Bruce Chatwin: Der Vizekönig von Ouidah
»To lose a passport was the least of one’s worries: to lose a notebook was a catastrophe.« (Bruce Chatwin: »The Songlines«)
Der englische Schriftsteller Bruce Chatwin reiste für Interviews und Berichte um die ganze Welt. Seine berühmten Notizbücher, die ihn überall hin begleiteten, nannte er liebevoll »carnets moleskines«. Im Jahr 1977 brach er in die Volksrepublik Benin auf, um über den Sklavenhändler Francisco Felix de Souza zu recherchieren. Beim Verlassen des Landes geriet er in einen Putsch und wurde verhaftet. Nach seiner Freilassung verließ er Westafrika ohne jemals dorthin zurückzukehren. Er sei mit dem »Skelett der Geschichte und einer Reihe lebhafter Eindrücke davon gekommen«, schrieb er damals.
Die Edition Büchergilde hat anlässlich des 75. Geburtstages von Bruce Chatwin im Mai dieses Jahres die ebenso grausame wie phantastische Geschichte des »Vizekönigs von Ouidah« in einem meisterhaft gestalteten Prachtband neu herausgegeben. Die Illustrationen stammen von Sylvie Ringer, deren Arbeiten im In- und Ausland mehrfach ausgezeichnet wurden.
Aus fast allen Teilen Westafrikas strömen die zahlreichen Angehörigen des da-Silva-Clans herbei, um sich anlässlich des 117. Todestages von Francisco Manoel da Silva, Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, im trivialen sozialistischen Ouidah zu treffen. Die exotische Aura von einst hat längst Risse bekommen, der Glanz des Geschlechts ist unwiederbringlich verblasst. Da Silvas letzte Tochter Eugenia, genannt Mama Wéwé, liegt im Sterben. Der Leser lernt ihren beachtenswerten Charakter kennen und folgt ihren diffusen Erinnerungen an ihren Vater: von der grausamen Kindheit, dem stumpfsinnigen Kleinbauern bis hin zum Aufstieg in die feine Gesellschaft. Sein Leben führt durch Brasilien, Pampa, Bahia, Westafrika bis nach Dahomey. Da Silva avanciert zum skrupellosen Handelsherrn mit unredlicher Handelsware. Sein übertriebener Größenwahn treibt ihn nahe an den tiefen Fall und Verfall.
Chatwin fabuliert aus einer opulent überbordenden Sprach-Schatzkiste, in der es nicht einfach nur heiß ist: Da verwest man bei lebendigem Leibe, watet in unendlichen Exkrementen oder begegnet farbenprächtigen exotischen Tieren. Des Lesers Phantasie malt düstere Bilder von finsteren, schwülen Verliesen, sieht einen sadistischen Stammesführer toben und ekelt sich vor Geschwüren, die partout nicht heilen wollen. Wen das nicht in den Wahnsinn treibt …
Chatwin verwischt die Grenzen zwischen den historisch belegten Passagen um die Ansiedlung der Sklaven aus Brasilien in der Heimat ihrer Vorfahren und der Fiktion um die schillernde Figur des berüchtigten Sklavenhändlers. Mit seinen prachtvollen Metaphern spricht er gleichzeitig die Faszination an, die diese andersartige Welt provoziert.
Genau hier setzen die Bilder von Sylvie Ringer an, die mit ihrem mannigfaltigen Farbenspiel dieser Ausgabe die Krone aufsetzen. Mit lebhaften Strichen fangen ihre Buntstifte, Kohle und Pastellkreide die fremde Atmosphäre ein und verewigen die eindringliche Stimmung. Sylvie Ringer lässt neben der wilden Vegetation Orte und Geister eindrucksvoll lebendig werden – vom Einband über das Vorsatzpapier bis hin zum letzten Detail; und sei es nur der zerknitterte Lederrucksack, der Chatwin auf seinen Reisen begleitet.
Buchgestalterin Cosima Schneider vollendete den Buchgenuss, indem sie Afrikas Urwald bis in den Schriftsatz holte und die Buchstaben »st« nun an eine verschlungene Liane erinnern. Ein vorzeigbares Kleinod, das wie Chatwin auf Reisen gehen sollte, ist es doch viel zu schade, um nur im Bücherregal zu stehen.
Bruce Chatwin: Der Vizekönig von Ouidah | Illustrationen: Sylvie Ringer
Edition Büchergilde 2015 | 200 Seiten
Renate Bojanowski