Impulsvortrag auf der 1. SYNNECTA HR-Tischrunde am 10. Juni 2015

Aufgaben und Herausforderungen

Wir stehen inmitten von drei sehr dynamischen Veränderungsbewegungen, die unsere klassischen Planungsinstrumente, Führungs- und Organisationsformen herausfordern.

  1. Eine Krise der hierarchischen Organisation, teils emphatisch gefeiert, teils sehr besorgt betrachtet. Derzeit sind die Magazine voll mit Berichten über Unternehmen, die nun demokratisch sind, der Film »Augenhöhe« wird hoch gelobt und es gibt die Hoffnung, dass das Motivationsproblem so endlich gelöst werden kann. Träume? Sicher in den extremen Formen und sicher auch einen Weg aufzeigend, Beteiligung nicht nur als Change Management Trick, sondern als tatsächliche Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen zu realisieren.
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  3. Die nun deutlich sichtbar werdenden Folgen der Globalisierung, die sich in ganz anderen Dynamiken entwickeln, als es die kolonialen Denkweisen westlicher Unternehmen erwartet haben. Verstärkt von den Möglichkeiten des digitalen, gerade beginnenden Umbruchs. Es ist nicht nur das Hinzutreten neuer Akteure, die Emanzipation der Schwellenländer, das Aufbrechen vielfältiger nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte – der Aufbruch des Monopols von Wissen und Bildung, die sich bildenden Cluster von Können und Wollen an allen Stellen der Welt beschleunigt Entwicklungen, verkürzt alle Zyklen und lässt die Möglichkeit disruptiver Entwicklungen (jederzeit) viel wahrscheinlicher werden. Die digitale Kommunikation in ihrer globalen Reichweite weitgehend losgelöst von der lokalen sozialen Kontrolle beschleunigt dies weiter. Geschäftsmodelle, die ohne große Infrastruktur über »Sharing«- und »Broker«-Modelle traditionelle unternehmerisch verfasste Wettbewerber in ihrer Existenz bedrohen. (Uber,…) Sharingkonzepte entstehen derzeit um fast jedes Produkt.
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  5. Eine deutlich werdende Suche nach sinnvollem Leben der mächtiger werdenden Consumer, die sich zu wirklichen Kunden entwickeln und deren ethische Vorstellungen gegenüber Unternehmen mit den sozialen Medien eine Plattform der Kommunikation gefunden haben. Und die als Akteure (Mitarbeiter passt als Beschreibung nicht mehr so ganz in diese Welt) diese Maßstäbe auch in ihr Unternehmen tragen. (Krise der Hierarchie) Nicholas Negroponte (Direktor des Media Lab des MIT) sah diesen Trend voraus, als er schon 1998 feststellte: »das Digital-Sein ist schon so selbstverständlich wie das Atmen von Luft und Trinken von Wasser«, es seien andere Probleme, um die wir uns kümmern müssten: Die Herausforderungen liegen »in unserem Lebensstil und wie wir gemeinsam unser Leben auf diesem Planeten gestalten.« Rügenwalder, ein traditioneller Hersteller von Fleischwaren, hat sich das Ziel gesetzt einen erheblichen Anteil seines Umsatzes zukünftig mit vegetarischen/veganen Produkten machen zu wollen – sie erleben heute schon eine deutliche Veränderung im Verbraucherverhalten, dem mit Werbung nicht beizukommen ist. Bahlsen sagte ein großangelegtes Veränderungsprojekt mit McKinsey ab, entschuldigte sich bei seinen »Akteuren« und versprach nun einen Weg »mit« und »zusammen« gehen zu wollen. Gegen die Notwendigkeit von Veränderungen hatte sich niemand gewandt, aber gegen die Art und Weise.

Diese Herausforderungen sind nicht isoliert und geschehen auf ihrem jeweils abgeschotteten Feld. Sie dynamisieren sich gegenseitig, verstärken sich gegenseitig. Antworten auf die eine Herausforderung muss auch eine Antwort auf die anderen Herausforderungen geben. Die HR-Community sucht Antworten und wird für die Unternehmen als Mitgestalter eines Systems, das Menschen organisiert, wichtiger denn je.

Einige Bausteine für mögliche Antworten

Die nun sichtbar werdende Dynamik der Globalisierung und der Wirklichkeit digitaler Vernetzung verlangt von Unternehmen eine deutlich höhere Dynamik in der Anpassung an sich beschleunigende und sich nicht widerspruchsfrei verändernde Bedingungen (Politik, Markt, Konkurrenten, Consumer, digitale Communities). Hinzu kommt die Notwendigkeit von steter Innovation – in Produkten, Verfahren, Prozessen, Geschäftsmodellen…) – und dies unter der Drohung, dass irgendwo auf dieser Welt bereits eine Lösung existiert, die das eigene Produkt oder Geschäftsmodell in Frage stellt. Es ist deutlich, dass die derzeit vorherrschende Art der Organisation Hierarchie/Bürokratie diese Anpassungsflexibilität einerseits und anderseits die Lebendigkeit, Vernetzung und Freiheit, die Innovation braucht, nicht leisten kann – zugleich aber in geregelten, standardisierten Herstellungs- und Dienstleistungsprozessen auf genau diese alte Organisationsform nicht verzichten kann.

Die derzeitige Antwort ist der Versuch, eine duale Organisation aufzubauen, die mancherorts agile Organisation oder Pod-Organisation genannt wird. Es gibt bereits Erfahrungen, vor allem in Entwicklungsbereichen, wo sich Themen und manchmal auch Kundenprojekte gut separieren lassen und ein Arbeiten jenseits der Regelwerke realisieren lässt. An SCRUM-Methoden orientiert gibt es auch schon Denkmuster, auf die sich aufbauen lässt. John Kotter (sein Team an der Sloane School) geht davon aus, dass man mit zehn Prozent der Akteure in einem Unternehmen die Kultur so verändern kann, dass selbstgestaltetes und selbstbestimmtes Arbeiten in auch nicht stabilen Teams möglich ist.

Eine agile Organisationseinheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitlich befristet ist, sich im Idealfall die Teilnehmer selbst finden, sie sich das Thema, die Aufgabe gewählt haben und sie sich die Art und Weise der Bearbeitung selbst wählen. Sie sind so ein Fremdkörper in der Organisation, zu der sie gehören und in die sie zurückkehren. Der Freiheitsgrad ist hoch und es wird auf gängige Motivationsformen: Incentives, Aufstiegsversprechen etc. verzichtet. Gleichwohl findet ein solches freies Team in den rechtlichen Bedingungen des Unternehmens statt – wiederum im Idealfall so wenig Bedingungen wie möglich. Solche Grade von Freiheitlichkeit, Selbstwirksamkeit erfüllen in sehr schöner Weise das, was die Motivationsforschung fordert.

Die Social-Media-Plattformen ermöglichen zudem einen ganz neuen Zugang zu dem im Unternehmen versteckten Wissen und Können. Es entsteht eine neue, zugängliche Infrastruktur, die allerdings auch ein ganz neues Verhalten voraussetzt. Deutliche Reduzierung der egoistischen Selbstmaximierung, geringere Bezogenheit auf klassische Auszahlungen (mehr Gehalt, Karriereaufstieg) und die Bereitschaft zu teilen – Teilen, früh und alles teilen ist eine der Bedingungen für das Funktionieren solcher Arbeitsformen. (Reduzierung von Neid, Eifersucht, Narzissmus etc.) Keine geringe Schwelle, die derzeit mit hoffnungsfrohem Blick auf eine anders orientierte Generation Y ff kleingeredet wird. Und die manchmal als Thema der IT-Spezialisten missverstanden wird. Soziale Plattformen leben vom Verhalten der Menschen, der Akteure, und so ist es ein genuines HR-Thema.

Großkonzerne verfügen über eine reiche Infrastruktur an Wissensträgern und Könnern, die sind allerdings verstreut im Unternehmen und in den Stufen und Abteilungen der Organisation verborgen. Soziale Plattformen bieten jetzt die Chance, diese Infrastruktur zu aktivieren. Es gilt der alte Satz: Wenn wir wüssten, was wir wissen … dann!

Für das Unternehmen sind solche Organisationseinheiten schwer zu kontrollieren und es ist schwer, sie strategisch zu positionieren. Es verlangt ein völlig neues Vertrauen in die Lebendigkeit der eigenen Organisation und die Akteure, das Vertrauen, dass sie die das tun werden, was jetzt nötig und was erfolgreich sein kann. Solche Organisationsformen arbeiten mit Verschwendung und stehen damit in einem anderen Muster als die Teile im Unternehmen, bei denen es gerade um Verschwendungsminimierung geht. Wenn man aber Startup-Qualitäten im eigenen Unternehmen realisieren möchte, dann wird man diesen Weg gehen müssen. Die Realisierung agiler Arbeitsformen wird derzeit noch stark als ein Geschehen innerhalb eines Unternehmens betrachtet, aber es gibt bereits erfolgreiche Modelle, in denen die Unternehmensgrenze überschritten wird und Nicht-Angehörige der Organisation für Ziele, Aufgaben Themen des Unternehmens arbeiten. Heute oft noch, weil sie sich leidenschaftlich für eine Fragestellung interessieren und in den Unternehmen Chancen finden, an ihrem Thema zu arbeiten, sich als wirksam zu fühlen und für eine Zeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter zu gehören.

Die Investition Microsofts in die Encarta Enzyklopädie, in der Heerscharen von Ingenieuren und Wissensträgern beschäftigt wurden, um eine Online-Enzyklopädie zu schaffen wurde in kürzester Zeit vom Modell Wikipedia vernichtet. Es gibt keine Encarta mehr, aber es gibt eine sich weitgehend selbstregulierende Wikipedia.

Welche Probleme wirft eine solche Entwicklung für die HR-Community und die Organisationsentwickler auf?

 

Es wird von großer Bedeutung sein, das eigene Unternehmen emotional zu positionieren und den zugehörigen Menschen und denen, die sich nur zeitweise zugehörig fühlen, einen Sinnkern anzubieten, der ihnen vermittelt, zu wem sie gehören, für was sie stehen und in was sie glauben. Dieser gemeinsame Rückhalt in einer formulierten kulturellen Verankerung, die sich heute in Zeiten der wachsenden Diversität nicht mehr national, ethnisch oder religiöse begründen kann ist die notwendige Basis, um Einheitlichkeit von Verhalten und Agieren gewährleisten zu können. Je mehr Freiheitsgrade gegeben sind, desto stärken muss das überzeugte Wissen sein, ich bin hier an einem guten Ort.

Es wird Unternehmen nicht erspart bleiben, die gesellschaftliche Wertedebatte auch intern zu führen und dabei die besondere Leistung der Inklusion zu erbringen. Und in sich schnell wandelnden Verhältnissen ist dies keine Aufgabe, die man einmal erledigen kann, sie ist eine dauernde Pflicht der Selbstvergewisserung. Den Organisationsentwicklern und HR-Akteuren kommt hier eine große Bedeutung zu, denn sie müssen die Formate liefern, in denen das immer wieder attraktiv geschehen kann. Die Corporate Brand als lebendiger Kristallisierungspunkt für die unterschiedlichen Formen der Unternehmenszugehörigkeit, als Akteur im Unternehmen, als Akteur außerhalb des Unternehmens. Dabei werden wir vermeiden müssen, die eine Geschichte, und nur die eine Geschichte zu erzählen. Öffnend ist die Geschichte, die neue Geschichten enthält und die für neue Geschichten öffnet. Widerspruch als Qualität!

Neue Führung

Wie führt man denn, wenn Selbstorganisation und Selbstbestimmung zu leitenden Prinzipien in der Organisation werden? Hier wird etwas erwartet, was die Schwierigkeiten von mehrlagigen Matrixorganisationen um ein Vielfältiges überschreitet. Unsere Unternehmensverfassungen zielen auf kontrolliertes Zusammenwirken. Managern und »Leadern« wird diese Kontrollfunktion übergeben, sie werden dabei durch ein in den Jahren stetig wachsendes Regelwerk unterstützt. Die Klage lautet überall, die Kontrollmechanismen machen uns unflexibel, innenorientiert und nehmen uns die Verantwortung. Die neuen Organisationsformen machen Kontrolle deutlich schwieriger, die Mechanismen greifen so nicht mehr. Dennoch bleiben Kontrollaufgaben bei der Führung – Zielerreichung, Budgetkontrolle, Compliance etc.

Wir verlangen von der Führung heute ein bipolares Verhalten – einerseits gute Manager und anderseits fähig, eine freie Organisationsform bei deutlich abnehmender Positionsmacht zu »führen«. Ließe sich das erste noch über »Skills« abbilden und die bekannten Kompetenzprofile, wird es für die zweite Aufgabe schon schwieriger: Sie verlangt vor allem Persönlichkeitsbildung und stellt uns so vor die Frage: Haben wir eigentlich die Führungskräfte, die das leisten können? Es geht darum, Menschen Vertrauen zu schenken und es zu erhalten, es geht um Inspiration, um Einladen, Verführen, Menschen gewinnen, um Zusammenfügen, Anregen, herausfordern und in Bezug auf einen selbst geht es darum, ein hohes Maß an Volability zu gewinnen – die Fähigkeit inmitten des steten Wechsels, der Widersprüche immer wieder Orientierung zu finden – auch wenn es manchmal eine 180° Kehrtwende verlangt. Und dann wieder das Schwerste, zu vertrauen, wissend, dass man sich selbst mit dem Vertrauen verletzlich macht.

Für uns und die HR-Community geht es nun darum, Formen zu entwickeln, die es möglichen Führungskräften erlauben, ihre Persönlichkeit zu bilden, die sich mit ihren Glaubenssätzen, Lebenserfahrungen, Verletzungen auseinandersetzen und zu reflektieren vermögen, was sie mit Menschen tun, wenn sie etwas tun. Sicher kommt einem Coaching in den Sinn – wohl anders als das Coaching für Problemfälle oder das Coaching als Karrierebeschleuniger. Um eine Wirkung in die Organisation haben zu können, wohl eher ein Kleingruppencoaching, in dem Vertrauen und Offenheit sehr konkret erfahren wird. Sicher ist, dass die üblichen Führungstrainings inhaltlich auf diese Situation nicht ausgerichtet sind. Und die standardmäßige Typisierung mit dem MBTI ist sicher nicht hinreichend. Campuskonzepte zeigen Wirkung, die Notwendigkeit von Wiederholung, Menschen immer und immer wieder mit den Herausforderungen zu konfrontieren, wird wichtig sein.

Es ist nun zehn Jahre her, dass wir mit der Kunstakademie Schloss Solitude ein Bildungsangebot für besonders talentierte Führungskräfte entwickelt haben. Sie sollten unter den Künstlern der Solitude, dort lebend, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen. In der Zeit wurden sie durch Reflexionen begleitet. Sie gingen, die sehr wenigen, durch eine Krise, denn das verlässliche Rahmenwerk des Unternehmens war weggefallen und es war schwer, jenseits der Planungen, Ziele, Prozesse der eigenen Organisation, Verantwortung zu übernehmen für etwas, das sinnvoll ist, und dazu die eigene Motivation aufzubauen. Solche Formate werden wohl hilfreich sein, wie wohl auch die bewährten Führungsreisen, die wirklichen out of the box social responsibility Projekte.

Mehr noch werden aber endlich die Konzepte und Erfahrungen der Supervision in die Unternehmen Einzug halten. Es ist ein Vorgehen, das für soziale Berufe in herausfordernden zwischenmenschlichen Aufgaben entwickelt wurde. Es erlaubt eine konkrete Reflexion über eine aktuelle Situation, gibt die Chance, den eigenen Status zu bestimmen und deutlicher wahrzunehmen, was in der Führungssituation geschieht und was in meinem Inneren Theater geschieht. Ein Verfahren, das sich sehr bewährt hat und Chancen bietet, Wissen und Können zu entwickeln für Situationen, in denen es den Rat noch nicht gibt, weil sie neu sind. So erfüllt eine Supervisionssituation für Einzelne und für Gruppen die Chance zu einem Lernen zweiter Ordnung – und das werden wir brauchen, denn mit der Hierarchie ist auch der alleswissende Ratgeber in eine Vertrauens- und Glaubenskrise geraten.

Ein neuer Individualisierungsschub

In den so begeisterten Diskussionen über eine Reduzierung von Hierarchie, einer neuen Legitimierung von Führung durch demokratische Modelle, der endlich möglichen Lösung für das Motivationsproblem, wird die Schattenseite gerne vergessen. Hierarchie und Bürokratie waren immer auch schützend – nehmen wir den Schutz weg, fällt alle Verantwortung auf das Individuum und wir verlagern die Last vom System auf die Akteure – ein weiterer Individualisierungsschub. Der ist unvermeidlich, wollen wir unsere Organisationen flexibler, anpassungsfähiger, überraschender machen.

Zugleich wissen wir, wie hoch die Belastung für Einzelne schon heute ist. Wir bauen Organisationen um, von einem Bild der Burg mit festen Grenzen, klar gegliederten Räumen, einer ausgeprägten Binnenorganisation, beschriebenen Positionen hin zu einem flexiblen nomadisierenden Verbund. Was brauchen Menschen, wenn der Rahmen immer weniger orientiert, leitet und schützt (solange man die Regeln einhält). Stützende Konzepte für den einzelnen Akteur sind gefragt, und es ist nicht beliebiger Zufall, dass alles, was mit Meditation, östlicher Achtsamkeitslehre, buddhistisch orientierten Sinnsprüchen verbunden ist, breiten Raum in den sozialen Medien einnimmt. Sie konzentrieren sich auf Selbstfürsorge und auf Methoden, inmitten von Belastungen stabil und resilient zu sein.

Es wird Zeit, sich den bisher zu oft als esoterisch ausgeschlossenen Arbeitsformen zu öffnen. Dazu gehört die Meditation oder westliche Kontemplation, wie Verfahren des MBSR. Um dies in Organisationen hoffähig zu machen, wird eine Einsicht wichtig sein: sich selbst als verletzlich und unsicher zu akzeptieren und das Bild des »Führers« als einer stets wissenden und stets selbstgewissen Institution zu verabschieden.

Rüdiger Müngersdorff