Supervisionen: Besuche an Orten moderner und hypermoderner Kunst
In Berlin bilden sich Schlangen vor einer Ausstellung, in der expressionistische und impressionistische Malerei verglichen werden. Ein sehr geregeltes Kunsterlebnis – es handelt sich um gut eingeordnete, bekannte Kunst. Überforderung, Irritation oder Überraschungen sind ausgeschlossen. Hier dagegen ist es leer und still. Skulpturen und Performances, von denen noch niemand weiß, was sie uns denn sagen könnten. Skulpturen, die nicht eingeordnet sind und ohne Kommentar im Raum stehen. Während die Berliner Ausstellung das Bekannte und Bewertete in die Aufmerksamkeit rückt, begegnen wir hier etwas anderem: Offenheit und einem Unbestimmten. Wir müssen selber Stellung beziehen und sind durch keinerlei offizielle Interpretation vom Mut zur eigenen Meinung entlastet. Wir sind zu einem eigenen Urteil aufgefordert.
Unternehmen suchen heute geradezu verzweifelt nach Innovation, Lebendigkeit, Kreativität und Agilität. Diese Orte hier können uns zeigen, was die Bedingung für all das ist: nämlich sich für etwas zu öffnen, das noch keinerlei Bewährungsprobe hinter sich hat, welches definitiv nicht »mehr desselben« ist, sondern etwas provokativ anderes. Etwas, das zu Auseinandersetzungen einlädt, Unsicherheit auslöst und dessen Bewertung risikoreich ist.
In einem solchen Kontext können neue Erfahrungen gemacht werden und können andere Perspektiven gefunden werden. Die Besuche hier sind eine Metapher für Unternehmen. Sie fordern auf, sich von dem zu lösen, was als schon bewährt gilt. Das ist ein Grund, warum ich diese Orte liebe. Und hier habe ich auch das Recht ratlos vor einer Skulptur zu stehen, die mir so gar nichts sagt. Um dann eine andere zu entdecken, die mir eine neue Perspektive eröffnet.
Was hat das denn mit Unternehmen zu tun, mögen Sie fragen. Ich erlebe Unternehmen heute noch in dem Versuch, dem oft erfolgreichen Versuch, transnational zu sein. Führung wird in einem inkludierenden Ansatz als global definiertes Verhalten verstanden und Gruppen aus verschiedensten Kulturen lernen dieses Musterverhalten. Nur: Unternehmen mögen zwar transnational und kulturell global sein, die Märkte aber sind multinational und werden gerade wieder vermehrt »multi« und divers. Da ist Unterschiedlichkeit, da ist Überraschendes, da ist Fremdes, manchmal Provokatives – wie in der Kunst in diesem Raum.
Ich habe auf meinen ausgedehnten Asienreisen und in der Begegnung mit vielen arbeitenden Menschen gelernt, dass wir uns mehr auf das »Multi« denn auf das »Trans« oder »Mono« konzentrieren sollten. Wenn wir uns auf gesichertes Wissen und auf bewährte Muster zurückziehen, werden wir das vielfältig Andere der Kulturen und Lebensweisen nie treffen und werden in einer Innenorientierung die Dynamik unserer schillernd vielfältigen Welt mit ihren Bedürfnissen verfehlen.
Und zurück zu Innovation, Agilität, Flexibilität – nur wer sich dem Neuen, noch Unbeschriebenen aussetzt, es in unserer Mitte zulässt, hat die Chance, eine Kultur der Offenheit zu schaffen. Und natürlich verstehe ich manches nicht, bin ratlos, suche nach dem Bewährten und zugleich weiß ich, gerade in diesen Begegnungen mit dem »anders als ich« verstehe ich Unterschiedlichkeit und es wird mir deutlich, ohne innere Vielfalt werden wir mit der Vielfalt des Außen, die lebendige und kreative Adaption erfordert, nicht zurechtkommen.
Rüdiger Müngersdorff