner lässt es nicht ausdrücken, warum ich mich nach 20 Jahren SYNNECTA auf die nächsten 20 Jahre freue! Gutes Coaching ist wie gemeinsam einen neuen Song schreiben. Dankbar gebe ich mich dem Bahn-Schlaf hin.

Jutta-Anna Schroer