Leadership meets art – beyond tools and tricks

After the red moon von El Anatsui

Wir treffen uns in der Eingangshalle des Museums of Art Pudong in Shanghai. Wir, das sind eine Gruppe chinesischer Führungskräfte und Berater der SYNNECTA China. Unser Thema: Make my organization dance.
»After the red moon« von El Anatsui ist ein monumentales Kunstwerk. Um es zu erleben, benötigt es die Architektur heutiger Museen – flexibel in der Struktur, offen und weit im Inneren und die Grenze zwischen Außen und Innen aufbrechend. Es reflektiert, was Prinzipien einer gegenwärtigen Organisationsentwicklung sind: Transparenz und Kollaboration, nicht nur nach Innen. Wir blicken nach oben und erleben die teppichartigen Strukturen, die nur jetzt in diesem Raum und in diesem Morgenlicht so zu sehen sind – ein augenblickliches Erleben. Auch wenn das Werk an sich beständig ist, es ändert sich, je nach dem, wo und wann es gesehen wird. Mit diesem ersten Blick beginnt unsere reflexive Reise durch die Ausstellung. Erleben und Bedenken bildet den Rhythmus unseres Rundgangs. Zitate von El Anatsui geben uns zusätzliche Impulse:

»I use multiple elements to talk about the world: not a world made up of just one culture, but a world shaped by all of us coming together.«

Lange verweilen wir bei einem Satz, den wir beim Sehen eines der Werke auch erleben:

»The process was subverting the stereotype of metal as a stiff, rigid medium and rather showing it as a soft, pliable, almost sensous material, capable of attaining immense dimensions and being adapted to specific spaces.«

Wir verlassen die Ausstellung nach drei Stunden. Die Wirkung: Prinzipien für eine agile, flexible und dennoch fokussierte Organisation wurden nicht nur als Theorie verstanden, sondern in der Betrachtung der Werke auch sinnlich erlebt. Der sinnliche Referenzpunkt macht es erheblich wahrscheinlicher, dass es bei der Integration in die eigenen Realität nicht nur bei Worten bleibt.

Wann haben Sie sich das letzte Mal mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert?

Rüdiger Müngersdorff

Supervisionen: Besuche an Orten moderner und hypermoderner Kunst

In Berlin bilden sich Schlangen vor einer Ausstellung, in der expressionistische und impressionistische Malerei verglichen werden. Ein sehr geregeltes Kunsterlebnis – es handelt sich um gut eingeordnete, bekannte Kunst. Überforderung, Irritation oder Überraschungen sind ausgeschlossen. Hier dagegen ist es leer und still. Skulpturen und Performances, von denen noch niemand weiß, was sie uns denn sagen könnten. Skulpturen, die nicht eingeordnet sind und ohne Kommentar im Raum stehen. Während die Berliner Ausstellung das Bekannte und Bewertete in die Aufmerksamkeit rückt, begegnen wir hier etwas anderem: Offenheit und einem Unbestimmten. Wir müssen selber Stellung beziehen und sind durch keinerlei offizielle Interpretation vom Mut zur eigenen Meinung entlastet. Wir sind zu einem eigenen Urteil aufgefordert.

Unternehmen suchen heute geradezu verzweifelt nach Innovation, Lebendigkeit, Kreativität und Agilität. Diese Orte hier können uns zeigen, was die Bedingung für all das ist: nämlich sich für etwas zu öffnen, das noch keinerlei Bewährungsprobe hinter sich hat, welches definitiv nicht »mehr desselben« ist, sondern etwas provokativ anderes. Etwas, das zu Auseinandersetzungen einlädt, Unsicherheit auslöst und dessen Bewertung risikoreich ist.

In einem solchen Kontext können neue Erfahrungen gemacht werden und können andere Perspektiven gefunden werden. Die Besuche hier sind eine Metapher für Unternehmen. Sie fordern auf, sich von dem zu lösen, was als schon bewährt gilt. Das ist ein Grund, warum ich diese Orte liebe. Und hier habe ich auch das Recht ratlos vor einer Skulptur zu stehen, die mir so gar nichts sagt. Um dann eine andere zu entdecken, die mir eine neue Perspektive eröffnet.

Was hat das denn mit Unternehmen zu tun, mögen Sie fragen. Ich erlebe Unternehmen heute noch in dem Versuch, dem oft erfolgreichen Versuch, transnational zu sein. Führung wird in einem inkludierenden Ansatz als global definiertes Verhalten verstanden und Gruppen aus verschiedensten Kulturen lernen dieses Musterverhalten. Nur: Unternehmen mögen zwar transnational und kulturell global sein, die Märkte aber sind multinational und werden gerade wieder vermehrt »multi« und divers. Da ist Unterschiedlichkeit, da ist Überraschendes, da ist Fremdes, manchmal Provokatives – wie in der Kunst in diesem Raum.

Ich habe auf meinen ausgedehnten Asienreisen und in der Begegnung mit vielen arbeitenden Menschen gelernt, dass wir uns mehr auf das »Multi« denn auf das »Trans« oder »Mono« konzentrieren sollten. Wenn wir uns auf gesichertes Wissen und auf bewährte Muster zurückziehen, werden wir das vielfältig Andere der Kulturen und Lebensweisen nie treffen und werden in einer Innenorientierung die Dynamik unserer schillernd vielfältigen Welt mit ihren Bedürfnissen verfehlen.

Und zurück zu Innovation, Agilität, Flexibilität – nur wer sich dem Neuen, noch Unbeschriebenen aussetzt, es in unserer Mitte zulässt, hat die Chance, eine Kultur der Offenheit zu schaffen. Und natürlich verstehe ich manches nicht, bin ratlos, suche nach dem Bewährten und zugleich weiß ich, gerade in diesen Begegnungen mit dem »anders als ich« verstehe ich Unterschiedlichkeit und es wird mir deutlich, ohne innere Vielfalt werden wir mit der Vielfalt des Außen, die lebendige und kreative Adaption erfordert, nicht zurechtkommen.

Rüdiger Müngersdorff