Annie Ernaux: Der Platz/Die Jahre
Woher wir kommen, das meinen wir in der Regel ziemlich genau zu wissen. Wohin wir gehen, wissen wir nicht. Wir wissen bestenfalls, wohin wir gehen wollen. Es bliebe dann aber noch die Frage, ob man auch die Chance hat, dorthin zu gelangen, wohin man will. Das wiederum hängt zu einem großen Teil davon ab, woher wir kommen. Gedanken, die ich vor einigen Jahren in einem Buch über das männliche Klimakterium niederschrieb und die mich bis heute beschäftigen.
Wohl deshalb lande ich bei der Auswahl meiner Lektüre immer wieder beim Thema Herkunft. Mein Interesse daran hat weniger mit Nostalgie zu tun, sondern vielmehr damit, dass sich bei näherer Betrachtung der eigenen Geschichte immer auch Antworten finden, die relevant sind für Gegenwart und Zukunft. Wunderbare Möglichkeiten für eine solche Entdeckungsreise bieten die Bücher »Der Platz« und »Die Jahre« von Annie Ernaux.
In »Der Platz«, das im Original bereits 1983 erschien, arbeitet die französische Schriftstellerin auf knapp 100 Seiten die Biographie ihres Vaters auf, der wenige Monate vor Beginn des 20. Jahrhunderts in der Normandie das Licht der Welt erblickte und dort als Sohn eines Fuhrmanns in äußerst bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Steter Begleiter seines gesellschaftlichen Aufstiegs zum Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens ist die Angst, wieder in diese einfachen Verhältnisse abzurutschen.
Die Tochter (Annie Ernaux) soll es natürlich besser haben. Was ihr auch gelingt. Sie studiert, wird Lehrerin, liest viel, kommt weit herum, heiratet einen Intellektuellen, steigt ins Bildungsbürgertum auf und entfernt sich damit immer weiter von der provinziellen Welt ihrer Eltern – mit ihren spießigen Nöten und begrenzten Sichtweisen (was hier aber keineswegs despektierlich gemeint ist).
Und so beschreibt Annie Ernaux nicht nur die wesentlichen Ereignisse im Dasein ihres Vaters, sondern schließlich auch die immer größer werdende Kluft zwischen ihrem Leben und dem Leben ihrer Eltern. Beides gelingt ihr stilistisch meisterhaft, mit einer erstaunlichen Beobachtungsgabe und auf eine Weise, die tief berührt.
Als »eine lebensverändernde Lektüre« preist der Suhrkamp Verlag das Buch an (ein Zitat von Didier Eribon). In der Tat lädt »Der Platz« immer wieder ein zur Selbstreflektion und macht vieles verständlich, sowohl in den Konflikten zwischen den Generationen als auch in den Gegensätzen ländlichen und urbanen Lebens.
In ihrem Bestsellerroman »Die Jahre«, der 2008 auf französisch erschien, durchleuchtet Annie Ernaux u.a. anhand alter Fotografien ihr eigenes Leben: ihre Kindheit in der Nachkriegszeit, ihre Zeit an der Universität, ihre schriftstellerischen Ambitionen (inklusive der üblichen Selbstzweifel), Eheleben, Mutterschaft, Scheidung, Emanzipation, das Altern. Sie erzählt ihre Geschichte nicht in Ich-Form, sondern schreibt von »ihr« und über »sie« und schafft so beim Erzählen eine angenehme Distanz zu dem Erlebten.
Verknüpft sind ihre privaten Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen mit wichtigen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen, aus französischer Sicht, für die deutschsprachige Leserschaft deswegen aber nicht minder spannend: Algerienkrise, de Gaulle, Studentenunruhen, Globalisierung, 9/11. Ihre Erinnerungen bieten viele Momente des Wiedererkennens, und über diese Erinnerungen, das macht »Die Jahre« besonders lesenswert, stellt Annie Ernaux tiefgreifend die Frage nach der Bedeutung und Vergänglichkeit des eigenes Lebens und Wirkens.
All das wird innerhalb einer Sekunde vergehen. Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich. Die Sprache wird die Welt weiter in Worte fassen. Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet.
»Der Platz« und »Die Jahre« zählen für mich zu den schönsten Leseerfahrungen des Jahres 2019. Mit »Eine Frau« liegt bereits ein drittes Buch von Annie Ernaux auf deutsch vor und auch schon auf meinem Lesestapel.
Annie Ernaux: Der Platz | Deutsch von Sonja Finck
Suhrkamp 2019 | 94 Seiten
Annie Ernaux: Die Jahre | Deutsch von Sonja Finck
Suhrkamp 2017 | 255 Seiten
Holger Reichard