Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg
Vielleicht ist jenes Bedürfnis
tatsächlich unstillbar,
das uns selbst in enzyklopädisch gesicherten Gebieten
nach dem Unbekannten, Unbetretenen,
von Spuren und Namen noch Unversehrten suchen läßt –
nach jenem makellos weißen Fleck,
in den wir dann ein Bild unserer Tagträume
einschreiben können.
Bei diesem Zitat handelt es sich nicht um einen dichterischen Einschub. »Der fliegende Berg« ist ein Roman, aber im so genannten Flattersatz verfasst, in freien Versen. Lesern, die Angst vor Lyrik haben, sei gesagt, dass der poetische Gestus den Lesefluss keineswegs stört; man wird höchstens manche Sätze zweimal (oder noch viel öfter) lesen wollen, weil sie sich so schön anhören und man bei Ransmayrs Formulierungskunst verweilen möchte.
Wenn man »Der fliegende Berg« beschreiben will und sagt, es geht um zwei Brüder, die nach Tibet zum Bergsteigen gehen, weil sie meinen, einen noch unbekannten Gipfel entdeckt zu haben, so kann das vollkommen falsche Assoziationen wecken. Zwar ist es richtig, dass sich die beiden irischen Brüder Patrick und Liam aus ihrer insularen Heimat aufmachen, um einen Gipfel in Tibet zu suchen, den sie auf Liams Bildschirm entdeckt haben.
Ihr Motiv dabei ist jedoch nicht, durch Erstbesteigung Weltruhm zu erlangen oder einen professionellen Ehrgeiz als Meister im Klettern zu befriedigen. Im Gegenteil – Liam ist in der Computerbranche tätig und trotz seines Wohnortes auf der abgelegenen Insel Horse Island global vernetzt; Patrick fährt zur See und begleitet Liam nur nach zäher Überredung. Was die beiden bewusst oder unbewusst treibt, sich nach langen Jahren, in denen sie sich kaum gesehen haben, gemeinsam dieses anscheinend verrückte Abenteuer anzugehen, ist die Suche nach jenem eingangs erwähnten weißen Fleck.
Der Leser erfährt die Geschichte der beiden ausschließlich aus Patricks Sicht. Liam ist zu Beginn der Erzählung bereits tot, und Patrick in der Rolle des Ich-Erzählers ganz damit beschäftigt, dieses Erlebnis und seine mögliche Schuld daran zu verarbeiten, sowie seinen Bruder überhaupt zu verstehen.
Ohne dass man Patrick in die Riege der unzuverlässigen Erzähler der Literaturgeschichte einreihen könnte, wird man als Leser vielleicht doch manchmal neugierig, was Liam eigentlich zu all dem gesagt hätte. Liam bleibt eine rätselhafte Figur, das Verhältnis der beiden Brüder stets faszinierend. Ihre unerwartete gemeinsame Unternehmung und Liams Tod führen Patrick zurück in die Vergangenheit. Nach und nach erfährt der Leser die Familiengeschichte der beiden, in die nicht zuletzt auch die irische Geschichte hineinspielt.
»Der fliegende Berg« ist ein überaus vielseitiges Buch, das eine Vielfalt von Themen anspricht – unter anderem den Wander- und Entdeckungsdrang der Menschheit, Verhalten in Extremsituationen, politische Unterdrückung, das Verhältnis von Technologie und Mythos, das Auseinanderleben von Geschwistern – diese aber stets auf höchst gelungene Weise miteinander verknüpft, sodass man als Leser einen Eindruck von Rundheit gewinnt.
Patrick und Liam schließen sich einem tibetischen Clan an, der sie durchs Hochland führt. Während Liam sich ganz auf das ursprüngliche Ziel ihrer Reise konzentriert, beginnt Patrick, sich für die Bräuche und Traditionen des Clans zu interessieren und entfremdet sich zunehmend von seinem Bruder. Schon bald entwickelt Patrick eine Beziehung zu einer der Frauen des Clans, die ihn vor allem in die Bedeutung und Aufgabe der Schrift einweiht – nicht irgendeiner bestimmten Schrift, sondern dem Lesen und Schreiben an sich als Überwindung der Zeitgebundenheit aller menschlichen Existenz, als
einer Arznei gegen die Sterblichkeit,
die zwar nicht heilen,
aber doch lindern konnte.
Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg
Deutsch | Fischer 2006 (3. Auflage) | 344 Seiten
Sabine Anders