Daniel Galera: Flut
Sein Vater erschießt sich in seinem Beisein und bittet ihn zuvor, seine alte Schäferhündin Beta einzuschläfern.
Du hältst das aus. Du bist etwas Besonderes. – Halt den Mund – Ernsthaft, ich bin sehr stolz auf dich. Niemand sonst käme dafür in Frage. – Ich habe nein gesagt. – Ich hätte viel schlimmere Dinge von Dir verlangen können. – Dass du dich mit deinem Bruder verträgst zum Beispiel … Ich an deiner Stelle würde ihm nicht verzeihen. – Gut zu wissen. – Aber mit Beta darfst du mich nicht im Stich lassen … – Ich habe nein gesagt. Nein …
Er bringt es nicht übers Herz, denn sie ist die Einzige, die ihm neben seiner rätselhaften Sehnsucht nach Läuterung bleibt. Die mysteriöse Geschichte vom Verschwinden seines Großvaters macht ihn ebenso betroffen wie rastlos und lässt ihn im Verlauf der Ereignisse ungeahnte Kräfte entwickeln. Er bricht in den Süden auf und mietet sich im kleinen Örtchen Garopaba an der Küste ein. Mit Leidenschaft arbeitet er in einem Fitness-Club als Sportlehrer, lernt Dália kennen, unternimmt lange Wanderungen mit der Hündin oder schwimmt mit ihr weit ins offene Meer hinaus. Aber das Familiengeheimnis um das Verschwinden des Großvaters lässt ihn nicht los, hat er doch gar nicht so zufällig in dieser Gegend gelebt.
Ein neurologischer Defekt erschwert die Suche des Protagonisten: Er kann sich keine Gesichter merken. Mit seinen Nachforschungen stößt der namenlose Roman-Held bei den meisten Einwohnern des Dorfes auf Ablehnung und Misstrauen. Von wem wird er bedroht? Auf wessen Hilfe kann er sich verlassen? Gerüchte gehen um. Im weiteren Fortgang der Geschichte droht dem anonymen jungen Mann gar dasselbe Verhängnis wie seinem Großvater. Doch was ist ihm zugestoßen? Ist er gar noch am Leben?
»Flut« heißt dieser bei Suhrkamp erschienene spannende Roman des brasilianischen Autors Daniel Galera, mit dem er sich erstmals auch dem deutschsprachigen Leser vorstellt. Der 1979 geborene, in Porto Alegre lebende Schriftsteller kann bisher auf Erzählungen, eine Graphic Novel und drei Romane verweisen, die mehrfach ausgezeichnet, verfilmt und im Theater aufgeführt wurden. Im Mittelpunkt seines neuen Buches stehen die Schicksalsschläge des besagten namenlosen jungen Mannes und Regen, Regen und nochmals Regen …
Der Roman strotzt nur so vor Kraft und Vitalität. Seine sprachlichen Bilder sind fein dosiert und unterstreichen in betörender Weise den geheimnisvollen Sog, in den der Leser mit dem Fortgang der Geschichte gerät. Man begegnet sorgsam gestalteten Charakteren, freundet sich an, wägt ab, bangt und hofft, philosophiert, genießt die Nuancen der Stille. Verrät man jemanden, wenn man sich seinem letzten Willen widersetzt? Welchen Stellenwert besitzt das Verzeihen? Ist es wünschenswert, nötig oder gar überflüssig? Muss man einem Bruder verzeihen, der einem die Frau weggenommen hat?
Auch der unbedarfte Leser, der anfangs mit dem Protagonisten fremdelt, sorgt sich spätestens am Ende um seinen Seelenfrieden. Die dritte Person, in der Galera von seinem Helden spricht, hält die Distanz zum Erzähler, behält den Leser bewusst in der Beobachterrolle und lässt das Handycap des Gesichter-Vergessens omnipräsent sein.
Der vorangestellte Epilog verleiht der Geschichte einen einzigartigen Spannungsbogen. Das Ende beschert der Literaturwelt einen aufrechten Charakter mit Rückgrat, unangepasst und ehrlich sein Ziel verfolgend – aller über ihn hereinbrechenden Fluten trotzend. Übersetzer Nicolai von Schweder-Schreiner sorgte mit seiner einfühlsamen Übertragung ins Deutsche für fließenden Lesegenuss. Möge dieses Buch eine Flut von Lesern anziehen.
Daniel Galera: Flut
Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner | Suhrkamp 2013 | 425 Seiten
Renate Bojanowski