Ngũgĩ wa Thiong’o: Herr der Krähen

Ngũgĩ wa Thiong’o, geboren 1938 in Kenia und einer der vielen Anwärter auf den Literaturnobelpreis, erlebte als Jugendlicher noch den Kampf seines Landes für die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft Großbritanniens mit, unter dem seine Familie stark litt. Später, Ende der 70er-Jahre, wurde Thiong’o selbst wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit verhaftet und gefoltert, obwohl Kenia da längst unabhängig war. Einige seiner Werke schrieb er auf Toilettenpapier im Gefängnis. Er kennt also despotische Regimes sozusagen von innen und aus erster Hand.

In seinem 2006 im Original erschienenen Roman »Herr der Krähen«, den er in seiner Muttersprache schrieb, schildert er ein solches Regime in einem fiktiven, Aburĩria genannten afrikanischen Staat. Zwar spitzt er dabei die Mechanismen, die in so einer Regierung am Werk sind, sehr satirisch zu, aber dadurch destilliert er sie auch in einer Weise, sodass das, was übrig bleibt, unheimlich echt wirkt und solche Systeme in letzter Konsequenz offenlegt.

Da ist etwa das Gebaren der Minister des aburĩrischen Alleinherrschers, die sich stets gegenseitig darin überbieten, sich bei ihm einzuschmeicheln, und dadurch einen Wettkampf erzeugen, in dem alle Regeln der Vernunft außer Kraft gesetzt sind. Als also jemand die Idee aufbringt, in Aburĩria das höchste Gebäude der Welt zu bauen – so hoch, dass es bis ins Weltall führt und der Herrscher sich mit Gott treffen kann –, traut sich keiner, darauf hinzuweisen, wie absurd und unrealistisch das Projekt ist, weil er dadurch Zweifel an der Größe des Herrschers äußern würde. Abgesehen davon geht es den Ministern in ihrem Machtkampf längst nicht mehr um den Staat, geschweige denn die Bevölkerung, sondern nur noch um persönliche Bereicherung.

Die Hoffnungsträger in dieser Politsatire sind der arbeitslose MBA-Absolvent Kamĩti und die politische Aktivistin Nyawĩra, zwischen denen sich eine Liebesgeschichte entspinnt. Durch Zufall wird Kamĩti von einem Tag auf den anderen für einen mächtigen, gefährlichen Zauberer, den Herrn der Krähen, gehalten, den selbst der Herrscher und seine Minister fürchten, auch wenn sie es nicht zugeben. So gelingt es Kamĩti und Nyawĩra, das »Marching to Heaven«-Projekt gewaltig durcheinanderzubringen.

Durch die Versuche des Herrschers, Gelder für das Projekt von der »Global Bank« in New York zu bekommen, zeigt Thiong’o eindrücklich, wie sehr die frühere Herrschaft der europäischen Kolonialmächte heute in vielen afrikanischen Ländern lediglich durch eine indirektere Herrschaft des internationalen Kapitals ersetzt wurde. Durch die Figur Nyawĩras und ihren Einsatz für die Rechte der Frauen in Afrika macht Thiongo klar, dass mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit nur möglich ist, wenn auch Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht und Frauen Zugang zu Bildung haben.

Insgesamt ist der Roman etwas lang – knapp 950 Seiten – und auch nicht frei von Wiederholungen, was oft darauf zurückgeführt wird, dass der Roman in der Tradition afrikanischer mündlicher Erzählweisen steht. Er ist aber trotzdem überwiegend spannend, unterhaltsam und berührend zu lesen und frei von jeder Bitterkeit oder Anklage, als wäre der Autor darüber längst hinaus.

Im Nachwort schreibt Thiong’o, der seit den 80er-Jahren im Exil und heute in den USA lebt, dass seine Schilderung der Diktatur in Aburĩria zu einem großen Teil auf Erfahrungen zurückgehe, die er in den 1980er-Jahren in London im Kampf um die Befreiung politischer Gefangener in Kenia gemacht habe. Die Mechanismen, die er beschreibt, dürften aber nicht nur in allen Diktaturen, die es auf der Welt gibt und je gegeben hat, am Werk sein, sondern einige davon auch in demokratischen Staaten.

Ngũgĩ wa Thiong’o: Herr der Krähen
Deutsch von Thomas Brückner
Fischer Taschenbuch 2013 | 944 Seiten

Sabine Anders

Bruce Chatwin: Der Vizekönig von Ouidah

»To lose a passport was the least of one’s worries: to lose a notebook was a catastrophe.« (Bruce Chatwin: »The Songlines«)

Der englische Schriftsteller Bruce Chatwin reiste für Interviews und Berichte um die ganze Welt. Seine berühmten Notizbücher, die ihn überall hin begleiteten, nannte er liebevoll »carnets moleskines«. Im Jahr 1977 brach er in die Volksrepublik Benin auf, um über den Sklavenhändler Francisco Felix de Souza zu recherchieren. Beim Verlassen des Landes geriet er in einen Putsch und wurde verhaftet. Nach seiner Freilassung verließ er Westafrika ohne jemals dorthin zurückzukehren. Er sei mit dem »Skelett der Geschichte und einer Reihe lebhafter Eindrücke davon gekommen«, schrieb er damals.

Die Edition Büchergilde hat anlässlich des 75. Geburtstages von Bruce Chatwin im Mai dieses Jahres die ebenso grausame wie phantastische Geschichte des »Vizekönigs von Ouidah« in einem meisterhaft gestalteten Prachtband neu herausgegeben. Die Illustrationen stammen von Sylvie Ringer, deren Arbeiten im In- und Ausland mehrfach ausgezeichnet wurden.

Aus fast allen Teilen Westafrikas strömen die zahlreichen Angehörigen des da-Silva-Clans herbei, um sich anlässlich des 117. Todestages von Francisco Manoel da Silva, Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, im trivialen sozialistischen Ouidah zu treffen. Die exotische Aura von einst hat längst Risse bekommen, der Glanz des Geschlechts ist unwiederbringlich verblasst. Da Silvas letzte Tochter Eugenia, genannt Mama Wéwé, liegt im Sterben. Der Leser lernt ihren beachtenswerten Charakter kennen und folgt ihren diffusen Erinnerungen an ihren Vater: von der grausamen Kindheit, dem stumpfsinnigen Kleinbauern bis hin zum Aufstieg in die feine Gesellschaft. Sein Leben führt durch Brasilien, Pampa, Bahia, Westafrika bis nach Dahomey. Da Silva avanciert zum skrupellosen Handelsherrn mit unredlicher Handelsware. Sein übertriebener Größenwahn treibt ihn nahe an den tiefen Fall und Verfall.

Chatwin fabuliert aus einer opulent überbordenden Sprach-Schatzkiste, in der es nicht einfach nur heiß ist: Da verwest man bei lebendigem Leibe, watet in unendlichen Exkrementen oder begegnet farbenprächtigen exotischen Tieren. Des Lesers Phantasie malt düstere Bilder von finsteren, schwülen Verliesen, sieht einen sadistischen Stammesführer toben und ekelt sich vor Geschwüren, die partout nicht heilen wollen. Wen das nicht in den Wahnsinn treibt …

Chatwin verwischt die Grenzen zwischen den historisch belegten Passagen um die Ansiedlung der Sklaven aus Brasilien in der Heimat ihrer Vorfahren und der Fiktion um die schillernde Figur des berüchtigten Sklavenhändlers. Mit seinen prachtvollen Metaphern spricht er gleichzeitig die Faszination an, die diese andersartige Welt provoziert.

Genau hier setzen die Bilder von Sylvie Ringer an, die mit ihrem mannigfaltigen Farbenspiel dieser Ausgabe die Krone aufsetzen. Mit lebhaften Strichen fangen ihre Buntstifte, Kohle und Pastellkreide die fremde Atmosphäre ein und verewigen die eindringliche Stimmung. Sylvie Ringer lässt neben der wilden Vegetation Orte und Geister eindrucksvoll lebendig werden – vom Einband über das Vorsatzpapier bis hin zum letzten Detail; und sei es nur der zerknitterte Lederrucksack, der Chatwin auf seinen Reisen begleitet.

Buchgestalterin Cosima Schneider vollendete den Buchgenuss, indem sie Afrikas Urwald bis in den Schriftsatz holte und die Buchstaben »st« nun an eine verschlungene Liane erinnern. Ein vorzeigbares Kleinod, das wie Chatwin auf Reisen gehen sollte, ist es doch viel zu schade, um nur im Bücherregal zu stehen.

Bruce Chatwin: Der Vizekönig von Ouidah | Illustrationen: Sylvie Ringer
Edition Büchergilde 2015 | 200 Seiten

Renate Bojanowski