Franziska Walther: Werther reloaded

Dem ehemaligen Gymnasiasten ist Johann Wolfgang Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« sicherlich noch als ungewollte Pflichtlektüre bekannt. Dass die Geschichte über Liebe und Verzweiflung zeitlos und jederzeit wieder aufgreifbar ist, bewies Ulrich Plenzdorf bereits mit seiner Adaption Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Hier liebt und leidet der halbwüchsige Edgar Wiebeau in der jugendlichen Umgangssprache der DDR.

Die in Weimar geborene freie Graphikdesignerin und Illustratorin Franziska Walther hat sich erneut mit dem Werther-Thema auseinandergesetzt. Dies geschieht in Form einer Graphic Novel. Doch das ist nicht die einzige Besonderheit ihres 2016 im Kunstanstifter-Verlag erschienenen Buches »Werther reloaded«. Die Illustratorin erzählt die tragische Geschichte nicht nach, sondern nutzt sie als Hommage.

Und so kommen die Geschehnisse in 2016 an: Werther hat sich in einen hippen Art-Director verwandelt und seinen Wohnsitz nach New York verlegt. Süchtig nach Genuss empfindet er sein Leben als sinnlos, feiert Partys und vergnügt sich bei One-Night-Stands. Der Werther von heute wird zerrieben von seinen immer wiederkehrenden quälenden Gedanken und Handlungen. Wie er sich gerade fühlt, kann man in sozialen Netzwerken verfolgen. Über all dem wacht, einem Helikopter gleich, seine Mutter. Merkt er das überhaupt noch?

Franziska Walther beginnt ihre Episode zeitgemäß und bedient sich dabei einer ganzen Palette von Klischees. Hier fragt sich der Leser noch nach dem Zusammenhang zwischen den farbenfrohen, zum Teil symbolhaften, Tempo suggerierenden Bildern und Goethes Briefen. Nach einem Zusammenbruch erholt sich Werther in der Natur. Hier wird der Leser zum ersten Mal mit Auszügen aus Goethes Briefen konfrontiert. Bilder mit entsprechenden »Likes« und »Hashtags« stellen den Bezug zu den sozialen Netzwerken her.

Während einer Party verliebt sich Werther in Lotte. Da diese genau wie in der Vorlage jedoch mit Albert liiert ist, gerät der inzwischen nach New York zurück gekehrte Werther in eine tiefe Depression und trägt sich mit Suizidgedanken. Wie der Art Direktor Werther seinen Konflikt löst, weicht von Goethes Original ab. Der moderne Leidende findet einen Weg … wenn auch ohne Lotte.

Auch wenn in Franziska Walthers Zeichnungen die Farbe Aubergine den dunklen Ton angibt, strahlen sie Wärme aus. Den dunkelsten Moment hält sie ganz kurz. Der Betrachter geht auf Entdeckungsreise, entschlüsselt die Symbole und erfreut sich an den beinahe naiv anmutenden Ideen. Und das auf jeder Seite neu.

Franziska Walthers Bildgeschichte erweckt die Lust, Goethes Briefe neu zu entdecken. Der Originaltext vom Maestro im Anhang macht’s möglich. Besonders einladend: das zart rosa Papier. Die beiden farblich abgestimmten Lesebändchen laden gar zum Hin- und Herblättern ein und sind das I-Tüpfelchen eines ganz feinen Buches, von der Idee über die Gestaltung bis hin zur Papierauswahl. Das ist gewiss auch der Grund, weswegen es auf der Shortlist der schönsten Bücher Deutschlands 2016 der Stiftung Buchkunst stand.

Franziska Walther: Werther reloaded
Kunstanstifter Verlag 2016 | 224 Seiten

Renate Bojanowski

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war

Nach allem, was wir wissen, trug Goethe keine Unterhosen.

Bevor ich näher auf das Buch von Bruno Preisendörfer eingehe, möchte ich gern ein anderes Werk vorstellen. Es trägt den Titel »So dull unde dörde weren de bure«. Ins moderne Deutsch übersetzt heißt das: »So töricht und von Sinnen werden die Bauern«. Es wurde von Joachim Schmid erarbeitet und beschreibt auf über 1.100 Seiten die Geschichte jener dörflichen Ortsgemeinschaft, in der ich groß geworden bin: vom Mesolithikum, als die Dörfer noch gar nicht existierten, sondern lediglich steinzeitliche Jäger das Gebiet durchkreuzten, bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard während einer Wahlkampfreise einmal zufällig in einem der beschriebenen Dörfer haltmachte, um sich in der hiesigen Gastwirtschaft eine neue Zigarre anzuzünden.

Für mich ist dieses Buch eine Art Bibel. Denn es bietet unzählige Schilderungen, zu denen ich schnell einen persönlichen Bezug herstellen kann. Die beschriebenen Orte sind mir aus meiner Kindheit aufs Intimste vertraut. Persönlich bekannt sind mir auch die Bauersfamilien, deren im Buch dokumentierte Geschichten bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückreichen. Anders als beispielsweise beim Besuch eines Museums oder Baudenkmals erschließt sich mir die Geschichte hier in ihrem ganzen Mikrokosmos.

Und eben genau dieses Kunststück gelingt Bruno Preisendörfer in seinem Buch »Als Deutschland noch nicht Deutschland war«. Auf Grundlage von historischen Briefen und Reisebeschreibungen sowie zeitgenössischen Handbüchern und Lexika leuchtet er den Alltag zu Zeiten Goethes aus. Durch alle Schichten und bis ins kleinste Detail.

Wie reisten die Menschen damals von A nach B, wieviel Zeit benötigten sie dafür und vor allem mit welchen – heute unvorstellbaren – Schwierigkeiten hatten sie dabei zu kämpfen? Wie gestaltete sich für Goethe und seine Zeitgenossen das Leben in der Stadt und auf dem Lande? Was gab es damals für wen zu essen und zu trinken? Welche Kleidung wurde getragen?

Auf diese und viele weitere Fragen gibt Preisendörfer ausführlich Antwort. Und man ahnt es schon beim Lesen der Inhaltsangabe: Am spektakulärsten gestalten sich die Kapitel über Sexualität und Medizin, wenn es beispielsweise um »Unzucht« oder »Selbstbefleckung« geht, um die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, um Quacksalber, vermeintlich medizinische Fortschritte oder den Umgang mit behinderten Menschen. Hier entpuppt sich die meist romantisch verklärte Zeit der Weimarer Klassik als tiefstes Mittelalter.

»Als Deutschland noch nicht Deutschland war« entzaubert mit seinem riesigen Fundus an Fakten und Alltagswissen – sowie einer gut dosierten Prise Humor – auf außergewöhnliche Weise die Bilder, die uns gewöhnlich standardisierte Nachschlagewerke oder historische Schlossführungen liefern. Zwar rutscht Preisendörfer mit seinen vielen Zitaten und Berichten nicht selten in den trockenen Ton des Historikers. Wer aber einmal anders, tief und authentisch in die Zeit der großen deutschen Dichter und Denker eintauchen will, wird das Buch mit großer Begeisterung lesen.

Um den eingangs erwähnten persönlichen Bezug des Lesers zu den historischen Umständen und Vorgängen herzustellen, nutzt Bruno Preisendörfer das Bild eines Zeitreisenden, der auf seinem Trip in die Vergangenheit nichts mitnehmen dürfte, was nicht in die bereiste Epoche passt. »Völlig entblösst stünde man da«, schreibt Preisendörfer. Wenn man das ganze Buch gelesen hat, kann man sich schwer vorstellen, dass man als Mensch des 21. Jahrhunderts auch nur einen Tag überleben würde in jener Zeit, als Deutschland noch nicht Deutschland war.

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war
Galiani Berlin 2015 | 528 Seiten

Holger Reichard